Deutsche Elf
54, 74, 90, …
| Sonntag, 4. Juli 2010Was für ein Spiel; die Presse ist nach dem wunderbaren Sieg gegen Argentinien wie berauscht, die Rufe nach dem vierten Titel werden immer lauter
Michael Horeni (FAS) träumt nach dem 4:0-Triumph gegen Argentinien von noch größeren Siegen: „Wer vor drei Wochen behauptet hätte, Deutschland erreicht das Halbfinale und nimmt dabei erst die Engländer 4:1 im Achtelfinale auseinander und dann im Viertelfinale die Argentinier 4:0 – und der überragende Innenverteidiger Arne Friedrich erzielt dabei den dritten und den Argentiniern den letzten Nerv raubenden Treffer, der wäre in Deutschland als blutiger Fußball-Laie verlacht worden. Oder er hätte im Wettbüro ein Vermögen verdient. (…) Die begeisternden Auftritte in Südafrika sind von einer solchen Klasse, Wucht und Willen geprägt, dass sich diese Auswahl schon jetzt als einer der ganz großen deutschen Fußball-Gewinner der letzten Jahrzehnte fühlen darf – selbst wenn sich im Halbfinale die deutsche Traumreise ohne den gesperrten und traurigen Müller nicht mit dem Finaleinzug fortsetzen sollte. Man muss schon lange zurückdenken, wann eine deutsche Mannschaft zuletzt Spielkontrolle über eine Weltklassemannschaft erreichte und gleich zwei Spitzenteams nacheinander vom Platz fegte. Vielleicht gab es das noch nie. In den vergangenen Jahren musste sich das deutsche Team bei solchen Gelegenheiten auf Kampfkraft, Willensstärke und Spielglück verlassen. Diesmal reichte die fußballerische Qualität und die Extraklasse des Bundestrainers für einen fast unglaublichen Triumph. “
Demütigung für Maradona
Dominik Prantl (sueddeutsche.de) leidet ein wenig mit Diego Maradona: „Sein Team war nicht einfach nur besiegt, es war gedemütigt worden. Thomas Müller, zweimal Miroslav Klose sowie Arne Friedrich mit seinem allerersten Länderspieltor schickten mit Argentinien die nächste große Fußballnation in ein Meer aus Tränen.“ Nach dem frühen Gegentor habe sich die Albiceleste kaum fangen können: „Wo war die gefürchtete argentinische Offensive? Regelrecht abgeschnürt wurden die Angreifer Lionel Messi, Gonzalo Higuaín, Carlos Tévez. Mal schwirrten die Deutschen fliegengleich um isolierte Gegenspieler in Blau-Weiß umher, mal spannten sie ein Netz auf, in dem sich die Argentinier verhedderten.“ Erst kurz vor der Halbzeitpause sei Argentinien druckvoller vor das Tor von Manuel Neuer gekommen, auch nach dem Seitenwechsel geriet Deutschland unter Druck: „Wenn dieses Turnier etwas gelehrt hat, dann dass diese deutsche Mannschaft voller Überraschung steckt, dass man sie nie aus den Augen lassen darf, vor allem nicht diesen langen, dünnen Müller. Im Liegen bugsierte er einen Ball zu Lukas Podolski, den ewigen Poldi, von dem man nicht wusste , ob er es irgendwann lernt, nicht aus jeder Lage den Ball gen Tor zu prügeln. Doch selbst an ihm ist der Reifeprozess der Mannschaft nicht spurlos vorbei gegangen. Er bediente Miroslav Klose, der gar nicht anders konnte, als den Ball zum 2:0 in Tor zu stolpern. Für Deutschland geht die Party weiter. Adios, Diego.“
Stefan Frommann (Welt) greift schon nach dem WM-Titel: „Die Müllers und Özils haben in Deutschland in den vergangenen Wochen nicht nur die absolute Mehrheit der Herzen erobert, sie haben unserem Land weltweit so viel Bewunderung eingebracht, dass die schwarz-gelbe Koalition am besten mit einem kräftigen Seufzer in die Sommerferien verschwindet, denn ein so gutes Gefühl hatte das Volk lange nicht mehr. Die Mannschaft hat sich im Laufe des Turniers gefunden, sie lebt nicht mehr von ihrer jugendlichen Leichtigkeit. Wer vier Tore gegen England schießt und vier gegen Argentinien nachlegt, der besitzt mehr als nur Euphorie, der besitzt eine außergewöhnliche Klasse und damit die Möglichkeit, einen großen Titel zu gewinnen.“
