Bundesliga
Der Nächste, bitte!
| Donnerstag, 14. Oktober 2010Wie zuletzt seine Vorgänger hat auch Christian Gross den Herbst in Stuttgart nicht unbeschadet überstanden. Die Presse sucht nach den Verantwortlichen für die Entlassung des Schweizers und wird nicht nur auf der Trainerbank fündig
Für Peter Ahrens (Spiegel Online) habe der VfB dem Schweizer möglicherweise gar einen Gefallen getan: „Christian Gross, der die Stuttgarter im vergangenen Dezember auf einem Abstiegsplatz übernommen und auf einen Europa-League-Rang zum Saisonende geführt hatte, darf sich jetzt in Ruhe nach einer neuen beruflichen Herausforderung umsehen. Er kann darauf warten, dass der Job des Nationaltrainers der Schweiz frei wird und darf die Konfusion im Ländle seinem Nachfolger überlassen. Dabei hatte Gross vor Wochen noch Heldenstatus beim VfB, und bis zuletzt gab es bei den Fans annähernd niemanden, der die Ursache für die Misere in der Person des Trainers begründet sah. Der Unmut richtet sich mehr und mehr gegen die Führungsetage des Clubs. Der ruppige Aufsichtsratsvorsitzende Dieter Hundt sowie Präsident Erwin Staudt, beide aus der freien Wirtschaft mit langjähriger Erfahrung in der Unternehmungsführung ausgestattet, hinterlassen nicht erst seit diesem Mittwoch den Eindruck der Orientierungslosigkeit.“
Die Hoffnung auf den Tuchel-Effekt
Elke Rutschmann (Berliner Zeitung) vermutet die Hoffnung auf den Tuchel-Effekt: „Christian Gross fand kein Rezept gegen das Herbst-Trauma seines Teams und ist unter anderem an dessen Launenhaftigkeit gescheitert. Es passte nicht mehr zwischen Gross und der Mannschaft: der Trainer hat taktische Fehler gemacht, wenig kommuniziert, die Hierarchie im Team durcheinander gewürfelt und die Vereinspolitik öffentlich kritisiert. Fredi Bobic weiß, dass die Arbeit der Vereinsführung in den kommenden Wochen kritisch beäugt werden wird. Insgeheim hoffen sie mit Jens Keller vielleicht auf eine Art Tuchel-Effekt. Keller ist zumindest Schwabe – wie alle derzeit erfolgreichen Trainer in der Liga.“
Christian Spiller (Zeit Online) zeigt sich überrascht über den Zeitpunkt der Entlassung: „ Christian Gross hatte es wahrlich nicht einfach. Die Leistungsträger Jens Lehmann und Sami Khedira beendeten ihre Karriere oder wurden für viel Geld zu Real Madrid verkauft. Doch die Schwaben hielten ihre Taler beieinander, dachten gar nicht daran, in gleichwertigen Ersatz zu investieren. Stattdessen pumpten sie ihr Geld in ein, gemessen am architekturkritischen Geist der Stuttgarter Bevölkerung, relativ unumstrittenes Bauprojekt. In diesem Fall bloß geht es nicht um einen unterirdischen Bahnhof, sondern um den kostspieligen und stimmungstötenden Umbau ihres Fußballstadions. Schon vor Saisonbeginn bemängelte Christian Gross, dass in Steine statt Beine investiert werde. Ein Umstand, der ihm den Zorn des Aufsichtsratchefs Dieter Hundt zuzog. Zudem musste Gross mit ansehen, wie der Manager Horst Heldt in der wichtigen Transferperiode zum FC Schalke 04 wechselte. Bobic´ erste Amtshandlungen in Stuttgart waren der Verkauf des VfB-Eigengewächses Sami Khedira und das erfolglose Buhlen um den Hamburger Angreifer und ehemaligen Gross-Schützling Mladen Petric, für den der VfB matte 3,5 Millionen geboten haben soll. Es waren wohl solche Missklänge, die Gross´ Rauswurf beschleunigt haben. Der Zeitpunkt der Entlassung jedenfalls kommt überraschend. Mit einer letzten Chance am Wochenende im Spiel gegen Schalke 04 hatte wohl auch Gross gerechnet.“
Der Fisch stinkt vom Kopf her
Ingo Durstewitz (FR) sieht den Hauptverantwortlichen der Krise nicht im Trainer: „Die Frage muss lauten: Werden die mit bescheidenem Fußballsachverstand gesegneten Herren Staudt und Hundt auch diese Entscheidung ohne größere Schrammen überstehen? Im Umfeld des Vereins formiert sich nämlich Widerstand. Denn, die Floskel sei verziehen, der Fisch stinkt vom Kopf her − und da mieft es beim VfB dolle. Wer drei Trainer in zwei Jahren feuert, dem darf mit einigem Recht Konzept- und Planlosigkeit vorgeworfen werden. Eine Philosophie ist am Neckar nicht zu erkennen. Und nun soll ausgerechnet Jens Keller, ein Novize, Ordnung ins Chaos bringen. Eine undankbare Aufgabe.“
