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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2010

Auf Facebook verbreitete Kriegserklärungen

Frank Baade | Montag, 16. November 2009 Kommentare deaktiviert für Auf Facebook verbreitete Kriegserklärungen

Die Hinspiele der europäischen Playoffs sind gespielt, Frankreich siegt glücklich, Portugal im Pfostenglück, Algerien und Ägypten – Erzfeinde im Entscheidungsspiel, Neuseeland qualifiziert sich zum 2. Mal

Intensives Willensspiel

Irland verliert unglücklich mit 0:1 und somit sein erstes Pflichtspiel unter Trapattoni. Die Franzosen enttäuschen, während die Iren mit guter Leistung aufwarten.

Thomas Hummel (SZ) erkennt eine gewisse Handschrift. Die Franzosen hätten den Ball vornehmlich quer gespielt – oder zurück. „Sie trafen spätestens am gegnerischen Strafraum auf eine Mischung aus irischer Kampfeslust und italienischer Defensivkunst. Die Iren verwickelten die Gäste in ein intensives Willensspiel und standen dazu strukturiert in der Verteidigung. Den französischen Spielkünstlern passte dieser zähe Widerstand überhaupt nicht und nahm ihnen die Freude am Spiel.“ Es musste dann ein glücklich abgefälschter Ball her, um Frankreich zum Sieg zu verhelfen. „Die Mitspieler sprinteten wie nach einer Erlösung auf [den Torschützen] Anelka zu. Da war die Angst vor dem großen Scheitern bei den hoch bezahlten Profis zu erahnen.“ Erst danach habe man die eigentliche Klasse Frankreichs erahnen können: „Die Ballkontrolle der Franzosen sah anschließend nicht wie ideenloses Ballgeschiebe, sondern wie souveräner Verwaltungsfußball aus.“

Ralf Sotscheck (taz) ist zufrieden mit dem Gebotenen: „Das Spiel war besser, als man erwarten konnte. Das lag vor allem an den Iren. Das Team mit einer Reihe von Spielern aus der zweiten englischen Liga hielt gegen Frankreich mit seinen Weltklassespielern gut mit. Dass Irland das Playoff-Hinspiel zur Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika 2010 am Ende mit 0:1 verlor, war Pech. Nach einer Stunde wurden die Iren müde, weil sie wie die Hasen herumgerannt waren, und griffen auf ihr übliches Kick-and-Rush mit langen Bällen nach vorne zurück. Fortan drängten die Franzosen, allerdings ohne wirklich große Ideen, aber eben mit sehr viel Glück. Die 74.000 Zuschauer im ausverkauften Dubliner Stadion Croke Park feierten ihre Mannschaft nach dem Schlusspfiff, denn der Klassenunterschied, den viele prophezeit hatten, war während der gesamten Partie nicht zu spüren gewesen. Trotz der Niederlage gehen die Iren verblüffend optimistisch ins Rückspiel am Mittwoch in Paris.“ Man habe von der gesamten Begegnung schließlich erst die erste Halbzeit gespielt. Und warum solle man im Rückspiel nicht dasselbe Glück haben, das die Franzosen in Dublin zum Sieger kürte?

