Champions League
Die Leidenschaft einer Legende und ein Signal der Belegschaft
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| Freitag, 5. November 2010Während „Superpippo“ Filippo Inzaghi auch mit 37 Jahren immer noch für Freud und Leid auf dem Spielfeld sorgt, zeigt sich die Mannschaft des FC Bayern unbeeindruckt von den Querelen innerhalb der Vereinsführung
Julius-Müller-Meiningen (Berliner Zeitung) zeigt sich erstaunt über die nimmermüden Qualitäten des alternden Inzaghi: „Trainer Massimiliano Allegri kann sich bisher nur auf das Talent seiner Einzelspieler verlassen. Am Mittwochabend hieß sein Trumpf Filippo Inzaghi, der das Spiel nach Higuaíns Führung in der 45. Minute mit zwei Treffern noch drehte. Inzaghi ist bereits 37 Jahre alt, flitzt aber, wenn man ihn lässt, noch wie ein Jungspund am Rande der Abseitslinie. Allerdings ließ Allegri den Stürmer neun Spiele lang zu Beginn auf der Bank und beorderte ihn nur zu Kurzeinsätzen aufs Feld. Für Inzaghis Leistung gegen Madrid war das anscheinend förderlich. Die meisten der 76000 Tifosi im Giuseppe-Meazza-Stadion forderten schon kurz nach der Halbzeit seinen Einsatz. Als der 37-Jährige nach 60 Minuten für den enttäuschenden Ronaldinho eingewechselt wurde, erhoben sich Zehntausende zum Applaus. Ob es Ironie war, als Mourinho vor dem Hinspiel behauptete, dass er bei Milan nur Inzaghi fürchte?“
Inzaghi schindet, lamentiert und meckert
Für Thomas Kilchenstein (FR) ist der Mann aus Piacenza ein Phänomen: „Seit bald 20 Jahren schießt er in der Serie A unablässig Tore, er war für den AC Parma, Hellas Verona, Atalanta Bergamo, Juventus Turin und seit neun Jahren für die `Rossoneri` am Ball. Und er hört einfach nicht auf. Er ist gefürchtet bei den Gegnern, fast schon verhasst, weil er genau das Gegenteil eines Fußball-Romantikers ist. Inzaghi nutzt jeden Vorteil für sich, er lässt sich theatralisch fallen, er schindet Elfmeter, er lamentiert und meckert, er ist der Schrecken aller Linienrichter, weil er immer hart am Rande des Abseits agiert, oft dahinter. Selten erzielt er Tore aus der Distanz. Aber alle Tore zählen gleich, das abgefälschte so viel wie das Tor des Monats.“
Thomas Hummel (SZ) beschreibt den Mailänder Helden als Torgarant trotz vermeintlicher fußballerischer Inkompetenz: „ Filippo Inzaghi rannte auf den Platz. Ein Symbol des Niedergangs des italienischen Fußballs, 37 Jahre alt, ein Mythos mit tiefen Falten im Gesicht. Ausgerechnet er sollte es mit diesem Real Madrid aufnehmen, dem jungen, rasanten, filigranen, superstarken Real Madrid, das bis zu dieser 60. Minute die Altmeister vom AC Mailandim eigenen Stadion San Siro an die Wand gespielt hatte. Filippo Inzaghi als letzter Pfeil im Köcher von Milan? Lächerlich. Eine Stunde später sangen die Milan-Fans auf dem Nachhauseweg Jubelarien auf ihren `Superpippo`. Ein Stürmer, der weder besonders schnell ist, besonders schussstark noch besonders kopfballstark. Der keinen Trick kennt, mit dem er zwei Gegenspieler ausspielen könnte – und der dennoch Tore, Tore, Tore schießt. Johan Cruyff sagte einst über ihn, er könne eigentlich überhaupt nicht Fußball spielen, sondern sei einfach immer nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Der richtige Ort liegt fast immer im Strafraum, oder grashalmgenau an der Grenze zum Abseits. Und natürlich wissen die Gegenspieler, dass ein zarter Hauch genügt, um Inzaghi zu Boden zu strecken.“
Selten spektakulär, aber stets effektiv
Nach Auffassung von Sebastian Huppertz (rp-Online) trügt der äußerliche Anschein des 37-Jährigen Italieners: „Der schmächtige Angreifer sieht harmlos aus, beherrscht aber alle Tricks und Kniffe beim Zweikampf – die erlaubten ebenso wie die unerlaubten. Ständig auf der Lauer, Gegenspieler und Schiedsrichter stets im Blick – er spekuliert auf deren Fehler – und schlägt dann eiskalt zu. Seine Tore fallen oft aus dem Nichts, für seine Gegner sind sie aber gerade deshalb umso schmerzhafter. Dabei spielt der Routinier selten spektakulär, aber immer äußerst effektiv. Bei Milan-Coach Massimiliano Allegri steht der Stürmer zwar nur noch selten in der Startformation, als Edel-Joker ist er für ihn jedoch weiterhin unverzichtbar.“
