Bundesliga
Ein Jahr danach
| Mittwoch, 10. November 2010Vor einem Jahr nahm sich Robert Enke das Leben. Die Presse sucht weitestgehend vergeblich nach der Umsetzung von großangekündigtem Umdenken im Profi-Bereich
Michael Rosentritt (Tagesspiegel) hält ein „outen bei gleichzeitiger Fortsetzung der Karriere“ für undenkbar: „Deislers Outing vor sieben Jahren hatte Bestürzung ausgelöst. Tagelang waren die Zeitungen voll von großen Abhandlungen zum Thema Depression. Deisler stand nach 50 Tagen stationärer Behandlung wieder auf dem Fußballplatz. Die Öffentlichkeit hatte längst andere Themen, die Beschimpfungen und Kränkungen musste Deisler aushalten. Sein Fall hat wenig bewirkt. Wie viele müssen also erst aus dem Leben scheiden? Vor allem der Versuch Zwanzigers, am Grab eines Depressiven gleich noch das Thema der Homosexualität für den Fußball enttabuisieren zu wollen, war naiv. Die medien-gewaltigen Trauertage um Enke haben fast das Gegenteil bewirkt. Zwei oder drei Fußballer haben sich geoutet, aber wie viele sind verschreckt worden? Die aufdringliche Nähe, die Enkes Tod begleitete, möchte niemand haben. Bis heute ist es nicht empfehlenswert, sich zu outen. Es gibt kein tragfähiges Verständnis und keine Akzeptanz für diese Krankheit. Wichtig ist, dass Betroffene sich ihren Nächsten anvertrauen und sich anonym behandeln lassen. Regelmäßige Medikation und begleitende Therapie schützen Betroffene erfolgversprechend vor Neuerkrankungen. Es gibt keine Alternative dazu. Ein Outen bei gleichzeitiger Fortsetzung der Karriere ist unmöglich. Sebastian Deisler hatte den Mut und die Kraft dazu, was ihn vermutlich vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Doch seinen Beruf konnte er nicht mehr ausführen. Deisler hat mit 27 Jahren gekündigt und lebt heute scheu und zurückgezogen.“
Die Gladiatoren müssen weiterkämpfen
Martin Vogt (Focus Online) analysiert den Ist-Zustand im Profisport: „Leistungssport fokussiert sich, zumal in seiner kommerziellen Wertung mit Millionengagen und einem breiten Publikum, auf das rein berufliche Geschehen seiner Protagonisten. Es dient nicht der Seelenöffnung, sondern ist Selbstzweck. Profifußball ist bei höchster Oberflächlichkeit gleichzeitig hochkonzentriert. Wer ins Stadion pilgert, will die modernen Gladiatoren sehen. Ihr Schwert ist der Ball. Nicht umsonst heißen neuere Fußballplätze ‚Arena‘. Persönliche Befindlichkeiten haben auf dem Platz keinen Platz. Daran wird sich im Profibetrieb auch nichts ändern.“
Wolfgang Hettfleisch (FR) beschäftigt sich mit den beruflichen und privaten Folgen nach Robert Enkes Freitod für den damaligen Cheftrainer von Hannover 96, Andreas Bergmann: „Die Tragödie, der Selbstmord von Robert Enke, hat Andreas Bergmann vor persönliche und berufliche Herausforderungen gestellt, die er sich so sicher nicht hatte vorstellen können. Er entschied sich, vor den Profis nicht zu überspielen, wie sehr Enkes Suizid auch ihn beschäftigte, wie ratlos dessen Verzweiflungstat ihn zurückließ. Doch das Bundesliga-Geschäft nimmt keine Rücksicht auf gruppendynamische Prozesse. Rückblickend ist es leicht zu behaupten, es sei dann gekommen, wie es habe kommen müssen. Hannover 96 holte aus den ersten sechs Spielen nach Enkes Tod nur einen Punkt. Die Medien sagten den unvermeidlichen Absturz in die Zweitklassigkeit voraus – ausgelöst vom Enke-Trauma. Als der zuvor lange Zeit sieglose Tabellenletzte Hertha BSC am ersten Spieltag nach der kurzen Winterpause in Hannover mit 3:0 gewann, sahen sich die Verantwortlichen zum Handeln genötigt und beurlaubten Bergmann am 19. Januar. Fünf Monate lang hat der drahtige Mann mit dem dichten grauen Schopf, der seinen Fußballlehrer-Schein zusammen mit Felix Magath erwarb, als Bundesliga-Trainer am großen Rad gedreht. Mag sein, dass die besonderen Umstände Andreas Bergmann eine einmalige Karrierechance gekostet haben, aber das beschäftigt ihn nicht. Jedenfalls nicht mehr.“
