Ball und Buchstabe
Zielscheibe Domenech
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| Montag, 21. Juni 2010Das Chaos rund um die Équipe Tricolore wirft ein schlechtes Bild auf den französischen Fußball. Die Presse versucht aufzuschlüsseln, wer nun eigentlich der Schuldige ist
Im französischen Lager geht es drunter und rüber. „Schändlich“ findet Ingo Durstewitz (FR), dass die Équipe Tricolore überhaupt bei dieser WM mitspielen darf: „Die Schadenfreude ist groß. Im kleinen Irland und in der großen Welt. Für viele, nicht nur für verklärte Fußballromantiker, ist es noch immer unerträglich, dass die Grande Nation überhaupt mitspielen darf bei der Weltmeisterschaft.“ Durstewitz sieht nicht nur in Quertreiber Anelka das Problem: „Nicolas Anelkas Entgleisung ist eine fast schon unglaubliche Respektlosigkeit, sie ist Zeugnis des desaströsen Zustands von Les Bleus. Anelkas Ausraster ist, so grotesk es sich anhören mag, jedoch nur das Tüpfelchen auf dem i. Selten war eine Mannschaft so wenig eine Mannschaft wie diese französische, es gibt Grüppchen, jeder schießt gegen jeden.“ Das Hauptproblem der Mannschaft ist schnell ausgemacht: „Diese französische Auswahl eint nur eines: Die abgrundtiefe Abneigung gegen ihren Trainer. Wohl noch nie in der Geschichte gab es einen Trainer, der so ungeliebt war wie Raymond Domenech. Intern wie extern. Domenech wurde an- und ausgezählt von den Größten des französischen Fußballs: Michel Platini, Zinedine Zidane – und Thierry Henry.“
Anelka rüde von Domenech abgewiesen
Kai Pahl (allesaussersport.de) beleuchtet Anelkas Rolle von einer anderen Seite: „Auf Wunsch der Mannschaft hat der Spieler versucht, einen Dialog zu starten, aber sein Gesprächsversuch wurde willentlich ignoriert. Der Verband hat seinerseits in keinem Moment etwas unternommen, um die Spieler zu schützen. Sie hat eine Entscheidung getroffen, ohne sich mit der Mannschaft zu beraten, ausschließlich auf Basis von Fakten die in der Presse kolportiert wurden.“ Pahl weist zur Rolle Domenechs: „Ich möchte auf eine Passage hinweisen, die versucht, die Bemerkung von Anelka in einen Kontext zu setzen. Demnach war Anelka quasi Emissär der Mannschaft um in der Halbzeit das Gespräch mit Domenech zu suchen, wurde aber, nach Ansicht des Teams, rüde von Domenech abgewiesen.“
Thomas Kilchenstein (FR) spricht weitere Probleme an: „Der Skandal Anelka ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Das französische Team ist ein Torso. Franck Ribéry und Anelka haben sich etwa vehement für den Einsatz von Thierry Henry starkgemacht und den stillen Yoann Gourcuff offen gemobbt. William Gallas zeigte französischen Reportern den Mittelfinger, ansonsten schweigt er, weil er sauer ist, dass er nicht Kapitän wurde. So spricht alles für ein schmachvolles Ausscheiden der Grande Nation nach dem Spiel gegen Südafrika.“
Auflösung des Nationalgefühls
Stefan Ulrich (SZ) spannt einen großen Bogen und sieht im Chaos der Équipe Tricolore mehr als nur eine sportliche Katastrophe: „Die Sache wird zur Staatsaffäre. Ein Grund der Erregung: Vielen Franzosen schwant, dass hier mehr als nur der Niedergang einer einst ruhmreichen Nationalelf zu besichtigen ist. Womöglich ist sie ja ein Sinnbild des Landes. ‚Eine Mannschaft spiegelt eine Epoche wider‘, findet der frühere Chef der Sozialisten Franciosa Hollands. Diese Equipe Trikolore verkörpere den Egoismus und Individualismus, die Geldgier und die ‚Auflösung der Brüderlichkeit, ja des Nationalgefühls‘.“