Oft ist nur noch die Geste groß

Markus Lotter (Berliner Zeitung) bemerkt die Wandlung Nicolas Anelkas, dem lange Zeit Instabilität und Allüren nachgesagt wurden: „Seine Kritiker sagen, das einzige Produkt für das Anelka als Werbeträger in Frage komme, sei das Parfüm Egoiste.“ Mittlerweile sei er jedoch weiter in seiner Entwicklung: „Anelka ist ein Spätgereifter, einer der im toten Winkel des Weltfußballs, also bei den Bolton Wanderers landen musste, um zu verstehen: jetzt oder nie mehr. Dort, im rauen Norden Englands, wo man die Fans nur mit Einsatz und Leidenschaft gewinnen kann, arbeitete er erfolgreich gegen sein Phlegma an, erzielte für die Wanderers zwischen 2006 und 2008 fast in jedem zweiten Spiel ein Tor und wurde schließlich vom FC Chelsea als Belohnung für seine Katharsis wieder auf die große Bühne gehievt.“ Anders ein anderer bedeutender Spieler Frankreichs: „Bei Henry, 32, der mittlerweile für den FC Barcelona stürmt, ist hingegen immer öfter nur noch die Geste groß. Trotz dieser Altersschwäche versucht er, ein Nationalteam zu lenken, dem es an Persönlichkeiten mangelt, das gewöhnlicher ist, als es viele seiner Landsleute wahrhaben wollen.“ Ohne Ribéry habe Frankreich zur Zeit nur einen Star: Anelka.

Portugiesisches Trauma später Gegentreffer

Bosnien trifft zwei Mal Aluminium am Ende seines Spiels in Portugal, welches mit 1:0 gewinnt. Der Gesamt-Ausgang dieser Paarung bleibt offen.

Tilo Wagner (FAZ) berichtet von den Leiden eines Verantwortlichen: „Ein Trauma, das den 56 Jahre alten Trainer seit dem ersten Heimspiel in der WM-Qualifikation im September 2008 verfolgt: Portugal bestimmt das Spiel, verwertet seine Chancen nicht und muss ganz zum Schluss spielentscheidende Gegentreffer hinnehmen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, dass auch das letzte Heimspiel einer für Portugal überraschend komplizierten WM-Qualifikationsphase unter diesem Fluch stehen würde. In der 89. Minute hielten Queiroz und 60.000 Zuschauer buchstäblich den Atem an, als erst der Wolfsburger Dzeko an die Latte köpfte und dann Muslimovic aus kürzester Distanz nicht das offene Tor, sondern den Innenpfosten traf. ‚Gott soll Brasilianer sein?‘, schrieb ein portugiesischer Kommentator. ‚Nein! Er ist Portugiese!‘“ Zwar habe Portugal zunächst defensiv überzeugt: „Es zeigte jedoch wieder einmal, dass der Erfolg der Mannschaft ganz vom Ballbesitz abhängt. Als sich die Portugiesen nach dem Führungstreffer und unmittelbar vor dem Schlusspfiff zurückzogen und das Passspiel ungenauer wurde, hielten sie dem Offensivdrang der Bosnier kaum stand.“

Das Hamburger Abendblatt spricht mit Sergej Barbarez, der selbst mit Bosnien schon einmal kurz vor der Qualifikation für ein großes Turnier stand, damals aber an Dänemark scheiterte. Er sieht in der ethnischen Aufteilung Bosniens das größte Hindernis für weiteren sportlichen Erfolg. Ob diese Teilung noch wahrnehmbar sei? „Besonders in meiner Geburtsstadt Mostar. Die Stadt ist geteilt in Moslems und katholische Kroaten. Das ist das schlimmste, was es gibt. Ich erlebe beide Seiten, kenne überall Leute. Du spürst immer noch diese Atmosphäre. Mostar kann sich seit eineinhalb Jahren nicht auf einen Bürgermeister einigen. Politisch ist das alles eine einzige Katastrophe. Ein Beispiel: Es gibt drei Präsidenten beim Verband, die sich alle 16 Monate abwechseln. Und wenn dann die ganzen Trainer nach einem nationalen Schlüssel aufgestellt werden…, das ist doch krank. Ich sage Ihnen was: Wenn ich komme, werde ich entweder fünf Minuten oder fünf Jahre Bundestrainer sein. Dann wird der Riesen-Besen rausgeholt, nach dem Motto: Ich oder die. Anders geht es nicht.“