So geht man nicht miteinander um
Michael Horeni (FAZ) vermisst „Achtung und Fairness“ in der Profi-Realität: „Zwei Fälle sind beispielhaft dafür, dass sich die Institutionen und die Individuen nicht verändert haben: die Schiedsrichteraffäre und der Kapitänsstreit. Der Verband und sein Präsident ließen im Umgang mit der Affäre um Manfred Amerells angebliche sexuelle Belästigung eines jüngeren Kollegen ihre Sorgfaltspflicht vermissen. Nicht sachliche Aufklärung stand im Mittelpunkt, sondern vorschnelles Urteilen – mit vielen zusätzlichen Verletzungen als Ergebnis. Während der Weltmeisterschaft demonstrierte Philipp Lahm dann die übliche Rücksichtslosigkeit, als er die Verletzung von Michael Ballack ausnutzte, um das geliehene Kapitänsamt weiter für sich zu beanspruchen. So geht man in einem Team nicht miteinander um –- und so etwas lässt man einem Spieler auch nicht durchgehen, wie es Joachim Löw in der Folgezeit getan hat, indem er eine Entscheidung in dieser Frage monatelang verweigerte. Seiner Verantwortung, einen Spieler zu schützen, ist Löw einfach nicht nachgekommen. Der Umgang von Kollege und Vorgesetztem mit dem für einen harten Ton bekannten und auch gefürchteten Kapitän a. D. ist ein Musterbeispiel, wie Achtung und Fairness eben nur im rhetorischen Bedarfsfall, aber nicht in der Profi-Wirklichkeit als Leitlinie dient.“
Thomas Klemm (FAZ) sucht wie viele andere vergeblich nach den angekündigten Veränderungen bezüglich des Miteinanders im Profi-Bereich: „Als vor einem Jahr Theo Zwanziger vor knapp 40.000 Personen bei der Trauerfeier für Robert Enke im Bundesligastadion von Hannover eine bewegende Ansprache hielt, stellte er das Profigeschäft, in dem nur die Stärksten eine Chance haben, die wie moderne Gladiatoren daherkommen, ein Stück weit in Frage. Zwanzigers gut gemeinte Worte rufen bis heute, dem ersten Todestag Robert Enkes, ein zwiespältiges Echo hervor. Die einen sprechen dem Fußball jegliche Reformfähigkeit ab, die anderen meinen in den Vereinen bereits kleine Veränderungen zu bemerken. Wobei letztere Gruppe einen schweren Stand hat, ihre Eindrücke zu belegen: Denn Menschlichkeit ist vielleicht spürbar, aber nicht messbar. In der Breite fehlen Bestätigungen dafür, dass Trainer womöglich rücksichtsvoller mit ihren Spielern umgehen, oder dass Profis ihren Konkurrenzkampf weniger aggressiv austragen. Der Fußballprofi als Mensch und nicht als Titan? In der Öffentlichkeit ist diese Ansicht nicht sehr weit verbreitet.“
Es gibt auch Grund zur Hoffnung
Etwas „Gutes im Schlechten“ entdeckt Tobias Schall (Stuttgarter Zeitung): „Was tatsächlich besser geworden ist, ist der Umgang mit dem Thema Depression. Enkes Tod rückte das Tabuthema in den Fokus. Es wurde aufgeklärt, es wurde thematisiert statt stigmatisiert. Dass ein Leistungssportler an dieser Krankheit litt, zeigte, wie wenig man vor ihr gefeit ist und wie wichtig Aufklärung und Beratung angesichts der gesellschaftlichen Dimension der Krankheit ist. All das hat dem Kampf gegen die Angst vieler Betroffenen geholfen.“
Auch für Tom Vaagt und Thomas Nowag (Financial Times Deutschland) gibt es Anlass zur Hoffnung: „Eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung und dem Umgang mit der Tragödie spielt die Anfang des Jahres von DFB, Ligaverband und Hannover 96 gegründete Robert-Enke-Stiftung. Deren Anfangsvermögen in Höhe von 150.000 Euro hat die Hilfsorganisation inzwischen durch Spenden mehr als versechsfacht. Die emotionsgeladenen Szenen auf und abseits des Fußballplatzes werden wohl kaum verschwinden. Die Liga bleibt laut. Dennoch hat sich seit Enkes Selbstmord einiges bewegt – im Bewusstsein für die Krankheit Depression und auch im Umgang miteinander.“
