indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Am Grünen Tisch

Blatter, der Rattenfänger von Hameln

Tobias Reitz | Montag, 28. Juni 2010 4 Kommentare

Wer hinter die Kulissen der ersten Fußball-WM in Südafrika blickt, stellt fest: Die Fifa hat ihre Macht, in Afrika etwas verändern zu können, überschätzt

Im Hinterland von Pretoria hat Thomas Scheen (FAZ) Afrikaans sprechende Buren getroffen. Die Nachfahren hugenottischer französischer Siedler hatten Südafrika zusammen mit den Auswanderern aus den Niederlanden einst urbar gemacht, sich blutige Kriege mit den britischen Kolonialherren geliefert und die Apartheid eingeführt. Bis heute pflegen sie ein gespanntes Verhältnis zur schwarzen Regierung des Landes. Am Rande der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika stellt Scheen fest, dass das Großereignis die Rassenkonflikte nur für kurze Zeit überdecken kann: „Dieses Wir-Gefühl, das mit der Weltmeisterschaft einhergeht, wird verblassen, sobald das Turnier zu Ende ist“, zitiert Scheen Alana Bailey, die stellvertretende Leiterin von „AfriForum“, einer Nichtregierungsorganisation, die sich dem Schutz der afrikaanssprachigen Gemeinschaft verschrieben hat. Nach dem Ende der Apartheid habe sich bei vielen das Gefühl verfestigt, es gehe nur um Rache. „Seit 1997 sind ausweislich der Polizeistatistiken 2100 weiße Farmer beziehungsweise Angehörige ihrer Familien ermordet worden. Die Aufklärungsquote liegt bei zehn Prozent.“ Die Buren leben in Angst und an Demagogen auf beiden Seiten fehle es nicht. Dass der große Versöhner Fußball indes das Land zusammenbringen könne, glauben viele Buren trotz ihrer Freude an der Weltmeisterschaft keine Sekunde: „Nach dem Abpfiff wird hier alles sein wie immer.“

Blatter – alles andere als ein Entwicklungshelfer

Auch David Signer (Neue Zürcher Zeitung) ist sich sicher, dass die Fußball-WM das Bild Afrikas nicht grundlegend verändern wird: „Die Fifa hält Fussball für ein Allerweltsheilmittel. Die WM in Südafrika würde den Schwarzen Kontinent endlich aus den Negativschlagzeilen katapultieren, lautete das Credo. Sie würde, wie ein magischer Magnet, nicht nur Millionen von Fans und Heerscharen von Investitionen anziehen, sondern auch die Sympathien des ganzen Universums.“ Die Wahrheit sehe prosaischer aus: „In ein paar Jahren, wenn die überdimensionierten Stadien ungenutzt vor sich hin motten, werden einem beim Stichwort ‚WM in Südafrika’ wahrscheinlich vor allem noch die Vuvuzelas durch den Kopf gehen.“ Die Fussballbegeisterung der Jungen von Dakar bis Dar es Salaam werde derweil ungebrochen bleiben. „Ist das wirklich so positiv?“ fragt Signer. „Millionen von barfüssigen Kindern in den Armenvierteln träumen davon, ein zweiter Eto‘o oder Drogba zu werden. Wozu noch in die Schule? Besser auf einen weissen Scout warten, der einen ins Paradies nach Europa holt. In diesem Sinne ist Sepp Blatter kein Entwicklungshelfer, eher eine Art Rattenfänger von Hameln.“

„Die Verlierer der Vorrunde sind Europa und Afrika. Die Gewinner heißen Südamerika und Asien.“ Jens Weinreich (SZ) widmet sich dem Streit um die WM-Endrundenplätze: „Das Argument, Europas 13 Startplätze (es waren einmal 15) seien unantastbar, weil im Uefa-Bereich das meiste Geld verdient werde, zieht längst nicht mehr. (…) Nur einer von sechs Fifa-Sponsoren kommt aus Europa (Adidas), und der Anteil des außereuropäischen TV-Erlöse der Fifa wächst ständig.“ Die Diskussion über die Kontinental-Quoten vermische sich mit den laufenden WM-Bewerbungen für 2018 und 2022 sowie mit der Präsidentenkür im kommenden Frühjahr zu einer sonderbaren sportpolitischen Melange. „Nun stehen der Fifa heiße Zeiten bevor.“

Kommentare

4 Kommentare zu “Blatter, der Rattenfänger von Hameln”

  1. Hameln - Blog - 28 Jun 2010
    Montag, 28. Juni 2010 um 21:30

    […] Blatter, der Rattenfänger von Hameln | indirekter freistoss […]

  2. lateral
    Dienstag, 29. Juni 2010 um 09:25

    Es wäre jedenfalls bitterlich traurig, wenn noch mehr Gurkenmannschaften Europäer ersetzten… Gut, dieses Mal waren nur sechs Europäer im Achtelfinale, aber das ist m.E. nur eine Momentaufnahme.

    Bitter ist, dass in Südamerika bei der kommenden WM (mit dann wohl sechs Startern vom Subkontinnent) gar nicht mehr von einer Quali die Rede sein kann, weil fast jeder Verband seine Auswahl entsenden darf, während Mannschaften wie z.B. Russland oder die Türkei wegen des Kontinentalproporzes diesmal nicht dabei sein können… Deshalb ist ein Vorrunde während der WM auch nur halb so spannend wie während der EM…

  3. gecko1893
    Dienstag, 29. Juni 2010 um 16:31

    @lateral bzgl spannender em-vorrunde: keine sorge. die uefa hat darauf schon reagiert. durch die erhöhung der em-teilnehmerzahl von 16 auf 24 wird die qualifikation teilweise auch schon sehr sinnbefreit und die vorrundenspiele werden sicherlich auch spannungsärmer werden.

  4. Peter
    Mittwoch, 30. Juni 2010 um 09:22

    Also bitte,
    es gab in Europa eine Vorausscheidung. Die Mannschaften, die sich dabei für die WM qualifiziert haben, sind an den nichteuropäischen Mannschaften gescheitert.
    Was das Gejammer über die Qualität der nicht europäischen Mannschaften soll, entzieht sich meinem Verständnis.

    Ich sehe lieber Südkorea als die Schweiz. Zwischen dem Defensivgeschwurbel der Slowenen und dem der Japaner kann ich auch keinen Unterschied machen. Wobei das die Japaner nicht schlecht gemacht haben.

    Was die Grottenmannschaften aus Italien, Frankreich, Schweiz, Slowenien und sonstwie Mannschaften wie Ghana, Südkorea, Chile oder Uruguay voraus haben sollen, das möge man mir bitte erklären.

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