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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Integration und Leitkultur

Matthias Nedoklan | Donnerstag, 7. Oktober 2010 9 Kommentare

Intergration, muslimische Kultur in Deutschland, Vaterlandsverrat: Selten war ein Länderspiel so überladen wie die Partie Deutschland gegen die Türkei.

Michael Horeni (FAZ) sieht im Bundespräsidenten einen Motivator für die DFB-Elf : „Der Empfang und die Ehrung beim Bundespräsidenten war eine willkommene und ganz besondere Gelegenheit, sich noch einmal der eigenen Stärken zu vergewissern. Wulff ließ allerdings auch keinen Zweifel, welche Erwartungen auch mit frischem, silbernem Lorbeer in den kommenden Tagen zu erfüllen sein sollen. ‚Es gibt weniges, was die Seelenlage der Nation mehr beeinflusst als die Spielweise, die Aufstellung und die Ergebnisse der Nationalmannschaft‘, sagte der Bundespräsident, der die Ehrung unbedingt auch als Ansporn mit Blick auf die EM 2012, aber vor allem auf die WM 2014 verstanden wissen wollte. Er träume davon, dem Bundestrainer in Rio de Janeiro in vier Jahren den Pokal übergeben zu können. Aber auch das Naheliegende sollte nicht zu kurz kommen, und so gab Wulff dem Trainer und seinem Team mit auf den Weg, dass Siege am Freitag gegen die Türkei und am Dienstag in Astana gegen Kasachstan ‚die diplomatischen Beziehungen nicht belasten werden.‘“

Philipp Selldorf (SZ) errichtet in der Nationalmannschaft ein Heim für kriselnde Clubspieler: „Es gibt keine Zweifler und Ungläubigen mehr im Land, das hat sich der DFB jetzt schwarz auf weiß geben lassen, und bei allen Vorbehalten gegenüber solchen Erhebungen darf man dieses Zeugnis sogar für glaubhaft halten. Das Problem ist bloß, dass längst neue Umfragekriterien herrschen, denn der Fußball rollt immer weiter. Wer wüsste das besser als jene im ganzen Land bekannten und beliebten Nationalspieler, die dem FC Bayern angehören, und die dieser Tage in eine noch vor wenigen Wochen nie für möglich gehaltene Münchner Identitätskrise geraten sind?“

Mourinhos Lehrling

Christof Kneer (SZ) porträtiert den Neu-Madrilenen Sami Khedira: „Khedira ist 23 Jahre alt, man darf das nicht vergessen. Wer ihn beobachtet, wie er sich mit weltmännischer Gelassenheit zwischen Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Wulff bewegt, der gewinnt einen Eindruck davon, was diese drei Minuten für ihn bedeuten. Er war immer schon reif, immer weiter als sein Alter, aber gerade ist er dabei, einen bisher unbekannten Titel zu erobern: Khedira ist jetzt der jüngste Routinier der Welt. Er spricht so, und er spielt auch so. Das wäre in der Tat eine kuriose Entwicklung, wenn Khedira, dieser forsche Jungdynamiker, plötzlich in den Hacki-Wimmer-Verdacht geriete. Khedira selbst sieht die Wasserträger-Tendenz in seinem Spiel als Zeichen der Reife, und er weiß genau, dass er im Moment an der entscheidenden Schwelle seiner Karriere steht. ‚Ich will bei Real den nächsten Schritt machen, um ein noch besserer, noch größerer Spieler zu werden‘, sagt er. Am Freitag gegen die Türkei wird er nach Schweinsteigers Ausfall erstmals das Mittelfeld-Ressort leiten, und wahrscheinlich wird er viel Mourinho mit ins Olympiastadion nehmen.“