Für Oliver Trust (FAZ) wurde Gross bereits eine Woche zuvor entlassen: „Eigentlich fand die Beurlaubung von Christian Gross schon am Donnerstag vor einer Woche statt. An diesem Tag traute mancher beim VfB Stuttgart seinen Ohren nicht. Gross‘ Äußerungen auf einer turnusmäßigen Pressekonferenz wurden jedenfalls als provokanter Angriff interpretiert, den sich der Verein kaum gefallen lassen würde. Vermutlich hat der 56 Jahre alte Schweizer mit seinen jüngsten Attacken seine Entlassung sogar zu provozieren versucht. Seit Wochen wurde dem früheren Profi nachgesagt, nicht mehr mit voller Überzeugung hinter seinem Job zu stehen. Gross, im Dezember 2009 als Nachfolger von Markus Babbel verpflichtet, stellte mehrfach die Personalpolitik des Klubs in Frage. Gleichzeitig schien er die Bindung zu seinen Spielern zu verlieren. Zudem waren die Spannungen zwischen ihm und dem neuen Manager Fredi Bobic unübersehbar. Kurzum: Gross verscherzte es sich mit allen.“
Warnung an Schalke
Thomas Hummel (SZ) warnt schon mal vorab den kommenden Gegner aus Gelsenkirchen: „Der FC Schalke 04 sollte sich in Acht nehmen. Trainerwechsel beim VfB Stuttgart hatten zuletzt immer die Folge, dass die Mannschaft urplötzlich eine andere war. Mit den gleichen Spielern zwar, aber doch ganz anders. Verzagte, gehemmte, schwunglose Verlierer wurden zu entschlossenen, befreiten, beschwingten Siegern. Am Sonntag spielt Stuttgart in Schalke, und wie zuletzt immer im Herbst, hat der VfB seinen Trainer rausgeschmissen.“
Wie lange bleibt Jens Keller?
Peter Stolterfoht (Stuttgarter Zeitung) macht Interimscoach Jens Keller wenig Hoffnung auf eine Festanstellung als Cheftrainer bei den Schwaben: „Die Entlassung von Christian Gross markiert nun auch überaus deutlich das Ende von Fredi Bobic‘ Einarbeitungsphase und der damit verbundenen Schonfrist. Fortan ist der neue Manager an solchen Entscheidungen zu messen. Bobic muss nun auch auf Jens Keller hoffen. Der Co-Trainer beerbt Christian Gross. Nach einer Dauerlösung sieht aber auch diese Entscheidung zunächst einmal nicht aus.
Aufgerückte Assistenten haben sich beim VfB noch nie besonders lange gehalten – selbst Joachim Löw macht da keine Ausnahme. Mittlerweile steht der Bundestrainer für modernen Fußball, eine junge Mannschaft und langanhaltenden Erfolg. Davon träumen die VfB-Verantwortlichen nur noch, vorausgesetzt, die Abstiegsangst raubt ihnen nicht den Schlaf.“
Kommentare
14 Kommentare zu “Der Nächste, bitte!”
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 12:09
Was auffällt: Noch vor einem Jahr spielte Stuttgart mit den Gómez-Millionen den Großinvestor auf dem Transfermarkt mit kostspieligen Risikotransfers wie Hleb und dem Russen im Sturm, dazu Spieler der oberen Gehaltsklasse wie Kuzmanovic und Molinaro. Vor dieser Saison wurde plötzlich das Kontrastprogramm gefahren, Khedira (vorher auch Hitzlsperger) gingen weg, Ersatz wurde nicht geholt.
Das muss für einen Trainer schwer sein.
Was noch auffällt: Wieder einmal das schreckliche Deutsch der Frankfurter Rundschau, Worte wie „dolle“, abgedroschene Bilder wie der stinkende Fischkopf. Diese Zeitung ist schon seit Jahren auf einem Abstiegsplatz.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 15:32
Gute Beobachtung, Solar-Heinz.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 15:34
Wobei Herr Pogrebnyak ja auch keine 5 Millionen Ablöse gekostet haben dürfte. Das Verhalten des VfB gerade auf dem Transfermarkt scheint wirklich ein wenig komisch zu sein. Grotesk fand ich, dass man nicht einmal gewillt schien, die Ablöse für Rudy komplett in Petric zu reinvestieren, etc.
