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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Löw als Wundermann, Schweinsteiger als Leader und Ballack als …?

Marc Vits | Montag, 5. Juli 2010 3 Kommentare

Nach dem Sieg gegen Argentinien verneigt sich die Presse vor der Arbeit des Bundestrainers; Bastian Schweinsteiger nimmt derweil den Platz von Michael Ballack ein, der sich fragen muss, ob er in der Nationalelf noch gebraucht wird

Für Robert Ide (Tagesspiegel) ist der Erfolg der Nationalmannschaft vor allem dem Bundestrainer zu verdanken. „Joachim Löw, der schnell feinsinnig und ebenso schnell wütend werden kann, hat in der Vorbereitung auf die WM in Südafrika die richtige Balance gefunden. Für sich und sein erfrischendes Team. Seit dem Achtelfinal-Triumph über England, der mit dem Tor, das keines sein durfte, der Nachwelt eine Fußballsage hinterließ, ist dieses Turnier schon ein gelungenes für die junge deutsche Internationalmannschaft. Seither kann sie nur noch gewinnen und tut es mit beeindruckendem Selbstbewusstsein.“ Die berufliche Zukunft des Klinsmann-Nachfolgers sieht Ide deshalb weiterhin beim DFB: „Einen guten Grund für den Bundestrainer, nach dieser Weltmeisterschaft aufzuhören, gibt es jetzt nicht mehr – höchstens den Titelgewinn. (…) Löw ist ein Wettkampftrainer, wie er selbst sagt, und er hat sich im Kreise der Nachfolger Michael Ballacks eine Welt geschaffen, in der er sein Talent ausleben kann. Joachim Löw und seine motivierte Mannschaft können sich ihrer Arbeit und ihrer Spielkunst sicher sein. Ihre große Zeit hat gerade erst begonnen.“

Der gelassene Sieger

Auch Markus Völkner (taz) gerät bei der Betrachtung der Arbeit des Bundestrainers ins Schwärmen. Das Duell mit den Südamerikanern habe die Akribie gezeigt, mit der Löw und sein Trainerstab vorgehen würden. Die Deutschen hätten „den Titelfavoriten gedemütigt, ihm nicht den Hauch einer Chance gelassen. Wie geprügelte Hunde schlichen die Verlierer in die Kabine des Kapstadter Stadions.“ Doch selbst nach dem „epochalen Sieg“ habe Löw so ausgesehen, „als hätte er nur ein Trainingsspiel gegen die Auswahl der Provinz ‚La Pampa’ gewonnen. Andere hätten sich von der Bugwelle des Erfolgs wegtragen, hätten sich treiben lassen im Meer der Selbstgefälligkeit. Nicht so der Bundestrainer, der genau weiß, dass noch zwei Partien zu spielen sind. Sein Team braucht ihn noch als nüchternen Analytiker und gewieften Taktiker.“ Löw sei dem Fußball verfallen, doch „ein Besessener ist er deswegen aber noch lange nicht. Dafür erledigt er die Arbeit viel zu locker und unaufgeregt. Löw ist vielmehr seit sieben Wochen in seinem Element: Endlich kann er täglich mit Spielern arbeiten, sie formen und anleiten.“ Und diese harte Arbeit trage jetzt Früchte: „Die jungen Spieler blühen auf, Bundesliga-Problemfälle wie Lukas Podolski und Miroslav Klose werden zu Leistungsträgern in der Startelf, das Spiel der Deutschen wird dank Löws Offensivfimmel gänzlich undeutsch. Zu bestaunen ist ein fußballerisches Gesamtkunstwerk, ein geöltes Räderwerk.“