Nichts ist unmöglich
Michael Rosentritt (Tagesspiegel) stimmt ein: „76 Länderspiele hat der Verteidiger Arne Friedrich für die deutsche Nationalmannschaft bestritten, nie hat er getroffen, lässt man das Eigentor für die Färöer im Jahr 2002 einmal außer Acht. Im Viertelfinale erzielte der frühere Berliner Friedrich eine knappe Viertelstunde vor Schluss nach einem genialen Solo von Bastian Schweinsteiger sein erstes Länderspieltor. Auf den ersten Blick war es kein besonders wichtiges mehr. Es war das 3:0 für die Deutschen – doch es war der Treffer, der den Widerstandswillen der Argentinier endgültig zum Erliegen brachte. Was für eine Mannschaft, was für ein Turnier! 4:0 gegen Argentinien, einen der großen Favoriten auf den Titel. Dazu zählen nun mehr denn je auch die Deutschen, die bei ihrer siebzehnten Teilnahme an einer WM-Endrunde zum zwölften Mal unter den besten vier stehen.“ Nach dem Gegentreffer habe Argentinien deutlich unter Schock gestanden, erst nach einiger Anlaufzeit seien die Offensivkünstler vor das Tor gekommen, dann aber gefährlich: „Das Geschehen ging in dieser Phase hin und her, die Argentinier aber waren dem Ziel immer ein Stückchen näher als die Deutschen, Manuel Neuer sammelte nun fleißig Ballkontakte – doch dann zeigte die deutsche Elf wieder das, was man ihr in ihrer Jugendlichkeit am wenigsten zugetraut hätte: eine erstaunliche Abgebrühtheit.“
Lars Gartenschläger und Lars Wallrodt (Berliner Morgenpost) liegen Deutschland zu Füßen, stellvertretend für die Fußballwelt: „Da konnten die Argentinier singend, tanzend und an die Scheiben klatschend mit dem Bus im Stadion einfahren, den Takt auf dem Platz gab in den Schlüsselphase nur ein Team an: Deutschland. Es war beeindruckend, wie die Männer von Joachim Löw gegen den hoch gewetteten Gegner umgehend die Kontrolle übernahmen und das bislang schnellste Tor dieser Weltmeisterschaft erzielten.“ Die Entscheidung brachte dann einer „dieser fantastischen Spielzüge, die den deutschen WM-Jahrgang 2010 so einzigartig, so exquisit und so gefährlich machen.“
Die WM des Kollektivs
Peter Unfried (taz) fürchtet sich fast vor dem „unheimlichen Teamspirit der deutschen Elf. Es ist frappant, wie souverän Löws flachhierarchischer Fußball sich auf hohem Niveau durchsetzte.“ Auch wenn für Unfried noch Spanien der Favorit auf den Titel ist: „Dies ist nicht die WM der Stars. Es ist die WM der Kollektivs.“
Jenseits der Alpen blickt Perikles Monioudis (NZZ) auf die DFB-Elf. „Die beiden Fußballnationen Deutschland und Argentinien sind sich in einem WM-Finale zwei Mal begegnet. In Mexiko gewannen die Gauchos, angeführt von Diego Maradona, 3:2 (1986). In Rom bezwang die deutsche Auswahl nach einem späten Elfmeter durch Andreas Brehme die Argentinier 1:0 (1990). So deutlich wie an der WM 2010 war der Unterschied in der Spielstärke aber nie.“ Denn: „Obwohl das Maradona-Team zeitweise entschlossen wirkte, war es in seinen Aktionen sichtlich limitiert. Die Mannschaftsteile griffen nicht ineinander, nur wenige Spieler nahmen für ihre Mitspieler körperliche Mehrarbeit in Kauf, und in der Rückwärtsbewegung verweigerten sich die Aufbauer und Angreifer mit zunehmender Spieldauer, was für deutsche Konterattacken Tür und Tor öffnete. Moderner Fußball sieht anders aus.“ Deutschland glänzte hingegen durch perfekte Raumaufteilung und geschickte Rotation beim Offensivspiel.