Illusorische Anliegen
Für Stefan Osterhaus (NZZ Online) waren die meisten Reformanliegen nach der Tragödie unrealistisch: „Etliche Wünsche wurden an den Profifussball herangetragen, allenthalben wurde ihm eine ethische Runderneuerung nahegelegt. Doch die Appelle verhallten nach kurzer Zeit; wer genau hinsieht, wird sich darüber nicht wundern können. Die meisten Anliegen waren illusorisch – denn der Leistungsgedanke ist die Essenz des Profisports, und der ist ein Geschäft, in dem die Empathie natürlicherweise ihre Grenzen findet. Es klang ganz verdächtig danach, als solle dem Sport hier eine Aufgabe aufgetragen werden, um die sich der Rest der Gesellschaft gerne drücken möchte. Doch das Schicksal Robert Enkes ist keines, das prototypisch für den Fussball steht: Es ist ein einmaliger Fall – eine Tragödie, die den Profisport berührte.“
Normalität um jeden Preis
Ralf Wiegand (SZ) zeigt am Beispiel von Savio Nsereko von 1860 München, weshalb es seiner Ansicht nach um „Normalität um jeden Preis“ geht: „Jetzt, ein Jahr später, gibt es nicht nur kein Ergebnis dieser Debatte; es ist sogar verdammt schwer, sich zu erinnern, wann die Debatte aufgehört oder ob sie überhaupt jemals wirklich begonnen hat. Über die Feststellung, dass es Tabus im Profifußball gibt – zu denen übrigens immer Depression und Homosexualität gezählt werden, als seien das verwandte Krankheiten wie Husten und Schnupfen – ging die Beschäftigung mit Enkes Tod innerhalb der Branche nicht hinaus. Im Innenraum des Stadions stehen sich Woche für Woche die Eliten ihrer Klubs gegenüber, jene, die in den Tagen vor den Spielen besser waren als ihre Kollegen. Die anderen werden bestenfalls auf der Bank sitzen und im schlimmsten Fall entlassen. So hat es 1860 München gemacht, als der Spieler Savio Nsereko plötzlich verschwand, spurlos und ohne Abmeldung. Er habe sportlich ohnehin keine Rolle mehr gespielt, hieß es, und als man den jungen Mann, 21, dann endlich persönlich am Telefon hatte, teilte man ihm die fristlose Kündigung mit. Zum Zeitpunkt seiner Entlassung war der Aufenthaltsort von Nsereko noch immer unbekannt. Danach konnte es dem Verein egal sein.“
Kommentare
6 Kommentare zu “Ein Jahr danach”
Freitag, 12. November 2010 um 01:17
Ich kenne Andreas Biermann persönlich, weil er vor vielen Jahren bei uns in Göttingen gespielt hat. Ein sympathischer und guter Fußballer, dem ich natürlich wünsche, dass er doch noch einen Verein findet, wo er spielen kann. Denn das scheint ja doch schwierig zu sein, wie er im Sportstudio berichtete oder auch in der Sendung „Volle Kanne“, ist beides in der Mediathek des ZDF zu sehen:
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/startseite#/suche/andreas%20biermann
Besonders enttäuschend finde ich es, dass so ein Spieler nicht eine Nachfrage von DFB/Herrn Dr. Zwanziger erhält, wo er sich vor einem Jahr dann geoutet hat und versucht, etwas dafür zu tun, dass die Einstellung der „normalen Menschen“ psychischen Kranken gegenüber sich ändert.
Freitag, 12. November 2010 um 09:15
„Persönliche Befindlichkeiten haben auf dem Platz keinen Platz.“
Dann wäre es ja schön wenn persönliche Befindlichkeiten auch neben dem Platz keine Rolle spielen würden. Und auch nicht von außen an die Spieler herangetragen würden. Jemanden lautstark und in großen Schlagzeilen als Versager niederzumachen und dann anschließend seine persönlichen (Frust?-)Reaktionen genüsslich zu sezieren sprechen aber eine andere Sprache.
Aber da hat sich tatsächlich nix geändert.
Freitag, 12. November 2010 um 12:39
Es hat sich wirklich nichts geändert bezüglich des Umgangs miteinander. Das Fussballgeschäft ist knallhart und diejenigen,die gestern noch um Enke getrauert haben, pfeifen morgen wieder Spieler aus,weil sie nicht das bringen,was sie erwarten.
