Internationaler Fußball
Die Überraschungsliga der Saison
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| Dienstag, 12. Januar 2010Atletico Madrids kleine Krise, Frankreichs intensive Verbindung zum Afrika-Cup, erneut Beschimpfungen gegen Balotelli, Nesta saniert sich und den AC Milan
In der NZZ schreibt Georg Bucher über die „Sphinx aus Madrid“, und damit kann nur Atlético gemeint sein. So richtig läuft es in dieser Saison nicht für die Madrilenen, nach einer Hinspielniederlage gegen einen Zweitligisten droht das Pokal-Aus: „Nach dem Cup-Desaster waren sie mit Knaben verglichen worden, die auf dem Schulhof Fussball spielen. Trainer Quique verschaffte seiner Enttäuschung Luft und hetzte die Versager im Schneegestöber durch den Wald. Veränderungen kündigten sich an, mehrere Stammspieler trugen im Training Reserve-Leibchen, mussten am Samstag jedoch nicht die Bank drücken. Quique hatte die Journalisten hinters Licht geführt und im Team einen Motivationsschub ausgelöst. (…) Nicht verstehen kann den Abschwung der Präsident Enrique Cerezo. Alle Teamstützen wurden gehalten, einzelne Positionen verstärkt. Bloss will das Ganze nicht funktionieren. Ausnahmen wie der Champions-League-Match gegen Chelsea (2:2) bestätigen die Regel. Obwohl das Team noch nicht auf Kurs ist, geniesst der Trainer weiterhin Vertrauen. Die Aficionados denken an seine erfolgreiche Zeit in Getafe und Valencia zurück, vergessen aber, dass die Arbeitsbedingungen an den Ufern des Manzanares ungleich schwieriger sind. Auch für einen gebürtigen Madrilenen.“
Keine Konsequenz, keine Akzeptanz
In Italien wird der dunkelhäutige Mario Balotelli immer mehr zum Politikum, in nahezu allen Auswärtspartien wird er rassistisch beleidigt. Und trotz seiner Treffsicherheit weiterhin nicht fürs Nationalteam berufen. Zuletzt ereigneten sich Vorfälle beim Spiel seiner Inter in Verona. Tom Mustroph berichtet in der FAZ: „Auch im ansonsten für sein eher faires Publikum bekannten Verona erging es ihm am Mittwoch nicht anders – Balotelli wurde beständig ausgebuht und revanchierte sich mit einigen Gesten. Dafür wurde er nun von einem Sportrichter zu einer Geldstrafe von 7500 Euro verurteilt. Auch sein Verein muss zahlen – 15.000 Euro, weil Inter-Fans den ebenfalls dunkelhäutigen gegnerischen Spieler Luciano rassistisch beschimpft hatten.“ Chievo Verona hingegen kommt straffrei davon. Am schlimmsten trieben es aber die Fans von Juventus Turin, die sich ständig gegen Balotelli äußerten, auch wenn dieser gar nicht im betreffenden Stadion sei. „Der Verein aber ringt sich trotz dieses Imageverlustes wenn überhaupt, dann nur zu halbherzigen Ermahnungen durch. Den wenig geliebten Rückkehrer Fabio Cannavaro bedenken sie wegen dessen neapolitanischer Herkunft ebenfalls mit Schmähreden. Präsident Jean Claude Blanc werfen sie neben mangelnden Fußballsachverstand immer wieder auch dessen französische Nationalität vor. Die Neigung, wenig geschätzte Personen vor allem aufgrund ihrer Herkunft zu diffamieren, deutet auf eine wenig ausgereifte soziale Grundstruktur hin.“
In der Financial Times Deutschland bestätigt Julius Müller-Meiningen diese italienische Besonderheit: „Der Fall zeigt, wie weit Fußballitalien davon entfernt ist, seine Identität als Einwanderungsland zu akzeptieren. Anders etwa als Deutschland, wo das Potenzial der Özils, Khediras oder Boatengs Thema ist und weniger ihre Herkunft. In Italien eckt Balotelli mit vermeintlicher Fremdheit, wenig Disziplin und großem Können an. Ansonsten verhält er sich wie ein Halbstarker, der in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist.“
Als schwarzes Schaf der europäischen Fußballfamilie macht Michael Horeni (FAZ) vor allem den italienischen Verband aus: „Chievo Verona entging einer Strafe. Das ist weder mit den Vorgaben noch dem Geist der Europäischen Fußball-Union im Kampf gegen den Rassismus vereinbar. Die Sanktionsmöglichkeiten reichen von Geldstrafen über Punktabzug bis zu Spielen unter Ausschluss der Öffentlichkeit – das hat es nach anderen Beleidigungen gegen Balotelli schon gegeben. Doch von der Konsequenz, mit der etwa der englische Verband und weithin auch der Deutsche Fußball-Bund ihre Spieler vor rassistischen Angriffen schützen, ist der Calcio noch immer weit entfernt.“
In ein neues Prunkstück umgeschmiedet