Mir fehlen da ehrlich gesagt jedoch ein wenig die Einblicke, aber die Aussagen von Stuttgarter Fans im Internet lassen wohl auf viel Unverständnis für die Vereinsführung schließen.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 15:37
Als VfB-Fan (uups) kann ich aber auch sagen: Selten schlagen teure Einkäufe gut ein. Offenbar hat der Verein ein Integrationsproblem.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 15:45
Stellt sich natürlich die Frage, inwiefern das am Trainer liegt. Der wurde ja so oft gewechselt, dass das als Grund fast auszuschließen ist. Haben Sie da eine Idee, Herr Fritsch? Sind Sie übrigens auch wie einige Kollegen der Meinung, dass Fredi Bobic als Manager überfordert wirkt?
Über die Spekulationen von Frau Rutschmann musste ich schmunzeln … würde mich in Teilen der Bundesliga ja nicht verwundern, wenn wirklich mit solch einer Herangehensweise neues Personal eingestellt wird.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 16:18
Über Bobic kann ich nicht viel sagen. Aber immerhin hat es der VfB fertiggebracht, selbst unter Horst Heldt Meister zu werden. So wichtig kann also das Amt Sportdirektor für den sportlichen Erfolg nicht sein.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 17:33
wobei horst heldt nicht die schlechteste arbeit gemacht hat. aber sei es drum.
als vfb-mitglied musste ich gestern nach dem schock kurz überlegen, ob ich die mitgliedschaft aufkündige, habe es noch nicht gemacht. doch laut einiger medien droht nun sammer, was mir diesen schritt leicht machen würde.
zur situation halte ich es ähnlich wie die rundschau: der fußballschaverstand unserer oberen scheint auf einen kleinen radius reduziert, ein mißtrauensvotum bzw. abwahl hielte ich mittlerweile für angebracht.
und jens keller macht drei, vier spiele, dann kommt der richtige trainer.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 18:10
Ich hab mal mit einem ehemaligen VfB-Profi über Horst Heldt gesprochen. Der sah ihn sehr kritisch.
Donnerstag, 14. Oktober 2010 um 23:13
Es wird doch wie jedes Jahr sein:
Der VfB legt eine Negativserie hin, man macht sich schon insgeheim Hoffnungen, dass vielleicht endlich dieses Jahr ein schöner Abstiegskampf bis zum bitteren Ende drin ist – nur damit die Seggl dann in der Rückrunde das Feld von hinten aufrollen und noch in der Europacup kommen …
Freitag, 15. Oktober 2010 um 03:48
Ich freue mich schon auf die Mitgliederversammlung diesen Herbst! Seit unseren „Vorfelder raus!“-Rufen zum Ende der glorreichen Löw-Epoche (ich kriege jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an DFB-Pokalsieg 1997 und Europapokalfinale 1998 denke…) sollte das die heißeste Veranstaltung fuer den Vorstand werden. Das ironische daran ist, dass es dieser Vorstand war, der zigtausend Fans zum Clubeintritt bewegt und damit zur Wahlberechtigung verholfen hat… Wobei eigentlich ist das Problem ja der Aufsichtsrat – dieser Erbsenzähler vom BDA und der schwäbische Möchtegernabramowitsch von der Garmo AG sind Gift für meinen Club!
@OF: ich bitte um deinen Kommentar im direkten freistoss!
Freitag, 15. Oktober 2010 um 12:05
Wenn ein kompetener Trainer wie Christian Gross merkt, dass er mit einem Sportdirektor wie Bobic nicht auf einer Wellenlänge liegt, erscheint es zwangsläufig, dass er sich isoliert und nur noch sich selbst vertraut.
Ihm dann vorzuwerfen, er habe auf niemandem mehr gehört, heißt, Grund und Wirkung zu verdrehen.
Freitag, 15. Oktober 2010 um 12:50
Ich habe kürzlich mit 2 ehemaligen VfB-Profis über Horst gesprochen. Der eine fand ihn großartig, der andere ganz gut.
Wahrscheinlich ist Horst Held gehobener Bundesliga-Durchschnitt.
Freitag, 15. Oktober 2010 um 14:47
Ist das hier ein Wettbewerb: Wer hat mit mehr VfB-Profis über Horst Heldt geredet? Der OF (steht das etwa für Offenbach?!?) mit einem, dann der mirkoci mit zweien – wer meldet sich jetzt bitte, der schon mit drei VfB-Stars über Heldt gesprochen hat?!?
Ist ja toll, was für Beziehungen ihr angeblich habt. Ich habe nur einmal mit dem Vereinsvorsitzenden des FC Königstein geredet, der einmal mit Jan Age Förtoft gesprochen hatte. Oder war es doch nur mit Jan Ages Hund?!? Aber selbst mit diesem Informationsrückstand traue ich mir zu, zu behaupten: Horst Heldt gehört zu den Managern, die von der eigenen Angst, Fehler zu machen, behemmt werden.
Freitag, 15. Oktober 2010 um 16:20
@Hoinz
Wenn Du wissen willst, was OF bedeutet, dann schau mal im Impressum. Kleiner Tipp & wenn wir schon bei Offenbachern sind: nicht „Ohne Ferstand“.