Bestes Beispiel,wie hier genannt: Michael Ballack. Und an dieser Situation hatte auch der Bundestrainer seinen Anteil dran,er hat ihn nicht geschützt,sondern hat seinem Kronprinzen Lahm freien Lauf gelassen.Die Medien taten dann ihren Rest dazu,sodass jemand, der verletzt wurde, aufeinmal als Sündenbock dastand.
IN Hannover (AWD-Arena)9 mon. nach Enkes Tod wurde im selben stadion Michael Ballack,als er verletzt vom Platz humpelte, ausgepfiffen und mit Schmähgesängen der 96-Fans „hinausbegleitet“.
Ich denke, wenn ein Spieler,der depressiv verandlagt ist, so ein Jahr erlebt hat, kann es ihm zum Verhängnis werden.
Freitag, 12. November 2010 um 19:20
In den Foren und an den Stammtischen streiten die Menschen immer noch darüber, ob ein Selbstmörder als Held gefeiert werden und ob nach so einem „feigen Typen, der seine Frau und sein Kind alleingelassen hat“ eine Straße benannt werden darf.
In dem Sinne, ist die Interpretation, die aus dem Selbstmord in der Öffentlichkeit „erarbeitet“ worden ist, nicht in allen Teilen der Bevölkerung angekommen. Ob sie überhaupt angekommen ist, muss in höchstem Maße bezweifelt werden.
In vielen Medien wird behauptet, kein Fussballer habe sich bisher zu seinen Depressionen bekannt. Der Fall Biermann wird schlichtweg ausgeblendet.
Auch der weitere Umgang mit den Persönlichkeiten des Sports ist in den Medien der gleiche. Die peinliche Schau des Herrn Dahlmann in seiner intensiven, den Mindestanforderungen des Journalismus entsprechenden Recherche in der Kontroverse um den Weltmanager Uli Hoeness und den beratungsresistenten Louis van Gaal spricht Bände.
Der Fall Biermann wirft weiterhin ein unfassbar (?) schlechtes Licht auf den DFB. Dem Verteidiger aller Minderheiten, Theo Zwanziger, müssten in Zukunft alle seine Beschützererklärungen für „Schwule, Geisteskranke“ (O-Töne von der Straße;Verzeihung!!!) und wirtschaftlichen Abschaum (Amateurfussballer) um die Ohren gehauen werden. Ein einfacher Fall wie der Biermanns zeigt, dass der DFB in keinster Weise bereit ist, den Worten seines Präsidenten auch Taten folgen zu lassen.
Es wäre ein leichtes für den DFB, den vierfachen Familienvater einerseits ein Grundgehalt von 10 000 Euro/monatlich bei einem Zweit- oder Drittligisten zu garantieren (also im Sinne eines Ausfalls wegen Depression) und den Rest als Leistungsprämie durch den Verein bezahlen lassen. Damit würde er öffentlich zeigen, dass die Spieler kein Risiko eingehen und beschützt werden.
Andererseits dem Mann mit einer Fortbildungsmaßnahme den Weg aus dem Fussball ermöglichen, falls er trotzdem keinen Vertrag mehr bekommt.
(Anbei, das wäre eigentlich eine gute Idee: Eine Art Lebensversicherung, in den alle Spieler einzahlen können, um nach der Karriere alle möglichen Fortbildungsmaßnahmen zu machen…)
Und auf den FC St. Pauli wirft die Geschichte ein ebenso schlechtes Licht.
Soweit. So schade!
Sonntag, 14. November 2010 um 22:32
Anderl, 10.000 Euro Monatsgehalt für Andreas Biermann … Ich glaube, der wäre schon mit 3000 oder 4000 € sehr zufrieden gewesen. Mehr verdienen übrigens 75 Prozent der Drittligaprofis auch nicht. Sagt Dir aus eigener Erfahrung, Jens.
P.S.: Angeblich hat St. Pauli Biermann 1200 Euro geboten – brutto …
Montag, 15. November 2010 um 14:02
@Madder than Jens
Von den Größenordnungen habe ich leider keine wirkliche Ahnung. Zu Zweitligazeiten wird er vielleicht 10 000 verdient haben???
Danke jedenfalls für die Info.
1200 Euro brutto??? Gnadenbrot für einen Alleinstehenden. Vor allem, wenn er vorher Zweitligaprofi mit entsprechendem Gehalt war. Auch ohne 4-fachen Familienvater ist das einfach unglaublich.
Es geht mir ja mehr um die Symbolhandlung. Letztlich macht der DFB einfach nur NICHTS als große Worte.
Fürchterlich.