WM 2010
Ein Kontinent leidet
| Samstag, 3. Juli 2010Eine Weltmeisterschaft schreibt Dramen: Die Presse leidet beim geplatzten Traum vom Halbfinale der Ghanaer mit, im zweiten Halbfinale ist Felipe Melo im wahrsten Wortsinn der Mann des Spiels
Christian Zaschke (SZ) verabschiedet Ghana mit tröstenden Worten aus dem Turnier. „So knapp war Ghana dran, die Hoffnung des Kontinents zu erfüllen, nun ist die Mannschaft auf zynischste Weise gescheitert.“ Nach dem verschossenen Elfmeter sprach die Körpersprache des Teams Bände, einzig Pechvogel Gyan schüttelte sich kurz und verwandelte seinen Elfmeter. „Hätte er das vorher getan – nicht auszudenken, was in Johannesburgs Soccer City losgebrochen wäre, in Südafrika, auf dem Kontinent.“ So scheiterte Ghana an der Opferbereitschaft von Stürmer Luis Suarez und den eigenen Nerven.
Einen anderen Höhepunkt verdient
Auch Boris Herrmann (FR) trauert Ghanas verpasster Chance hinterher: „Es war eine Nacht, die einen anderen Höhepunkt verdient gehabt hätte, als die Handparade eines Feldspielers. Alles bis hin zur modischen Ghanakrawatte von Trainer Milovan Rajevac war an diesem Abend in Rot-Gelb-Grün gehalten. Mit dem ganzen Stadion, dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar mit der ganzen Welt im Rücken, so dachte man, müssten die letzen Afrikaner dieses Turniers wie ein Rudel hungriger Löwen auflaufen.“
Peter Birrer (NZZ) versteht die Schmerzen der „Black Stars“. Immerhin schied die Schweiz im Achtelfinale der WM 2006 ebenfalls im Elfmeterschießen aus – ohne einen verwandelten Strafstoß. „So nahe dran war Ghana in der 122. Minute, so schnell zerbrach der Traum. Der Fehlschuss Afiyiahs (nur 2 Meter Anlauf) war der eine zu viel.“ Das Aus für die letzte afrikanische Mannschaft im Turnier. Dabei war vorher eine ungewohnte Einigkeit auf dem Kontinent zu spüren: „Plötzlich rücken alle zusammen, überwinden Tausende von Kilometern und vereinen sich über zig Grenzen hinweg. So wird das zumindest zelebriert, wenn Ghana als letzte im Turnier verbliebene Auswahl Afrikas für allerlei Sehnsüchte und Projektionen herhalten muss. Als der Afrika-Cup Anfang Jahr in Angola von einem Attentat überschattet wurde, wiesen die Turnierorganisatoren in Südafrika eiligst darauf hin, dass mehr als 3000 Kilometer zwischen Angola und ihrem Land liegen und das eine nichts mit dem anderen zu tun habe.“
Holland seit 24 Spielen unbesiegt
Christian Eichler (FAZ.net) singt beim brasilianischen Blues nach dem zweiten Viertelfinal-Aus bei einer WM in Folge mit. Für ihn ist Felipe Melo der Mann des Spiels. Mit einem schönen Pass habe er das Tor von Robinho vorbereitet, zusammen mit Torwart Julio Cesar den Ausgleich verschuldet und das letzte Aufbäumen der Selecao durch Nachtreten gegen Robben und die folgende Rote Karte verhindert. Immerhin haben die Brasilianer den übrigen Gegnern der seit 24 Spielen in Folge unbesiegten Holländer ein Rezept gegen Arjen Robben aufgezeigt: „Sie kannten seinen immer gleichen Haken nach innen auf seinen linken Fuß schon und ließen ihn vor eine blaue Wand laufen.“
Constantin Wissmann (taz) fällt nach dem Spiel Holland gegen Brasilien ein deutliches Urteil. Die Brasilianer haben eine völlig kontrollierte Partie aus der Hand gegeben. „Johan Cruyff, Hollands Legende und Lehrmeister des schönen Spiels, hatte vorher gesagt, er würde kein Geld ausgeben, um dieses Spiel zu sehen. Zu organisiert und zu wenig fantasievoll würden diese Mannschaften spielen. Doch wird wohl kein Zuschauer sein Geld zurückverlangen wollen. Das kämpferisch starke Spiel und die menschliche Tragödie, die sich hier abspielte, entschädigte für vieles.“
Sven Goldmann (Tagesspiegel) begrüßt einen neuen Turnierfavoriten und verabschiedet einen alten. Die Holländer verfolgen weiter „die Hoffnungen ihrer Landsleute, der Traum vom Gewinn der Weltmeisterschaft möge sich doch endlich einmal erfüllen.“ Doch als nach dem unverhofften Ausgleich Sneijder die Holländer auch noch per Kopf in Führung brachte, verloren die Brasilianer die Nerven: „Als dann Felipe Melo für ein übles Nachtreten gegen Robben Rot sah, war das Spiel gelaufen. Brasilien drückte, Brasilien stürmte, aber Brasilien schoss kein Tor mehr. Fünf Minuten vor Schluss vergab Kaká die letzte Chance.“
Kommentare
1 Kommentar zu “Ein Kontinent leidet”
Sonntag, 4. Juli 2010 um 14:13
Bleibt mir nur übrig, die Leistung von Kevin Prince Boateng zu würdigen. Blitzschnelle, -saubere und -gescheite Pässe, starke Defensivarbeit, ordentliche Tacklings, kluges Räume zu machen und dabei immer das überlegene Ballgefühl eines Kleinstfeld-Straßenkickers. Bis auf das letzte Spiel war es grandios ihm zuzuschauen. Schade, ein Verlust für Deutschland, auch wenn er auf einer Position spielt, die im Moment im deutschen Team stärker besetzt ist.
Und auch wenn ich mich immer noch über sein Foul an Ballack im letzten Spiel vor der WM aufregen kann, er ist ein toller Spieler und ich wünsche ihm, dass er in England oder sonstwo einen guten Verein findet und entgegen meiner Prognosen mit seinem großartigen fußballerischen Talent sorgsam umzugehen weiß und es ihm gelingt, sein Leben auf ein gutes Fundament zu stellen.