Der Plan des Bundestrainers und dessen Erfüllung im Viertelfinale beschäftigt Steffen Dobbert (Zeit Online). Joachim Löw erklärte nach dem Sieg über Argentinien, dass die Mannschaft an diesem Tag so gespielt habe, wie er sich das vorgestellt habe. „Es war ein leises Statement zwischen all den Superlativen, die mit dem Abpfiff des 4:0-Erfolges in die Fußballwelt geschrien wurden, aber es verriet, wie sehr das Spiel gegen Argentinien die Vollendung eines lang entwickelten Planes war.“ Ein wesentliches Konzept sei dabei die Verjüngung der Mannschaft seit der letzten Europameisterschaft gewesen. „‚Dieser Umbruch, den wir bewusst 2008 eingeleitet haben’, sagte der Bundestrainer, ‚ist gelungen.’ Die jungen Spieler hätten in ihrem Charakter eine Menge, aber keine Angst. Nach dem Einzug ins Halbfinale bestätigte Joachim Löw auch offiziell, dass das Ziel, Michael Ballack zu ersetzen, in diesem Turnier schon jetzt erreicht wurde.“ Gegen die Mannschaft von Maradona „beeindruckte die Nationalelf erneut vor allem mit dieser neuen deutschen spielerischen Leichtigkeit und ihrer Kombinationsfreude. Drei der vier Tore waren über mehrere Stationen herausgespielt. Doch der Schlüssel zum Erfolg sei das nicht gewesen, sagte Joachim Löw. Die Disziplin in der Defensive und der Wille, lange Wege zu gehen, waren im WM-Viertelfinale die Erfolgsfaktoren, urteilte der Bundestrainer.“

Das wahre Sommermärchen

Auf einer Welle der Euphorie schwimmt derzeit nicht nur die deutsche Nationalmannschaft, auch Holger Gertz (SZ) lässt sich gerne von ihr tragen. Dabei sei es „auch für einen deutschen Journalisten, der die Nationalmannschaft schon länger begleitet, ein unbekanntes Gefühl, wenn die Kollegen aus den anderen Ländern ihn fragen: Was zum Teufel ist mit euch Deutschen los?“ Zwar findet er auf diese Frage keine Antwort, doch liefere vor allem das Spiel gegen Argentinien den Beweis für die Entwicklung hin zum neuen deutschen Fußball: „Die Deutschen haben die Argentinier ausgespielt in der zweiten Halbzeit, sie haben sie nicht niedergekämpft wie sonst immer. Diesmal spielen sie so, wie sie im Sommermärchen gern gespielt hätten. Und wie die Deutschen immer hatten spielen wollen, so leicht, so schnell, so schön. Natürlich auch: so erfolgreich. Das Sommermärchen wird erst jetzt erzählt, mit vier Jahren Verspätung.“ Man könne  „viel darüber reden, warum die Deutschen gerade spielen, wie sie nie gespielt haben. Bessere Jugendarbeit, Erfahrung in der Bundesliga, gute Bedingungen in den Internaten, all das ist wichtig, aber es reicht nicht als Erklärung. Es gibt etwas, das dazukommt in diesem Jahr, das sogenannte Momentum. Ein Phänomen, das Teamsportarten so interessant macht. Einer Mannschaft wachsen Kräfte zu, die sie eigentlich gar nicht hat. Man kann vieles erklären, manches nicht. Wenn alles ineinandergreift und alles zueinander passt, kann eine Mannschaft fliegen.“ Auch die Sympathie, die der deutschen Mannschaft in Südafrika entgegen gebracht wird, sei vor allem dem Auftreten des Teams als geschlossene Einheit zu verdanken: „Wie ein Team jubelt, erzählt viel über das Klima, und der deutsche Jubel ist so, dass viele Südafrikaner, die das in den Kneipen beobachten, ganz berührt sind. Manchmal hat einer fast Tränen in den Augen, wenn er sieht, wie fürsorglich die Fußballer miteinander umgehen. Dem Stürmer Miroslav Klose streicheln die Mitspieler manchmal die Wange, oder sie nehmen seinen Kopf zwischen die Hände und schütteln ihn vorsichtig, wie man es als Erwachsener bei einem Kind tut, dem man sagen will: Na also, du kannst es doch.“

