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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2010

Warum die Entfremdung begann

Frank Baade | Mittwoch, 18. November 2009 Kommentare deaktiviert für Warum die Entfremdung begann

Zum x-ten Male ist die Presse in Griechenland unzufrieden mit Rehhagels Mauerfußball, Bosnien erhofft sich vom Fußball eine politische Wirkung, zwischen Algerien und Ägypten kommt es zu enormen Ausschreitungen

Der große Motivator ist alt geworden

Otto Rehhagels Griechenland kommt zu Hause vor nur halbvollen Rängen zu einem kläglichen 0:0. Ferry Batzoglou (NZZ) befürchtet den endgültigen Abbruch des griechischen Europameister-Denkmals: „Vom Abwehrhünen Dellas erhielt Rehhagel pikanterweise einen Korb. Dellas liess ausrichten, er stehe ‚aus vielerlei Gründen‘ nicht zur Verfügung. Er kann dem Coach nicht verzeihen, dass ihn dieser Ende März ohne Begründung ausmusterte. Ein weiterer Beleg, wie stark Rehhagels Autorität im Team bröckelt. Gekas brachte nach der Auswechslung im Hinspiel unverhohlen seinen Verdruss zum Ausdruck (‚Das war ein Fehler‘) – bis dato ein undenkbarer Vorgang. Rehhagel, dessen Vertrag sich nur im Falle der WM-Teilnahme automatisch verlängert, scheint seinen nach dem EM-Triumph 2004 unerschöpflich scheinenden Kredit verspielt zu haben. Es wird offen in Zweifel gezogen, ob ‚der grosse Motivator‘ mit 71 Jahren noch das Feuer in seinen Spielern entfachen kann. Für Rehhagel könnte im kalten Donezk sein 100. Pflichtspiel auf der griechischen Bank sein letztes sein.“

Verbindendes ist rar, der Fußball soll es richten

Portugals Trainer ist gefangen im Trauma später, entscheidender Gegentreffer. Auch beim knappen 1:0 Sieg in Lissabon wäre es fast wieder passiert, woran der Trainer selbst nicht ganz unschuldig war, weiß Georg Bucher (NZZ): „Intensiv, bisweilen chaotisch verlief die Partie. Dass sie am Ende auch noch dramatische Züge erhielt, hatten die Portugiesen selber zu verantworten. Liedson, Deco und Meireles versäumten es, nach der Pause den Vorsprung auszubauen. Angst überkam den Trainer Carlos Queiroz, ja ein Hauch von Paranoia. Er nahm die ballsicheren Aufbauer Nani und Deco vom Feld und brach so die offensive Dynamik. Die Bindung zwischen den Mannschaftsteilen ging verloren, was dem alten Fuchs Miroslav Blazevic nicht verborgen blieb. Er brachte mit Muslimovic einen weiteren Angreifer – und die Bosnier entfachten einen Flächenbrand vor dem portugiesischen Tor. (…) Erleichtert, den Schrecken aber noch im Blick, trat Trainer Queiroz vor die Mikrofone. Nach den kräftigen Adrenalinschüben auf dem Spielfeld war dem eloquenten Ausbildner nicht mehr nach Tiefgang zumute. Statt die Gründe der Baisse gegen Spielende zu erhellen, hob er mit Blick auf das Rückspiel in Bosnien das Teamwork positiv hervor. Seine Mannschaft habe taktisch klug agiert, die Ruhe bewahrt und sich nicht vom enthusiastischen Publikum zu Leichtsinn verführen lassen. Dafür sorgten dann seine Auswechslungen.“

Norbert Mappes-Niediek (FR) weiß, wie schwer die bosnischen Fußballer mit einer Aufgabe beladen sind, die nichts mit Sport an sich zu tun hat: „Der Fußball soll es richten: Wenn morgen in Zenica elf Bosnier aus allen drei Nationen zum entscheidenden Rückspiel der WM-Relegation gegen Portugal aufs Feld laufen, sind die jungen Muslime, Serben und Kroaten mit Politik und Vaterlandsliebe schwerer befrachtet als je ein Team vor ihnen. Und die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Mannschaft den Sprung nach Südafrika schafft. Verbindendes ist in dem kleinen Nachkriegsland mit seinen vier Millionen Einwohnern rar. An den gemeinsamen Staat glauben fast nur die Muslime, die 44 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Serben (33 Prozent) und Kroaten (17 Prozent) orientieren sich traditionell an den jeweiligen Mutterländern. Die Generation der heutigen Spieler ist überdies über die Welt zerstreut; wer nicht für Deutschland oder Schweden antreten kann, hat über doppelte Staatsbürgerschaft oft die Chance auf einen Platz im kroatischen oder serbischen Team.“