Von einer kriselnden Juve und einem wiedererstarkten Rückkehrer berichtet Tom Mustroph (NZZ) aus dem selben Land: „Juventus Turin ist am Boden – spielerisch, physisch, psychologisch. Selten gelingen Ballstafetten über mehr als drei oder vier Stationen. Die Bianconeri kämpfen – gewiss. Aber sie kämpfen denkbar ungeschickt. Am Panzer der selbstsicheren Reife der Milan-Spieler, die wegen des eben erst durchschrittenen eigenen Leidenswegs noch nicht ins vergiftete Übermass der Arroganz umschlägt, zerschellt jede Turiner Gegenwehr. Quelle der neuen Reife ist ein Mann, der längst Fussballrentner sein müsste, wenn Prognosen stets einträfen. Über ein Jahr lang pausierte Alessandro Nesta. Der grosse Chor der Zweifler sah ihn schon auf ewig als Pensionärsbenjamin im Altenparadies lustwandeln. Es mochten alle spotten. Nesta glaubte an die Rückkehr in die Stadien. Im Sommer war er wieder da. Er schmiedete die alte Schwachstelle Innenverteidigung in ein neues Prunkstück um. Nesta ist elegant und geschmeidig. Er hat ein Auge für das Spiel.“
Krisenprofiteur Ligue 1
In seiner Serie „Eurogoals“ glaubt Christian Eichler (FAZ), dass sich ein Nachbarland Deutschlands endlich von seiner Baisse erholt hat: „Frankreich ist überhaupt die Überraschungsliga der Saison. Die Liga produzierte noch vor zwei, drei Jahren so viel Langeweile durch den Dauermeister Lyon und so wenig Offensivgeist, dass es sogar Vorschläge gab, Mannschaften, die in einem Spiel drei Tore oder mehr erzielten, Zusatzpunkte zu geben. Das scheint nun nicht mehr nötig, denn der Aderlass, der regelmäßig die besten Offensivtalente schon in jungen Jahren ins Ausland ziehen ließ, dünnt aus. Die Ligue 1 profitiert von der Krise. Zudem schrumpfen die steuerlichen Nachteile der französischen Klubs. Der Steuer-Nachlass für ausländische Großverdiener in Spanien (‚Lex Beckham‘) steht vor dem Ende, und in England wird der Spitzensteuersatz von vierzig auf fünfzig Prozent erhöht. Die Fluktuation der Kader wird geringer. Davon profitieren Klubs wie Bordeaux oder Lyon, die in der Gruppenphase der Champions League Furore gemacht haben, als sie die Favoriten Liverpool und Juventus Turin aus dem Wettbewerb warfen.“
Stimmungsumschwung nach Anschlag
Traditionell hat Frankreich intensive Verbindungen nach Afrika. Rod Ackermann berichtet in der NZZ allerdings von Änderungen im Verhältnis nach den jüngsten Anschlägen: „Es gehört nicht zur politischen Korrektheit des französischen Fussballs, den alle zwei Jahre infolge der ‚Coupe d‘Afrique des Nations‘ erlittenen Aderlass beim Spielerpersonal zu beklagen. Zu tief sitzt dafür das schlechte Gewissen der einstigen Kolonialherren. Wäre die mehrwöchige Abwesenheit Dutzender von Profis – die Ligue 1 musste deren 40 nach Angola ziehen lassen, doppelt so viele wie die deutsche Bundesliga – aber mit leisem Murren hingenommen worden, so hat der blutige Überfall auf das Nationalteam von Togo einen Stimmungsumschwung bewirkt. Plötzlich denkt in Frankreich manch ein Trainer oder Klubfunktionär dasselbe wie die Kollegen in Grossbritannien, die diesbezüglich kein Blatt vor den Mund nehmen. (…) Hier rächt sich, dass der französische Fussball aus Tradition nur allzu gerne Talente aus einstigen Kolonialgebieten – neben dem Maghreb insbesondere West- und Zentralafrika – herbeigeholt hat. Dass in der Brust jener Spieler ein ausgeprägter Nationalstolz schlägt und eine Teilnahme am Afrika-Cup für sie Ehrensache ist, steht allerdings allzu oft nicht auf der Rechnung der Klubverantwortlichen.“
Fifa kreiert eine Lex Togo
In der SZ bewertet Thomas Kistner das (Nicht-)Vorgehen der FIFA, obwohl doch für alle ersichtlich die togolesische Regierung mit der Abberufung des Teams in die Belange seiner Fußballnationalmannschaft eingegriffen hat: „Massiver geht’s nicht: Wann hat je ein Land seine Athleten von einem Turnier abgezogen? Nun gilt politische Einmischung als zentrale Sünde im Weltsport, weshalb der sich ein scharfes Schwert zugelegt hat. Just die Fifa mit ihren vielen korrupten Nationalverbänden hat chronische Erfahrung mit Regierungen, die in Sportverbänden aufräumen und Präsidenten, Kassiers und Generalsekretäre absetzen wollen. Sie pocht dann auf Artikel 14 der Fifa-Satzung: Bei Einflussnahme der Politik ist die Suspendierung des jeweiligen Landesverbandes mit allen Teams vorgesehen.“ Üblicherweise demonstriere die Fifa in solchen Fällen Härte, so zuletzt gegen Kenia, Peru und auch EM-Ausrichter Polen. Im Falle Togo einzugreifen würde allerdings Respektlosigkeit gegenüber der Trauer Togos bedeuten. „Das kann die Fifa nicht wollen; auch hat Afrika, Schauplatz der WM, genug Probleme. Regierungen aber, die künftig wieder bei der Korruptionssäuberung gebremst werden, sollten dann wissen, dass es eine Lex Togo gibt.“ Wichtiger sei ohnehin: „Beantworten müssen Fifa und CAF jetzt die eigentliche Frage: Wäre die Tragödie in Cabinda vermeidbar gewesen, wenn sie ihre Regel, den Sport frei von Politik zu halten, befolgt hätten? Dass Cabinda eine Unruhe-Provinz ist, war stets bekannt, trotzdem musste dort gespielt werden, aus erkennbarem innenpolitischen Interesse. Darin liegt der Missbrauch dieses Turniers.“