Cayetano Ros (El País) lobt die Leistung Joachim Löws und die Stärke des deutschen Kollektivs: „Deutschland ist eine Mannschaft mit Autor. Vor zwei Jahren glaubte Joachim Löw, dass seine Nationalelf eines Tages derjenigen Spaniens ähneln könnte, dem Kontrahenten, der ihm bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz eine Lektion erteilt hatte. Der deutsche Trainer nahm sich vor, jenem Weg zu folgen, der versucht, durch einen frischen, gewagten und komplexfreien Fußball zum Erfolg zu kommen. Deshalb rekrutierte er eine Gruppe junger technisch begabter Spieler wie Müller, Özil, Khedira, Kroos und Marin, ohne wohl auch nur im Entferntesten damit zu rechnen, dass die drei Erstgenannten ihm einen derart spektakulären Ertrag einbringen würden. Begünstigt wurde dies durch das Fehlen des autoritären Ballack aufgrund einer Verletzung in letzter Sekunde, was einer Befreiung gleichkam. Es ist ein kollektiver Triumph, angeführt von Schweinsteiger, verziert durch Müller und Özil und vollendet durch die Keule von Podolski und Klose. Im Gegensatz zum Kult der Individualität Argentiniens, wo Maradona und Messi sich als Protagonisten gerierten, die sie nicht waren.“

Von wegen Copa America!

Nach den Viertelfinalbegegnungen erkennt Michael Horeni (FAZ) eine Machtverschiebung zugunsten Europas: „Mit Deutschland und den Niederlanden setzte sich eine typisch kontinentaleuropäische, wenn auch unterschiedlich dosierte Zwei-Komponenten-Mischung durch – für die stilbildend auch der dritte Halbfinalist Spanien steht. Ständige Offensivbereitschaft und mannschaftliche Homogenität mit hoher Laufleistung sind die Erfolgsstruktur. Dungas Brasilien brachte dabei zu wenig Angriffslust und Maradonas Argentinien zu wenig innere Balance ins Spiel.“ Einer positiven Zukunft dürfe der deutsche Fußball entgegen blicken, die Horeni sich ohne Joachim Löw und dessen Trainer-Team gar nicht vorstellen könne. Die gute Arbeit im vergangenen Jahrzehnt lasse sich auch an der WM-Statistik der deutschen Mannschaft ablesen: „Mit dem Einzug ins Halbfinale rückt auch ins Blickfeld, dass der deutsche Fußball in den vergangenen knapp zehn Jahren, in denen er lange mit seiner strukturellen Krise zu kämpfen hatte und um Anschluss an die Erfordernisse der Zeit rang, trotzdem außerordentliche Resultate lieferte. Schon jetzt steht fest, dass keine andere Nation eine solche Ausdauerleistung erbracht hat: WM-Finalist 2002, Platz drei vor vier Jahren und nun schon wieder im Halbfinale. Da kommen seit dem neuen Jahrhundert weder Brasilien, Italien, Argentinien und Frankreich noch die Niederlande mit.“ Dieses Jahr müsse aber noch nicht mit dem Erreichen des Halbfinales Schluss sein: „Für ein hungriges Team, das sich seine Grenzen nicht einmal von Giganten setzten lässt, ist der WM-Titel zum einzigen Maßstab geworden. Nur damit kann man den neuen Fußball-Größen kommen.“

Der neue Anführer

Vom Meisterstück des „emotionalen Leaders“ Bastian Schweinsteiger berichtet Anja Schramm (Welt Online). Der Sieg im Viertelfinale gegen Argentinien sei das beste Länderspiel des 25-jährigen Bayern gewesen. Vor allem seine Vorarbeit zum 3:0 von Arne Friedrich stelle „ein Exempel für Schweinsteigers fußballerisches Verständnis, seine Übersicht und Abgeklärtheit“ dar. Er habe dazu große Stücke dazu beigetragen, dass Lionel Messi nicht zur Entfaltung gekommen sei: „Dem Thema Messi entledigten sie sich bravourös. Wenn der Weltfußballer zaubern wollte, waren mindestens zwei Deutsche in der Nähe, befehligt von Schweinsteiger, der den geordneten Rückzug organisierte. Messi blieb weitgehend wirkungslos.“ Die Versetzung von der rechten Außenbahn ins Zentrum des Spielfelds komme dem Spiel des deutschen Vize-Kapitäns sehr gelegen: „Er ist nicht der Mann für ästhetische Schönspielerei. Er ist technisch äußerst versiert, das schon. Aber er ist derjenige, der dem schnörkellosen Spiel zugeneigt ist, einer mit viel Ballbesitz, enormen Laufpensum und einer beeindruckenden Zweikampfquote. Vor allem aber ist er jemand, der nach hinten arbeitet.“ Dazu passe auch, „dass er nicht mehr viel mit dem Schweini-Image anfangen kann, das ihm einst anhaftete. Das Lockere hat er zwar noch, aber mittlerweile mischen sich auch viele nachdenkliche Töne in seine Ausführungen. Oder wie im Vorfeld des Argentinien-Spiels auch Worte, die für Wirbel gesorgt haben, als er über die Spielweise der Argentinier philosophierte und ihnen eine ruppige Gangart mit Vorsatz attestierte.“

Wohin mit Ballack?

