Ball und Buchstabe
Weitere Reaktionen auf Lahms Interview mit der SZ
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| Dienstag, 10. November 2009Alle direkt Beteiligten rudern zurück, es wird keine Rekordstrafe geben, Philipp Lahm zeigt sich einsichtig, doch die Presse diskutiert weiter interessante Aspekte des Interviews vom Samstag
Vorgestern gab es bereits ausführliche Reaktionen zu Philipp Lahms Interview, gestern folgten weitere Stimmen. Lahms Gespräch mit dem FC Bayern und die darauf folgende Erklärung ist noch nicht in allen Äußerungen berücksichtigt.
„Zu lang“
Von jenem Gespräch Philipp Lahms mit seinen Bossen berichtet Andreas Burkert in der SZ: „Gut zwei Stunden dauerte schließlich die Unterredung, was an sich schon als Beleg für eine seriöse Auseinandersetzung mit der sachlichen Fundamentalkritik des Nationalspielers gelten darf. Der FC Bayern verzichtete dann auch darauf, sich in seiner Pressemitteilung, die er umgehend durchs Land schickte, als Gewinner eines Machtkampfes zu inszenieren.“ Die Geldstrafe liege plötzlich auch nur noch bei 25.000 Euro, eine Rekordstrafe sei vom Tisch. Der Führung sei der allgemeine Zuspruch für Lahm nicht entgangen. Beckenbauer habe in Interviews an anderer Stelle tatsächlich kritisiert, dass das Interview „zu lang“ gewesen sei, stimmte aber zu, dass die Einkäufe nicht alle glücklich gewesen seien. Aus der Situation selbst sei Lahm schließlich „nicht allzu verschüchtert“ entfleucht.
Kein Gehör bei Hoeneß gefunden
In seinem FAZ-Blog listet Peter Körte drei potenzielle Motive für Lahms Interview auf: Dass er es schon mehrfach bei Hoeneß auf dem kurzen Dienstweg versucht habe, ohne den gewünschten Erfolg. Dass es in der Mannschaft bezüglich Hierarchie und Teamgeist nicht stimmt. Und dass es eigentlich unerheblich sei, ob er aus eigenen Motiven oder im Sinne der Mannschaft gehandelt habe. Entscheidend sei: „Man könnte das Ganze Lahms Dilemma nennen, der durch Schweigen nichts geändert hätte und der durch die Veröffentlichung seiner Einschätzung vermutlich auch nichts verändern wird. Dass er sich für die zweite Variante entschieden hat, spricht für ihn; dass sein von Hoeneß verunglimpfter Berater ihn bei der Wahl des Mediums vernünftig beraten hat für dessen Geschick.“
Zumindest Körbes erste Spekulation kann Fabian Jonas bei 11Freunde nicht entkräften: „Lahm hat nach Angaben der ‚Süddeutschen Zeitung‘ seine Bedenken bereits mehrfach intern geäußert, ohne jedoch Gehör zu finden. Uli Hoeneß hingegen ließ wissen, dass der Außenverteidiger seinen Mund erst mal in Teamsitzungen aufmachen solle, was nicht vorkomme.“
Toni wie ein Kind, Lahm wie ein Erwachsener
Christoph Biermann blickt zunächst auf die Kommunikationsriten im Fußballbusiness (Spiegel Online) und die Vision vom „mündigen Profi“: „Die Idee klingt gut, nur mit der Praxis hapert es seither. Oft entpuppen sich meinungsstarke Profis als beleidigte Leberwürste, die öffentlich nicht mehr einzuklagen haben, als dass sie zu früh aus- oder zu spät eingewechselt wurden.“ Biermann erinnert an die aufgeregten Reaktionen auf das vermeintlich heikle Interview von Michael Ballack zum Thema Nationalmannschaft. „Das alles hat damit zu tun, dass es im Fußball keine Diskussionskultur gibt, die diesen Namen verdient. Es wird zwar wahnsinnig viel schwadroniert, aber ein Austausch ernsthafter Argumente findet nur selten statt. Unbequeme Wahrheiten zu benennen löst sogar zumeist fast panikartige Reaktionen aus, wie man an diesem Wochenende in München erleben konnte.“ Bei der Bewertung des Interviews ist sich Biermann mit vielen Beobachtern einig: Lahm habe eben genau nicht seine Kollegen oder den Trainer kritisiert. Zudem habe er sich nicht im Ton vergriffen, Zynismus oder Herablassendes finde sich nicht im besagten Interview. „Auch dieser Umstand trägt zu dem Eindruck bei, dass es ihm um eine sachliche Auseinandersetzung gegangen ist und hier kein Egotrip ausgelebt wurde oder verletzte Eitelkeit eine Rolle gespielt hat, die den meisten – angeblich kritischen – Äußerungen von Fußballspielern zugrunde liegen.“ Was sich Luca Toni hingegen geleistet habe, entspräche der Reaktion eines kleinen Kindes. Was besonders deutlich wird, wenn man die Entscheidung eines Erwachsenen wie Philipp Lahm dazu, ein solches Interview zu geben, dagegen halte.