Ausbruch ägyptischen Nationalismus

Ägypten siegt mit 2:0 im letzten Gruppenspiel und erzwingt mit einem Treffer in der 5. Minute der Nachspielzeit gegen den besonderen Gegner Algerien ein Entscheidungsspiel. Karim El-Gawhary berichtet in der taz: „So groß das Glück über den eigenen Sieg, so groß war auch die Schadenfreude, dem Erzrivalen Algerien eins ausgewischt zu haben. Im Kairoer Armenviertel Dar Essalam wurde ein Esel mit den algerischen Nationalfarben bepinselt und von Kindern und Jugendlichen durch die Gassen getrieben. Der Ausbruch des ägyptischen Nationalismus überraschte in dem politisch lethargischen Land, das seit fast drei Jahrzehnten von Präsident Husni Mubarak autokratisch geführt wird. Die ägyptischen Sicherheitskräfte dürften froh sein, dass der Spuk vorbei ist: Nachdem der Mannschaftsbus des algerischen Teams bei der Ankunft in Kairo mit Steinen beworfen worden war und drei algerische Spieler verletzt worden waren, reagierten die Sicherheitsbehörden am Spieltag mit einem Großaufgebot von 13.000 Polizisten. Nicht nur das Stadion, auch die algerische Botschaft wurde von Bereitschaftspolizei geschützt. Vor allem im Internet, auf YouTube und Facebook, verbreiteten Fans gegenseitige Kriegserklärungen. Nicht zuletzt wegen des Erfolgs der Gastgeber und des Aufschubs der Entscheidung waren die erwarteten schweren Krawalle während und nach dem Spiel in Kairo ausgeblieben. Ein ägyptischer Polizist fasste es so zusammen: ‚Der Sicherheitsalbtraum ist vorbei.‘“

Daniel Theweleit und Julia Gerlach (Berliner Zeitung) hören Erleichterung über den Schauplatz des nun folgenden Entscheidungsspiels: „Für Freunde des friedlichen Sports ist der Umzug in den Sudan eine gute Lösung, denn in Afrika gibt es derzeit wohl kein brisanteres Duell als das zwischen diesen beiden Staaten, die Ursprünge für die Fehde liegen im Jahr 1989. Damals besiegten die Ägypter Algerien im entscheidenden Spiel um die Teilnahme an der WM 1990. Danach gab es wilde Tumulte, in deren Verlauf Algeriens Mittelfeldspieler Lakhdar Belloumi dem Teamarzt der Ägypter eine schwere Augenverletzung mit einer abgebrochenen Flasche zugefügt haben soll. Seither herrscht ein beispielloses Chaos, wenn die Rivalen aufeinander treffen. So wurde am vorigen Mittwoch der Bus der Algerier auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel von hysterischen Ägyptern mit Steinen beworfen. Nach der Bus-Attacke in Kairo wurde nahe der algerischen Hauptstadt Algier eine überwiegend von Ägyptern bewohnte Siedlung verwüstet. In Ägypten stand am Morgen nach dem Last-Minute-Einzug ins Entscheidungsspiel ausnahmsweise der Sport im Vordergrund – begleitet von ganz alltäglichem Patriotismus. Auf den Hauptverkehrsachsen im Großraum Kairo war kein Durchkommen, überall feierten, tanzten, hupten die Fans, schwenkten Fahnen und brannten Feuerwerke ab.“

Überforderung geübtesteter Konferenzschaltungen

Auch Nigeria qualifiziert sich erst nach einer Wendung der nötigen Umstände in den letzten Minuten der Partie. Boris Herrmann (Berliner Zeitung) berichtet: „In der 83. Minute war dann der Moment gekommen, der selbst die geübtesten Konferenzschaltungen überfordert hätte. Während Dario in Maputo das Siegtor für Mosambik schoss, schlug Martins im Getümmel des kenianischen Strafraums erneut für Nigeria zu. Mit seinem 3:2 verdrängte er die Tunesier nach insgesamt 444 Spielminuten doch noch von der Tabellenspitze in der Gruppe B. Nigeria steht nun nach 1994 und 1998 zum dritten Mal in einer WM-Endrunde. Darüber können wiederum die Kameruner nur lachen, die durch ein 2:0 in Marokko ihren afrikanischen WM-Sammelrekord ausbauten und 2010 zum sechsten Mal zur WM fahren. Die Westafrikaner waren bereits 1982, 1990, 1994, 1998 und 2002 dabei und standen in Italien als bisher einziges afrikanisches Team im Viertelfinale.“