Emilio Rappold war beim wenig herzlichen Empfang der Portugiesen in Bosnien dabei. In der FR erinnern seine Worte ein wenig an den weiter unten stehenden Konflikt zwischen Algerien und Ägypten: „Einen Vorgeschmack auf die angeheizte Stimmung im Lande bekamen die Portugiesen bei der Ankunft in Sarajevo. Dutzende Fans beschimpften, bespuckten und bedrohten auf dem Flughafen die Gäste um Chelsea-Star Deco und Werder-Stürmer Hugo Almeida. Portugal will bei der FIFA Protest einlegen, weil die bosnische Polizei am Montagabend tatenlos zugeschaut haben soll. Für die Bosnier geht es beim Kampf um die WM-Teilnahme nicht nur um Fußball, sondern auch um Wiederherstellung des nationalen Stolzes nach der schlimmen jüngeren Geschichte.“

Didier Drogba hat seine Wurzeln nicht vergessen

Thomas Kilchenstein (FR) portraitiert den Star der „Elefanten“ der Elfenbeinküste: „Drogba gehört zu den besten Stürmern, er hat eine prima Technik, ist wendig, immer anspielbar, er ist kopfballstark, athletisch, und er braucht für seine Tore wenige Chancen.“ Kilchenstein zeichnet Drogbas Karriere nach. Mit elf sei er nach Frankreich gegangen, zu seinem Onkel, der selbst als Halbprofi im Fußball aktiv war. Über Le Mans und Guingamp kam er zu Olympique Marseille, wo er Frankreichs Fußballer des Jahres wurde. Danach zahlte Roman Abramowitsch 37 Millionen für seinen Wechsel zu Chelsea. Nun verdient Drogba 120.000 pro Woche und lebt in einem noblen Londoner Vorort, Ferrari und Pool inklusive. „Seine Wurzeln hat er nie vergessen: Drogba unterstützt sein lange Zeit vom Bürgerkrieg gebeuteltes Heimatland seit vielen Jahren. Er hat eine eigene Stiftung, ist UN-Goodwill-Botschafter für Aids-Projekte, und erst kürzlich nutzte er seine Werbegage (drei Millionen Euro) für den Bau eines Krankenhauses.“

Moses März berichtet im Tagesspiegel, welche Rolle das ivorische Nationalteam bei den Menschen in der Heimat spielt: „Die Eléphants wurden zum Symbol der Hoffnung in einem Land, in dem die Menschen in den vergangenen Jahren einige Katastrophen verarbeiten mussten. 2002 begann mit einem gescheiterten Staatsstreich eine politische Krise in dem einstigen Vorzeigestaat, die noch heute als nicht beendet gilt. Die Nationalmannschaft wurde in diesem Umfeld nach ihrer ersten WM-Qualifikation 2005 zu einem Hoffnungsträger. Hoffnung auf ein Ende der Konflikte. Die landesweite Euphorie, die damals ein Sieg gegen den Sudan auslöste, brachte allein in Abidjan mehr als eine Million feiernde Menschen auf die Straßen. Die Vehemenz, mit der sich insbesondere Drogba öffentlich für eine Versöhnung der gespaltenen ivorischen Gesellschaft aussprach, trug dazu bei, dass bei den Friedensverhandlungen immer größere Fortschritte erzielt wurden.“ Zwar werde Drogba in der Elfenbeinküste gewürdigt wie ein Heiliger. Doch die Euphorie für sein Team ist nicht mehr unbegrenzt. „Die politische Stagnation, die ansonsten das Land beherrscht, hat auch dazu geführt, dass die Begeisterung um die ivorische Nationalmannschaft nicht mehr ganz so groß ist wie vor vier Jahren. Das regelmäßige Verschieben von Wahlen nagt an der Zuversicht der Menschen. Vier Jahre nach Sudan sind deswegen auch die Ansprüche an die ivorische Nationalmannschaft andere geworden. Drogba wolle das Bild ändern, das andere Leute von Afrika haben, indem seine Mannschaft zeigen werde, zu welchen Leistungen Afrika im Stande sei.“

Wie die Römer in Gallien

Martin Gehlen schreibt über unglaubliche Szenen in Ägypten und in dessen Folge auch in Algerien (Tagesspiegel): „Auf beiden Seiten liegen nach den hässlichen Vorfällen vom Wochenende die Nerven blank. Hooligans hatten den Mannschaftsbus Algerier mit Steinen beworfen. Fünf Spieler wurden verletzt, zwei am Kopf getroffen und mussten genäht werden. Nach der 0:2 Niederlage der Algerier lieferten sich dann Fans beider Seiten die ganze Nacht heftige Schlägereien. 32 Menschen wurden verletzt. Das hinderte algerische Blätter nicht daran, von Lynchmorden zu schreiben. Es habe vier Tote und über hundert Verletzte gegeben – was Kairo umgehend dementierte. Seitdem brennen in Algier Büros ägyptischer Unternehmen. Schlägertrupps machen Jagd auf ägyptische Familien und plündern ihre Wohnungen. 400 Männer, Frauen und Kinder haben sich bereits Hals über Kopf nach Kairo gerettet. Der Sudan weiß also, was auf dem Spiel steht. 15.000 Uniformierte sind am Mittwoch im Einsatz, zusätzlich tausende von Zivilstreifen, so dass statistisch auf zwei Fans ein Polizist kommt.“ Dass es im Sudan eine ausreichende Unterstützung für das algerische Team geben wird, dafür sorgte die algerische Regierung: „Eine kostenlose Stadionkarte ist den Fans sicher. Denn auf Anweisung von Präsident Bouteflika hat die algerische Botschaft das gesamte Kontingent des Landes von 9000 Tickets aufgekauft – bezahlt aus dem Staatssäckel.“

