Deutsche Elf
Heimspiel in Astana
| Montag, 11. Oktober 2010Das Länderspiel gegen die Türkei ist erfolgreich absolviert, jetzt muss der DFB nicht nur Kasachstan sondern auch die Zeitumstellung besiegen.
Philipp Selldorf (SZ) vergleicht die Nationalmannschaft mit einem Sanatorium: „Fotos aus der Kabine sind eigentlich tabu, die Kabine ist das Wohnzimmer der Mannschaft und somit Privatsphäre, aber in diesem Fall hat der Bundestrainer eine Ausnahme gemacht und dem Wunsch des Kanzleramtes entsprochen. Er hat das Foto zur Veröffentlichung freigegeben, das die Bundeskanzlerin beim Händeschütteln mit dem halbnackten Mesut Özil zeigt, ‚das ist ja unter dem politischen Aspekt der Integration fast ein historisches Dokument‘, heißt es beim DFB.Das bessere Dokument wäre allerdings das Foto gewesen, das die Begegnung zwischen Merkel und Tim Wiese nach dem Spiel bezeugt. Es ist ja eine noch größere Integrationsleistung des Nationalteams, den rheinländischen Torwart von Werder Bremen harmonisch eingereiht zu haben. Özil ist längst unentbehrlich, Wiese hat dagegen schon lange die schwierigste Rolle im Klub, er ist als Ersatzmann zur Untätigkeit verdammt. Aber er kommt trotzdem gern wieder. Und er ist trotzdem keinem mit seiner Laune auf die Nerven gegangen, er wird für seine ehrliche, unverfälschte Art geschätzt, und er hat viele Freunde im Team: Khedira etwa, Özil und Marin.“
Christof Kneer (SZ) kümmert sich um die Vertragsgestaltung von Miroslav Klose: „Man darf davon ausgehen, dass die Branche den Wink verstanden hat. Zuletzt hatten Klose löblich dotierte Angebote aus Russland vorgelegen, aber der kleine Hinweis in eigener Vertrags-Sache ist in erster Linie an die Heimat gerichtet. ‚Ich könnte mir vorstellen, noch mal bei einem anderen Klub in der Bundesliga zu spielen‘, sagte Klose im Interview mit der Bild am Sonntag. Er kennt ja die Spekulationen in der Branche, wonach sich der FC Bayern für die nächste Saison bereits mit dem Wolfsburger Stürmer Edin Dzeko verabredet hat. Dieser Dienstag könnte für Klose wieder ein günstiger Termin sein, um seine Eigen-PR-Kampagne fortzusetzen.“
Vorhänge zuziehen
Philipp Selldorf (SZ) sorgt sich um die Zeitverschiebung in Kasachstan: „Wenn die Deutschen am Montag nach sechs Stunden Flug um 19 Uhr Ortszeit ankommen, werden sie also in aller Ruhe zu ihrem Hotel fahren, sich ein wenig die Beine vertreten, und sich schließlich um 23 Uhr zum Training im Nationalstadion versammeln. Anschließend steht das Abendessen auf dem Programm, Bettruhe ist gegen drei oder vier Uhr vorgesehen. Wichtig: Vorhänge zuziehen, damit man nicht fünf Stunden später von der Sonne geweckt wird. Das Frühstück gibt es erst um 13 Uhr Ortszeit, danach folgt der übliche Zeitvertreib, bis zehn Stunden später das Spiel beginnt. Meyer ist höchst zuversichtlich, dass der Trick, den schon andere Sportler auf Asienreisen angewendet haben, funktionieren wird.“
Stefan Hermanns (Tagesspiegel) träumt von einem Mitternachtssieg: „Als Wissenschaftler musste der Arzt der Nationalmannschaft feststellen, dass es zu diesem Thema ‚erstaunlich wenig seriöse Literatur‘ gibt, dafür aber eine Menge Erfahrung. ‚Die Strategie ist wohlbekannt‘, sagt er, ‚und klappt recht gut.‘ Es geht darum, die Zirbeldrüse im Gehirn zu überlisten, die auf Licht reagiert und durch die Ausschüttung von Melatonin das menschliche Zeitempfinden steuert. Deshalb hat die Reiseleitung darauf geachtet, dass die Hotelzimmer der Spieler komplett verdunkelt werden können, damit die Nacht für sie ein bisschen länger dauert. Der Ansicht, dass die derzeit so erfolgreiche Nationalmannschaft einen Gegner wie Kasachstan, die Nummer 126 der Welt, wohl auch im Halbschlaf besiegen werde, hat der Bundestrainer entschieden widersprochen.“
Dienstreise nach Kasachstan