Not even Klose
Dominic Fifield (Guardian) rätselt, wie die deutsche Elf noch zu stoppen sei: „Es war ein Gemetzel, das Maradona verlassen und in Tränen an der Seitenlinie zurückließ. Sein Traum vom Titel ist tot. Es war eine erneute Lehrstunde des Konterfußballs. Löws Mannschaft mögen die namenhaften Spieler im Vergleich mit Argentinien gefehlt haben, aber sie waren immer die gefährlichere Mannschaft auf dem Platz. Das Endergebnis ist keineswegs zu hoch ausgefallen. Während Argentinien trauert, wagen es die Deutschen zu träumen.“
„Not even Klose“ titelt die britische Sun über den deutlichen Sieg der Deutschen. Und obwohl Witze mit Namen unter Journalisten eigentlich seit jeher verboten sind, ist dieses Wortspiel ein sofortiger Klassiker, selbst für den auch sonst recht kreativen britischen Boulevard. „Messi gab alles um sein Team zurück ins Spiel zu bringen, aber auch er konnte die steinharte deutsche Abwehr nicht überwinden.“
Rob Draper (Daily Mail) atmet erleichtert durch, denn nicht nur die Engländer seien gedemütigt worden, der deutsche Auftritt gegen Argentinien habe die Blamage der ‚Three Lions‘ relativiert. Nach dem frühen Führungstor durch Müller, dem „Zerstörer Englands“ sei Deutschland einfach „unwiderstehlich aufgetreten. Ihre Läufe und schnellen Pässe verzauberten einige der besten Spieler der Welt. Zwanzig Minuten lang schwärmten die Deutschen, angeführt von Müller und unterstützt von Podolski, Özil, Schweinsteiger und Khedira aus. Argentinien wurde überrollt und alle Engländer wussten wie sie sich fühlen.“
Das beste Spiel der WM
Emilio Contreras (Marca) fürchtet sich ein wenig vor dem Halbfinale: „Es steht ein großes Halbfinale bevor. Das Spiel der Deutschen war bisher die beste Partie bei dieser Weltmeisterschaft. Nach dem 4:1 gegen England und dem 4:0 gegen Argentinien ist die neue Generation der deutschen Fußballer mit Müller, Özil und Khedira sowie die alten Hasen Schweinsteiger, Lahm, Podolski und Klose der Titelkandidat Nummer eins.“
Tomas Guasch (AS) tanzt zusammen mit dem deutschen Team: „Großer Auftritt: Eins, zwei, drei, vier. Mit vier Toren spielten die Deutschen, wie schon gegen England, eine perfekte Balance zwischen Oktaven und Vierteltakten. Mit Thomas Müller eröffnete ein Spieler den Torreigen, der im Frühjahr noch von Maradona auf der Pressekonferenz vom Platz gescheucht wurde. Er erkannte Müller nicht. Jetzt wird er ihn nie vergessen.“
Massimo Brizzi (La Gazetta dello Sport) schwärmt vom Auftritt der deutschen Elf: „Tolles Deutschland voller Stärke demütigt Argentinien. Bereits nach drei Minuten traf Müller. Zum Schluss wurde es fast eine Demütigung, Deutschland bestrafte jeden Fehler“ Nach dem Vorrunden-Aus der eigenen Elf kann man sich in Italien dennoch für den Calcio erwärmen: „Es war ein nobles Viertelfinale: fünf Weltmeistertitel spielten gegeneinander, die Wiederholung der Finals 1986 und 1990.“
Hier ist Oliver Fritschs Live-Blog zum Nachlesen und hier seine Einzelkritik.
Kommentare
6 Kommentare zu “54, 74, 90, …”
Sonntag, 4. Juli 2010 um 17:22
Danke für die Presseschau.
Bin auch noch ganz berauscht. Das war ganz
großes Kino! Wobei die Argentinier m.M.n. viel zu offensiv ausgerichtet waren. 4-4-2 mit Raute und nur einem echten defensiven Mittelfeldspieler ist gegen 4-2-3-1 mit den variablen Özil, Podolski und Müller etwas naiv. Aber El Diez ist halt ein Gefühlsmensch.
Montag, 5. Juli 2010 um 00:40
Fußball ist ein MANNSCHAFTSsport!
Argentinien hat sich auf Gott und Messi verlassen. England glaubte, Rooney würde es zum Titel schießen.
Löw ist ein moderner Trainer, der weiß, worauf es ankommt.
Man erinnere sich an Ribbeck 2000: „Konzepte sind Kokolores“. Diese bodenlose Dummheit war der Tiefpunkt des deutschen Fußballs und leitete anschließend seine Wiedergeburt ein.
Kein Wunder, dass alle afrikanischen Teams mit abgehalfterten, ribbeckianischen, europäischen Trainern ausgeschieden sind.
Das Finale lautet: Niederlande – Deutschland.
Montag, 5. Juli 2010 um 11:06
Ja. Dunga hatte schon recht, die Zeit der Gaucho- bzw. Rio-Globetrotters ist vorbei. Wobei er mit der Beschneidung der Offensive leider übertrieben hat, bzw. auch Pech hatte.
Montag, 5. Juli 2010 um 13:54
[…] die Pressewelt sonst über den Halbfinaleinzug geschrieben hat, hat indirekter-freistoss.de gewohnt erstklassig dokumentiert. Da flattr ich drauf. Am Schönsten auf jeden Fall der Titel der […]
Montag, 5. Juli 2010 um 20:01
[…] ist jede Hymne gesungen, jede Häme ausgeschüttet und auch sonst alles zum Spiel Deutschland – Argentinien […]
Dienstag, 6. Juli 2010 um 05:21
[…] was die deutsche Nationalmannschaft am Samstag gegen den WM-Favoriten aus Argentinien abgeliefert. Das fand nicht nur die Presse, sondern auch die vielen als deutsche Fans eindeutig zu erkennenden Menschen im Stadion in […]