Volkhard Windfuhr erläutert bei Spiegel Online sehr ausführlich und sehr lesenswert die Wurzeln des Konflikts zwischen Ägyptern und Algeriern: „In der Ära des späteren Friedenspartners Israels, Anwar al-Sadat, der auf die Durchschlagskraft eines rudimentären Kapitalismus setzte, kühlte sich das Beziehungsgeflecht zwischen Kairo und dem jahrzehntelang sozialistisch geprägten Algier weiter ab. Als die nordafrikanische Mittelmacht quasi über Nacht zur Religion zurückfand und eine Zeitlang islamistischen Agitatoren Zuflucht gewährte, die in Ägypten nach einer kurzen Zeit politischer Flitterwochen wieder von der politischen Bildfläche verschwanden, mündete die beidseitige Entfremdung der Machteliten in beiden Ländern in eine Atmosphäre des Misstrauens, teilweise sogar auf kultureller Ebene. All das fraß vor allem am Selbstverständnis der jungen, ambitionierten nordafrikanischen Nation Algerien, sensibilisierte aber auch die ägyptische Volksseele. Der Bügler in Altkairo, der Fellache im Fajum und der Kaufmann in der Deltagroßstadt Tanta hatten kein Verständnis für die Psyche eines Volkes, das sich doch erst mit ihrer Hilfe vom ausländischen Joch befreit hatte, sich aber gerierte wie die Römer in Gallien und ihr ungewöhnliches Geburtsexperiment als Modell für die im Aufbruch befindlichen Völker der Welt verstand. Die Entfremdung begann.“

Westafrikas fußballerische Blüte

Daniel Theweleit hebt Westafrikas Fußball heraus, aus dem 80% der afrikanischen WM-Qualifikanten stammen (taz): „Mit Nigeria, Kamerun, der Elfenbeinküste und Ghana haben sich vier Nationen aus dieser Region für das Weltturnier 2010 qualifiziert, während der einst so mächtige Norden nur durch den Sieger des Entscheidungsspiels zwischen Ägypten und Algerien vertreten wird. Viele Jahre profitierte Nordafrika von seinem größeren Wohlstand, von professionelleren Sportsystemen, der Vorteil hat sich jetzt allerdings in einen Nachteil verwandelt. Viele Spieler aus Ägypten und den Maghreb-Nationen verweilen lange bei ihren Heimatklubs, wo sich ein bequemes Leben führen lässt, wohingegen die westafrikanischen Talente immer früher in den Ausbildungssystemen europäischer Großklubs landen.“ Durch ihre Aufenthalte in Europa hätten die jeweiligen Spieler Ordnung und angemessene Vorbereitung im Fußball zurück in ihre Heimatländer getragen. Das Chaos in diesen Punkten sei erfolgreich bekämpft worden. „Das hört sich gut an und mag stimmen, wenn es um Dinge wie Logistik, Organisation und Betreuung geht. Doch Machtkämpfe in den Verbänden und unberechenbare Personalentscheidungen gehören weiterhin zum afrikanischen Fußball wie die Trommelrhythmen auf den Tribünen.“ Fußballerisch sei in jedem Falle ausreichend Potenzial vorhanden, doch behindere man sich selbst oft mit Querelen abseits des Platzes. „Wenn alles ruhig bleibt und die Mannschaft die richtige Haltung findet, dann könnte die Elfenbeinküste im kommenden Sommer tatsächlich zur Weltklasse aufschließen. Auf Klubebene haben die ivorischen Spieler das nämlich längst geschafft.“ Im letzten Champions-League-Halbfinale hätten immerhin fünf Spieler aus der Elfenbeinküste gestanden, Theweleit listet noch eine handvoll weiterer Stars in großen europäischen Klubs auf. Zum Vergleich nennt er die Zahl der deutschen Spieler im letzten CL-Halbfinale: mit Michael Ballack genau einer.

Der streitbare Ernst „Power-Ernst“ Middendorp ist nach Südafrika zurückgekehrt, von 2005 bis 2007 trainierte er die Kaizer Chiefs, nun hat er bei Maritzburg United unterschrieben.

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