Für eine Klubphilosophie braucht es Jahrzehnte
Einen aus seiner Sicht fähigen Trainer nicht verlieren wolle Lahm, vermutet Christian Gödecke (Spiegel Online). Da Lahm die üblichen Mechanismen bis Weihnachten kommen sah, hätte er van Gaal schützen wollen. Für den Spieler falle der Vergleich zwischen Klinsmann, den er als „konzeptlos und beratungsresistent“ empfand, und van Gaal äußerst positiv für van Gaal aus. „Lahm glaubt mehr denn je an van Gaal.“ Lahm sei zudem der nachhaltige Aufbau eines Teams wichtiger als große Transfers. „Bei seiner Abrechnung handelte Lahm, und das versichern Menschen aus seinem näheren Umfeld unisono, vor allem aus Sorge um die eigene sportliche Perspektive und das Wohl des FC Bayern München.“
Dass Menschen aus seinem näheren Umfeld das Gegenteil behaupten, wäre allerdings auch nicht anzunehmen.
In Bezug auf die Konsequenzen des Interviews für den FC Bayern erinnert Mathias Klappenbach (Tagesspiegel) daran, dass man Identität nicht mit dem Scheckbuch erwerben könne: „Für die Entwicklung einer Klubphilosophie wie der von Lahms Vorbild FC Barcelona braucht es Jahre, Jahrzehnte. Kopieren oder einkaufen kann man eine Philosophie nicht, in München müsste aus dem ‚Mia sa mia‘ ein modern geprägtes Selbstbewusstsein mit Wissen um eigene Schwächen erwachsen. Dafür könnte Louis van Gaal der richtige Mann sein, der mit einer wiedererkennbaren Spielweise der Bundesliga-Mannschaft den Anfang macht. Wenn die Bayern die Kosten der Modernisierung tragen wollen.“
Auch Michael Horeni widmet sich in der FAZ den Motiven Lahms, der die Strafe (s. u.) wohl wissend in Kauf nahm: „Er hatte sich allem Anschein nach im Spannungsfeld zwischen Zivilcourage, freier Meinungsäußerung und arbeitsrechtlichen Bestimmungen ganz bewusst dafür entschieden, über die Grenzen, die ihm der Lizenzspielervertrag setzt, hinauszugehen.“ Da ein solcher Fall so selten sei, müssen man als Spieler, um eine Strafe zu vermeiden, auf andere Pfade ausweichen: „Freiräume für kritische Beiträge entstehen für Profis vor allem während der Abstellung zur Nationalmannschaft. Dort gelten zwar die gleichen internen Regelungen wie beim FC Bayern. Aber dort sind sie der Klubkontrolle entzogen, und es fällt viel leichter, (moderate) Kritik am eigenen Verein zu üben. Andererseits nutzen Nationalspieler wie zuletzt Ballack den Freiraum, den ihnen die Vereine geben, wenn sie eine Botschaft an die Nationalmannschaft und deren Führung senden wollen.“ Nicht zu vergessen sei auch die Wirkung, die Lahms Kritik an den Mitspielern für seine Reputation und für das Binnenklima in der Kabine haben könne. Michael Ballack, der in seinem Interview damals Simon Rolfes und Thomas Hitzlsperger kritisiert hatte, habe diese Äußerungen mit einem Vertrauensverlust bezahlt, der schlimmer wiege als alle Geldstrafen (auch hierzu siehe unten).
PR-Show fürs Volk
Unbekannt ist möglicherweise, dass die vollmundig ausgesprochenen Geldstrafen in den meisten Fällen gar nicht eingezogen werden. Wie Peter Stolterfoht in der Stuttgarter Zeitung berichtet, habe es Spielerberater Dirk Lips in 14 Jahren seines Wirkens erst ein einziges Mal erlebt, dass die ausgesprochene Geldstrafe tatsächlich vom Gehalt einbehalten wurde – und auch dieser Spieler habe sein Geld im nächsten Monat zurückerhalten. „Dass es sich dabei in der Regel nur um eine PR-Show handelt, wird auch dadurch deutlich, dass kein Fall bekanntgeworden ist, bei dem ein Spieler gegen eine Vereinsstrafe gerichtlich vorgegangen ist.“ Wie weit selbst die oben kolportierten 25.000 Euro oder die von Stolterfoht geschätzten 30.000 von der tatsächlich möglichen Strafe entfernt sind, ist ebenfalls zu erfahren: „Bei Bundesligaspielern ist die Strafe auf maximal drei Monatsgehälter festgesetzt. Schätzungsweise beträgt das Nettogehalt Lahms drei Millionen Euro. Die Strafe könnte sich also theoretisch auf 750.000 Euro belaufen.“ Juristisch gesehen habe sich Lahm dennoch auf dünnes Eis begeben, denn der von der Stuttgarter Zeitung befragte Sportanwalt Christoph Schickhardt ist der Auffassung, dass sich zumindest ein normaler Arbeitnehmer eines Kündigungsgrundes schuldig mache, wenn er öffentlich Entscheidungen seiner Unternehmensführung kritisiert.
Markus Hörwick, „Mediendirektor“ des FC Bayern München, war in der Sendung „Blickpunkt Sport“ des BR, zusammen mit Christian Falk von „Sport-Bild“ sowie dem Bayern-Experten des BR, Uli Köhler, eingeladen, um über den Fall Lahm zu diskutieren. Hier die Aufzeichnung von „Blickpunkt Sport“ im BR.