Birgit Schönau (SZ) ist begeistert von Inzaghis Einzigartigkeit: „In der 59. Minute erfüllte ein Sturm der Begeisterung das Stadion von San Siro, Applaus hob an und Jubel und Gejohle, als hätte der AC Mailand gerade ein Tor geschossen. Es ging aber nur Ronaldinho vom Platz, und für den Brasilianer kam Filippo Inzaghi. Umjubelt wie der Retter des Vaterlandes, vorgesehen von seinem Trainer Massimiliano Allegri als Deus ex machina – also jene gottähnliche Heldenfigur, die im griechischen Theater auf die Bühne schwebte, um dem übrigen Ensemble auf die Sprünge zu helfen. Inzaghi, der ewige Vampir, sollte auf der Abseitslinie tanzen, um die Überirdischen von Real Madrid zu verwirren, auf dass Milan irgendwie glimpflich davonkäme.“ Eine halbe Stunde später, inklusive zweier Treffer, feiert ihn ganz San Siro: „Der genialste Opportunist der Fußballgeschichte hat mit seinen 70 Treffern im Europapokal soeben Gerd Müller hinter sich gelassen. Von da oben dreht Superpippo den talentierten Milchsternen von Real Madrid eine lange Nase – er, der unverdrossen spielt, wie man heutzutage als Stürmer gar nicht mehr zu spielen hat, nämlich egoistisch, egozentrisch, rücksichtslos nur das Tor im Kopf. Er hat es ihnen allen gezeigt. Vielleicht zum letzten Mal aber es hat sich gelohnt.“
Louis van Gaal ist der Gewinner der Woche bei den Bayern
Peter Ahrens (Spiegel Online) sieht die Position von Louis van Gaal innerhalb des Autoritäten-Zirkels beim Rekordmeister gestärkter denn je: „Für Bayern-Trainer Louis van Gaal war es eine exzellente Woche. Stürmer Mario Gomez stand mit seinen drei Treffern von Cluj im Mittelpunkt des Interesses, der wirkliche Sieger des Abends heißt jedoch Louis van Gaal. Hoeneß und van Gaal scheinen mit ihrem vermeintlichen Konflikt genau das erreicht zu haben,was bezweckt werden sollte. Die Spieler, die bei dem Coach so lange ein Schattendasein führten und die Hoeneß in seiner General-Kritik am Trainer als unterbewertet gelobt hat, haben jetzt die öffentliche Rückendeckung, die sie brauchen, um mit entsprechendem Selbstvertrauen Topleistung auf dem Platz zu bringen. Von Machtkampf war in den vergangenen Tagen viel die Rede, von einem brüchigen Burgfrieden von persönlichen Animositäten zwischen Trainer und Präsident. Wer sah, wie sich van Gaal und Hoeneß beim nächtlichen Bankett im Anschluss an das Cluj-Spiel ihren Rotwein schmecken ließen, konnte auch einen ganz anderen Eindruck gewinnen: Hier haben zwei ausgefuchste Cleverles des internationalen Fußballs die Stimmung an der Säbener Straße einmal kräftig aufgemischt, die Mannschaft wachgemacht. Vor einem Jahr hatte eine ähnlich aufgeregt begleitete Auseinandersetzung zwischen Hoeneß und Philipp Lahm denselben Effekt erbracht.“
Carsten Eberts (Tagesspiegel) zweifelt die Einigkeit unter den Münchenern an: „Es ist eine schwierige Gemengelage, die den FC Bayern gerade umgibt. Sicher, der Sieg in Cluj war ein Triumph für van Gaal, der als Trainer nun den besten Bayern-Saisonstart in der Champions League sein Werk nennen kann. Aber auch Hoeneß sieht sich bestätigt: Wieder waren es die sogenannten Spieler aus der zweiten Reihe – Dreifachtorschütze Mario Gomez, Anatolij Timoschtschuk oder Andreas Ottl –, die zu den besten Akteuren zählten. Von denen glaubt Hoeneß, van Gaal habe sie nicht gefördert. Etwa Gomez, den van Gaal im Sommer an den FC Liverpool veräußert hätte. Am Donnerstag nach der Rückkehr war die Stimmung eine versöhnlichere. Rummenigge konnte die bevorstehende Vertragsverlängerung mit Philipp Lahm bis 2016 verkünden, van Gaal betonte, er habe sich mit Hoeneß noch am Abend ausgesprochen. Van Gaal lachte, wusste aber, dass die Sache noch lange nicht ausgestanden ist.“
Stefan Osterhaus (nzz Online) blickt noch einmal auf den Zeitpunkt der Biografie-Präsentation von van Gaal zurück: „Spätestens in diesem Augenblick wurde deutlich: Die Bayern sind an einen Trainer geraten, der niemals vor der Klubführung buckeln wird.Das birgt Konfliktpotenzial. Hoeness, der bei der Präsentation des Buches noch beschwichtigte, dürfte van Gaals Kritik als Loyalitätsbruch empfunden haben – so wie der Trainer sich nun von Hoeness verraten sieht. Ob die beiden in Zukunft wieder zueinanderfinden, ist fraglich: Die Handreichung in Cluj wurde von Beobachtern als ein Burgfrieden interpretiert.“
Das Signal der Belegschaft an die Bosse
Für Christian Eichler (FAZ) setzt die Mannschaft mit der gezeigten Leistung ein Signal: „Der FC Bayern gilt in Europa als vorbildlich geführter, finanziell solider Klub – nur die Leistungen der Mannschaft entsprachen dem in den letzten Jahren nicht immer. Nun ist es einmal umgekehrt: Zwei Führungskräfte gehen öffentlich aufeinander los, nur die Mannschaft lässt sich vom Niveauverlust nicht beeindrucken. Im Gegenteil, sie zeigt ihre beste Saisonleistung. Das Signal der Belegschaft an die Bosse: Der FC Bayern hat eine Mannschaft, die funktioniert, auch wenn es um sie herum blitzt und donnert – gerade dann. Und eine, die hinter dem Trainer steht, obwohl der nach der öffentlichen Hoeneß-Schelte um seine Autorität bei den Spielern fürchtete.“