Andreas Lesch (Berliner Zeitung) möchte Berlin nach Astana transportieren: „Dass der Wille Berge versetzt, ist allgemein bekannt. Aber kann er auch eine ganze Stadt hochheben, durch die Luft schweben lassen und rund 4 000 Kilometer weiter wieder absetzen? Die Planer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft wollen sich an diesem Kunststück zumindest versuchen. Sie brechen heute zu ihrer Dienstreise nach Kasachstan auf, und sie werden dort so tun, als liege der Spielort Astana nicht weit im Osten, sondern gleich neben Berlin. Sie wollen, nachdem sie am Freitag aufgrund der Überzahl und Stimmgewalt der türkischen Fans im heimischen Olympiastadion ein Auswärtsspiel erlebt haben, nun in Kasachstan ein Heimspiel simulieren. Sie werden sich einreden, sie flögen nicht gut fünf Stunden in die Fremde. Sie sagen ihren Nationalspielern: Fühlt euch wie zu Hause!“
Christian Hönicke (Tagesspiegel) porträtiert Toni Kroos: „Wenn man das Spiel von Toni Kroos verstehen will, schaut ihm am besten mal auf die Füße. Sie sind nicht viel größer als die von Lothar Matthäus. Der frühere Weltfußballer hatte eine Frauenschuhgröße. Viele meinen, gute Fußballer müssten große Füße haben, so wie Günter Netzer, der Größe 46 trug. Wenn Toni Kroos durch die Hotellobby geht, hat sein Gang etwas Beiläufiges, Leichtes. Seine Turnschuhe trägt er offen, das ist angenehmer, wenn man einen hohen Spann hat. Toni Kroos muss darüber lachen, er hebt seinen rechten Fuß. Soll wohl heißen, ist doch nichts Besonderes. Ist es aber doch, vor allem, was er damit anzustellen vermag. Seine Füße zählen zu den geschicktesten, die der deutsche Fußball hervorgebracht hat.“
Özil der stille Zauberer
Matti Lieske (Berliner Zeitung) lobt Mesut Özil: „Zumindest in einer Hinsicht dürfte Mesut Özil die Knöchelverletzung, die seinen Einsatz im morgigen EM-Qualifikationsspiel in Astana gegen Kasachstan noch offen lässt, gelegen gekommen sein. Wegen der direkt nach dem 3:0-Sieg gegen die Türkei begonnenen Behandlung blieb es ihm erspart, sich in Pressekonferenz und Mixed-Zone den Fragen der Journalisten zu stellen. Seine Taten auf dem Fußballplatz in verbale Statements zu transferieren, gehört noch immer nicht zu den Lieblingstätigkeiten des Mittelfeldspielers von Real Madrid, selbst wenn er gelernt hat, sich auch auf diesem Gebiet zu behaupten.“
Markus Völker (taz) erlebt die Integrations-Debatte aus der Frosch-Perspektive: „Es ist einer der ältesten Allgemeinplätze, die der Fußball bereithält: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und so wird der Fan der türkischen Nationalmannschaft, der Freitagnacht durchs Brandenburger Tor schritt, wohl an den spielerischen Umgang mit Identitäten gedacht haben, als er den Autor dieser Zeilen mit dem Ausruf bedachte: ‚Ey, scheiß Deutscha, Alda.‘ Dass der junge Mann mit, wie man so sagt, migrantischem Hintergrund, mutmaßlich in Neukölln, Wedding oder Kreuzberg zu Hause und im Besitz eines deutschen Passes ist, sich selbst beschimpfte, das mag ihm vielleicht nicht bewusst gewesen sein. Genauso wenig wie der Masse im Berliner Olympiastadion, die Mesut Özil, sobald dieser in Ballbesitz war, gellend auspfiff. Hatte es nicht vorm Spiel geheißen, die türkische Fußballgemeinde sei stolz darauf, dass es einer der ‚ihren‘ in die Startelf von Real Madrid geschafft hat? Das war den Türkei-Fans im Spiel gegen die DFB-Elf nicht mehr so wichtig. Offensichtlich überwog der Groll darüber, dass Özil sich das weiße Trikot des DFB übergestreift hatte – und nicht das rote der Milli Takim, der türkischen Nationalmannschaft.“
Kommentare
2 Kommentare zu “Heimspiel in Astana”
Montag, 11. Oktober 2010 um 10:51
[…] – Özil an BordFOCUS OnlineDFB-Elf in Kasachstan mit Özil, aber ohne Boatengnoows.de Nachrichtenindirekter-freistoss.de -Fussball Arena -WELT ONLINEAlle 356 […]
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 14:59
Wer zum Henker ist Meyer?!
Aus dem zweiten Selldorf-Abschnitt: „[…] Meyer ist höchst zuversichtlich, dass der Trick, den schon andere Sportler auf Asienreisen angewendet haben, funktionieren wird.“
Ist er Mannschaftsarzt, -psychologe oder gar ein Nationalelfschlafexperte? 😉