Hendrik Ternieden (Spiegel Online) stellt sich die Frage, wie es um die Zukunft von Michael Ballack im Dress der deutschen Nationalmannschaft bestellt sei. Am Samstag verfolgte der „Capitano“ den Sieg gegen Argentinien im Stadion und habe so vor allem eines gezeigt: Präsenz. „Nach dem Schlusspfiff eilte Ballack hinunter zur Seitenlinie, er gratulierte den deutschen Spielern, die vor wenigen Wochen noch seine Teamkollegen waren. Eine Szene, die vor allem eines deutlich machen sollte: Ich! Gehöre! Noch! Dazu!“ Natürlich habe er „bei jedem Tor gejubelt, mit der Mannschaft gefiebert, sich an dem berauschenden Fußball erfreut. Doch Ballack ist ein intelligenter Mann, der seine Karriere immer weitsichtig geplant hat. Er weiß: Jedes weitere Tor macht seine Rückkehr in die Nationalelf schwieriger.“ Sein Nachfolger scheint auch schon gefunden: „Schweinsteiger hat Ballacks Position übernommen – und auch dessen Rolle. Er gibt den Takt des Teams vor, er dirigiert, er ist ein echter Anführer. Die Mannschaft der kommenden Jahre wird um Schweinsteiger herum gebaut werden.“ Der Münchner sei daher nicht mehr von seiner Position zu verdrängen und Sami Khedira, sein Nebenmann im defensiven Mittelfeld, werde seinen Platz auch nicht kampflos aufgeben. Zwar sei Ballack „immer noch ein Spitzenfußballer, sein Ziel die EM 2012. Doch irgendwann muss der Umbruch in einer Mannschaft vollzogen werden. Vielleicht ist die Chance nie wieder so groß wie jetzt.“

Über die unbekannten „Wunderkinder“ aus der Bundesliga, die momentan in Südafrika für so große Furore sorgen, schreibt Jan Christian Müller (FR). Arne Friedrich, ein „typischer Fußballspieler aus Deutschland“ sei bis vor drei Wochen in der großen Fußballwelt noch gänzlich unbeachtet gewesen. Wie alle seine Mannschaftskameraden spielt er in „der Bundesliga, die außerhalb der Landesgrenzen wenige interessiert. Die Verwirrung ist deshalb groß. Man wusste vom Sommermärchen 2006, dass Deutschland schön feiern kann, und war überrascht. Aber niemand hatte Deutschland deshalb zugetraut, auch schönen Fußball zu spielen; außer Deutschland selbst.“ Nach den bisherigen Auftritten der Nationalmannschaft zeige sich dann auch ein gesteigertes Interesse an der höchsten deutschen Spielklasse: „Der südafrikanische Sportsender Super Sports hat eilig neue Werbespots geschaltet. Er wird von der kommenden Saison an erstmals die Fußball-Bundesliga live übertragen.“

freistoss des tages

Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Schwöbel.

Kommentare

3 Kommentare zu “Löw als Wundermann, Schweinsteiger als Leader und Ballack als …?”

  1. Linkschau II: Koks, Klose, Kalauer | Reeses Sportkultur
    Montag, 5. Juli 2010 um 15:25

    […] die Presseschauen von heute  zum deutschen Team und zur WM allgemein sei hier […]

  2. Peter Glock
    Dienstag, 6. Juli 2010 um 11:15

    Sollte Ballack nicht mehr gebraucht werden, gibt es bei der ersten Niederlage wieder das übliche Gedöhns und Rumgemichel der Besserwisser. Ganz bestimmt.

    Egal, ob sie haben oder nicht.

  3. Peter Glock
    Dienstag, 6. Juli 2010 um 11:27

    „Recht“ haben, natürlich.

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