Gute Fußballer sind auch große Persönlichkeiten

Die Berliner Zeitung bietet ein Interview mit Vicente del Bosque, dem Nationaltrainer Spaniens, der allerdings nicht von Robert Enkes Tod inspiriert sein dürfte, wenn er Verklärung betreibt:

Als Sie Trainer der Galacticos von Real Madrid waren, hatten Sie kaum Probleme, eine Mannschaft zu führen, die mit Stars wie Zidane, Figo und Ronaldo gespickt war?

Nein, tatsächlich gab es kaum Schwierigkeiten. Diese Spieler waren aber auch gutmütige, großherzige Menschen. Es ist fast immer so: Je besser ein Fußballer ist, desto größer ist auch seine Persönlichkeit.

Im Vorjahr hat Spanien die EM gewonnen. Was hatte sich [im Vergleich zu früheren Misserfolgen] geändert?

Das ist dem Fortschritt des ganzen Landes zu verdanken. Mittlerweile gibt es bei uns großartige Athleten in vielen Sportarten. Früher hatten wir eigentlich nur in Einzeldisziplinen Erfolg. Inzwischen haben wir auch in Mannschaftsportarten Titel gewonnen.

Manche sagen, die Erfolge hätten mit dem gesellschaftlichen Wandel nach dem Ende der Franco-Diktatur zu tun.

Wir sind inzwischen glücklicherweise ein entwickeltes Land. Früher mögen wir anderen Ländern gegenüber Komplexe gehabt haben, aber heute, wo wir voll in Europa integriert sind, ist das nicht mehr der Fall. Und das sieht man auch bei dieser Generation von Fußballern.“

Am Ende des Interviews nennt er, befragt zu den Deutschen bei Real Madrid noch Bodo Illgner einen „richtigen Gentleman“. Da sagt dessen Buch zwar etwas anderes, aber in dubio pro Illgner.

Die zweite Sternstunde des neuseeländischen Fußballs

In der FR portraitiert Sissy Stein-Abel den Schützen des Siegtores für Neuseeland und blickt auf 1982 zurück: „Fallon war ein halbes Jahr alt, als sein Vater die letzte Sternstunde des neuseeländischen Fußballs mit prägte. Kevin Fallon war Co-Trainer unter Teamchef John Adshead, als sich die All Whites bei der WM 1982 in ihren drei Gruppenspielen gegen Schottland (2:5), die UdSSR (0:3) und Brasilien (0:5) einigermaßen achtbar aus der Affäre zogen.“ Eine Bilanz von 2:13 Toren in nur 3 Partien als achtbar einzustufen, verdeutlicht, mit welchen Ansprüchen Neuseeland damals ins Turnier ging. „Der spätere Bundesliga-Star Wynton Rufer, Ozeaniens Fußballer des Jahrhunderts, war neunzehn und ein Frischling auf der internationalen Bühne. Der heutige Trainer Ricki Herbert war ein 21-jähriger Abwehrspieler mit Riesenschnauzer und Lockenschopf. Diese Helden von damals sind auch heute noch die bekanntesten Fußballer Neuseelands, weil die All Whites seither jede WM nur als Fernsehzuschauer verfolgen durften. Längst spielen in Neuseeland mehr Kinder und Jugendliche Fußball als Rugby. Jetzt haben sie eine Perspektive und einen Traum.“

Bei der U17-WM hat übrigens zum ersten Mal überhaupt die Schweiz den Titel gewonnen. Im Finale gewannen die Junioren-Nati mit 1:0 gegen Gastgeber Nigeria.

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