Tobias Schächter (SZ) untersucht das türkische Lazarett um Arda Turan: „In der Türkei ist Arda ein Volksheld. Endgültig machte er sich international einen Namen durch seine starken Auftritte bei der EM 2008. Trotz des jungen Alters ist Arda schon Kapitän von Galatasaray. Wegen seines großen Kopfes nennen sie ihn in der Türkei – nun ja – ‚großer Kopf‘. Ein Könner mit ähnlicher Spielweise findet sich in Hiddinks Kader nicht. In den ersten Qualifikationsspielen zur EM2012 gegen Kasachstan (3:0) und Belgien (3:2) erzielte Arda zwei Tore, gegen Belgien gar den Siegtreffer. Nach diesem Spiel musste er drei Wochen pausieren, er hegte aber – bis Dienstag – die Hoffnung auf einen Einsatz in Deutschland. Spannend wird sein, wie Hiddink auf den Ausfall reagiert. Ohnehin befindet sich der Niederländer personell und taktisch noch in der Findungsphase. In seinen ersten Pflichtspielen begann Hiddink mit nur einer Spitze ganz vorne, gegen Belgien stellte er in der zweiten Halbzeit auf ein 4-4-2-System um.“

Özil und das Kulturfundament

Matti Lieske (Berliner Zeitung) drängelt sich mit der Bundeskanzlerin auf ein Foto mit Mesut Özil: „Angela Merkel war nicht anwesend bei der gestrigen Pressekonferenz mit Mesut Özil. Das verwunderte ein wenig, schließlich hatte man nach ihrem Cameo-Auftritt bei der Lorbeerblattverleihung durch den Bundespräsidenten angenommen, dass die Bundeskanzlerin nun bei allen Terminen der Fußball-Nationalmannschaft vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei am Freitag auftauchen würde, um ein bisschen von der Popularität der WM-Helden zu zehren und sich auf ein paar Fotos zu drängeln. Bei der Gelegenheit hätte sie Özil dann gleich ihre Theorie darlegen können, dass er als Moslem leider nicht zum „Fundament des kulturellen Selbstverständnisses“ in Deutschland gehöre. Als Fußballer hingegen wohl schon. Schließlich gilt einer Umfrage zufolge das DFB-Team für 87 Prozent der Befragten als Symbol von Integration. Und Mesut Özil, der sich anders als viele türkischstämmige Vorläufer für eine Karriere im deutschen Nationaltrikot entschied, als herausragendes Beispiel dieser Entwicklung.“

Thomas Hummel (SZ) rückt das Länderspiel am Freitag in die Integrations-Diskussion: „Mesut Özil ist die Symbolfigur dieser Partie. Die Familie des 21-Jährigen stammt aus der Türkei, seine Eltern heißen Mustafa und Gülizar, doch aufgewachsen ist Mesut in Gelsenkirchen. Und dort hat er in einem inzwischen landesweit bekannten Affenkäfig, einem eingezäunten Bolzplatz, das Fußballspielen so gut gelernt, dass er zum Nationalspieler wurde. Zu einem deutschen Nationalspieler. Für einen Deutsch-Türken ist das keine Selbstverständlichkeit. Bei der Türkei stehen am Freitagabend im Berliner Olympiastadion Nuri Sahin aus Lüdenscheid, Hakan Balta aus Berlin und die Zwillinge Hamit und Halil Altintop aus Gelsenkirchen im Kader. Sie alle entschieden sich für das Land ihrer Eltern.“

Türkische Strafraumgrätschen

Jan Christian Müller (FR) entlastet die Symbolfigur des Spiels: „Özil musste sich stattdessen in einem repräsentativen, als Glaspalast getarnten Autohaus am Spreeufer auf eine Bühne setzen und abwechselnd auf deutsch und türkisch Fragen beantworten. Es ist bekannt, dass der hochbegabte Offensivspieler solche Pflichttermine genauso wenig mag wie Grätschen an der eigenen Strafraumkante. Aber diesmal gab es kein Vertun. Sogar einen Simultanübersetzer hatte der DFB engagiert, auf dass Özils tiefschürfende Verlautbarungen nicht falsch interpretiert würden. Der DFB und der Profi haben vor dem ohnehin emotional überladenen Fußballspiel kein Interesse an unnötiger Zuspitzung.“

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Kommentare

9 Kommentare zu “Integration und Leitkultur”

  1. anderl
    Donnerstag, 7. Oktober 2010 um 14:14

    „Bei der Gelegenheit hätte sie Özil dann gleich ihre Theorie darlegen können, dass er als Moslem leider nicht zum „Fundament des kulturellen Selbstverständnisses“ in Deutschland gehöre.“

    *kreisch* Ja, das hätte ich auch gerne gesehen!

  2. notebook-reparaturen-berlin
    Donnerstag, 7. Oktober 2010 um 16:51

    das hätte die Merkel ja ruhig mal machen können…;) auf gut deutsch: dieser auftritt hätte total gegen ihre Theorie verstossen.

  3. Stevie
    Donnerstag, 7. Oktober 2010 um 17:21

    Leider wird durch die ganze Diskussion um die Integration von MÖ deutlich wie weit die Presselandschaft in Sachen Integration tatsächlich ist. Wenn MÖ tatsächlich richtig integriert wäre, würde er nur als Fussballer wahrgenommen und nicht als Integrationsheld.

  4. anderl
    Freitag, 8. Oktober 2010 um 06:19

    @ Stevie:
    wird denn diskutiert, in welchem Maße der Herr Özil integriert ist?

    Wäre ja fein, dann gäbe es richtige wissenschaftlich fundierte Parameter zur Integrationsgradsberechnung!

    Auch für mich wird es immer so sein, dass Mesut Özil irgendwo ein DeutschTÜRKE ist. Wahrscheinlich sogar mehr ein Türke. Denn in meiner Kindheit waren das alles Türken.
    Ihre Anwesenheit hat mich aber nie gestört.Mir war es irgendwas zwischen egal und interessant, weil bei den türkischen Freunden zu Hause anders gegessen wurde.

    Ich aber empfinde das nicht als Beleidigung, sondern als Tatsache, dass er ein Deutschtürke ist. Denn leben soll er bitteschön, wo er will.

    Und das sich die Öffentlichkeit noch dran gewöhnen muss, ist halt so.

  5. Oliver Fritsch
    Freitag, 8. Oktober 2010 um 07:37

    Ungewöhnlich kritisch geht Hamit Altintop mit Mesut Özil ins Gericht, der er vorwirft, sich aus Karrieregründen für Deutschland entschieden zu haben:
    http://www.sueddeutsche.de/sport/hamit-altintop-es-geht-um-die-fahne-auf-der-brust-1.1008613

    Der einfachste Einwand wäre natürlich, dass Altintop sich für die Türkei entschieden habe, weil er für Deutschland gar nicht nominiert würde. Aber diesen billigen Einwand verkneifen wir uns natürlich.

  6. Notebook Reparatur
    Freitag, 8. Oktober 2010 um 17:13

    Das wird ein Spiel mit Fairness. Ich freue mich auf das Spiel. Möge der bessere gewinnen.
    Lisa aus Berlin

  7. Marvin Nash
    Freitag, 8. Oktober 2010 um 21:45

    Sehr gut verkniffen Herr Fritsch 😉 , aber dasselbe habe ich mir auch gedacht.

  8. Heffer
    Samstag, 9. Oktober 2010 um 11:00

    Nach Altintop kann man aber auch wirklich jeden Spieler dafür kritisieren sich dür die erfolgreichere Nationalmannschaft entschieden zu haben.

    Was wäre, wenn Altintop einen armenischen Großvater hätte, Müller Verwandtschaft in Österreich hätte, Zidane aus Algerien stammen würde 😉

    Es gibt natürlich auch Beispiele bei denen man recht sicher davon ausgehen kann, dass einem die Karriere wichtiger war, siehe Barrios für Paraguay. Oder auf der anderen Seite Ryan Giggs für Wales, des in seiner Jugend für England gespielt hat.
    (wenn ich noch länger darüber nachdenke, fällt Giggs wahrscheinlich doch auch eher unter diejenigen, die mit der Nationalmannschft Titel gewinnen wollen)

  9. philipp
    Samstag, 9. Oktober 2010 um 20:06

    Apropos verkneifen: Mesut Özil ist ja wohl eher bescheiden, aber er hätte gegen Altintops Kritik durchaus auch einwenden können daß sich die Türkei mit ihm bestimmt für die WM qualifiziert hätte…

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