Am Grünen Tisch
Fifa schickt den Fußball in die Wüste
Kommentare deaktiviert für Fifa schickt den Fußball in die Wüste
| Freitag, 3. Dezember 2010Russland und Katar freuen sich über ihre erste WM-Endrunden-Austragung; die Presse wittert bei der Vergabe einen Bestechungsskandal und zeigt sich äußerst kritisch
Sven Goldmann (Tagesspiegel) spricht vom doppelten Skandal: „Weltmeisterschaften sollen eine Messe des Fußballs sein, Spiegel des Sports und Dank an sein Publikum zugleich. Beide Prinzipien hat die Weltregierung des Fußballs bei der Vergabe der WM-Turniere 2018 und 2022 der Lächerlichkeit preisgegeben. Russland und Katar – da muss man erst mal drauf kommen. Oder war die Fernsehübertragung gestern aus Zürich nur ein Fake, ein genialer Coup der neuen Hacker-Generation, die ein manipuliertes Filmchen mit einem gut gemachten Sepp-Blatter-Double am virtuellen Mikrofon ins weltweite Fernsehnetz gespeist hat? Immerhin, diese Hoffnung bleibt. Gewiss: Osteuropa war mal an der Reihe. Aber dass die russische Bewerbung eine unzulängliche war, verbunden mit unsinnigen Stadionneubauten und unsäglichen Reisestrapazen für Spieler und Fans, das hatte sogar die Fifa erkannt, oder vielmehr ihre Technische Kommission, die das Gesuch aus dem Hause Abramowitsch unter vier europäischen Kandidaten auf Rang vier platziert hatte. Es gab jede Menge Gründe für England und Spanien/Portugal, ein paar auch für die Belgier und Holländer. Aber nur einen einzigen für Russland, und der betrifft nur die abstimmenden Mitglieder der Fifa-Exekutive und ihre Bankkonten. Der Skandal um die Weltmeisterschaft in acht Jahren in Russland wird in den kommenden Wochen eine untergeordnete Rolle spielen, was weniger am Skandal an sich liegt, sondern an der ungleich größeren Dimension des Unrechts bei der Bakschisch-finanzierten Vergabe der WM 2022 in Katar. Russland wird erst durch Katar zur Farce und die Farce erst so zur systemimmanenten Logik. In der Wüste gibt es keine Fußball-Tradition, keine Fans, wahrscheinlich nicht mal einen Ball. Es gibt nur Sand und Geld, beides reichlich, und man darf wohl davon ausgehen, dass der Sand die Fifa-Exekutive nicht besonders interessiert hat.“
Blatter als kluger Dirigent im Mittelpunkt
Andreas Rüttenauer (taz) betrachtete Blatters Auftritt kritisch: „Er suhlte sich in der Bedeutung, die dem Fußball zugewiesen wurde. Regierungschefs, Minister, der aktuelle und ein ehemaliger US-Präsident; sie alle vermittelten den Eindruck, ohne Fußball sei sozialer Fortschritt, sei Frieden auf der Welt nicht zu erreichen. In der Tat, es war ein großer Tag nicht nur für Russland und Katar, es war ein großer Tag für die Fifa.“
Thomas Kistner und Christof Kneer (sueddeutsche.de) stellen Blatter ein taktisch gutes Zeugnis aus: „Wie sehr diese Familie auf sein Kommando hört, wurde selten so deutlich wie am Donnerstag in der Züricher Messehalle. Für Blatter war die Veranstaltung eine Flucht nach vorne: Mal wieder von diversen Affären belastet, ist ihm nach innen ein bemerkenswerter Befreiungsschlag gelungen. Mit der Kür Russlands sicherte er sich ein üppiges Stimmenpaket, das er dringend braucht, wenn er sich im Mai 2011 zur Wiederwahl stellt. Knapp zwei Dutzend Voten aus Osteuropa und den ehemaligen Sowjetrepubliken könnte ihm Putins legendärer Einfluss auf die Sportwelt bescheren. Mit der Kür Katars indes holt Blatter seinen ärgsten Rivalen zurück ins eigene Boot: Asiens Präsident Mohammed Bin Hammam, ein Geschäftsmann aus Doha, wollte unlängst sogar noch gegen Blatter kandidieren. Nun wird er die WM 2022 zu schätzen wissen.“
Stefan Frommann (Welt Online) befasst sich mit der Zettel-Mystik und berichtet von originellen Ideen: „Es war ein bizarrer Augenblick, als Fifa-Präsident Josef Blatter den Zettel aus dem Umschlag nahm und verlas, dass Katar die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 bekommen wird. Solche kleinen Zettel haben für uns Deutsche eine große Bedeutung. Günter Schabowski, der Geschichte schrieb, ohne es zu wollen, hatte einen noch berühmteren Zettel als Jens Lehmann, bevor er Argentinien aus der WM hechtete. Der Zettel, den Josef Blatter da in der Hand hielt, hatte großen Symbolcharakter. Die Welt des Fußballs bleibt wie sie ist: Käuflich. Die Fifa gehört zu den Non-Profit-Organisationen und unterliegt damit nicht dem Korruptionsgesetz. Das ist mindestens so witzig wie einige gut gemeinte Ideen, die am Donnerstag präsentiert wurden: Spanien und Portugal etwa versprachen, für jedes erzielte WM-Tor 1000 Bäume zu pflanzen. Japan wollte seine Spiele in 400 Arenen live in 3 D übertragen. Die Niederlande und Belgien hätten Fans zwei Millionen Fahrräder bereit gestellt. Nichts gegen das, was 2022 in Katar passieren wird, dem Gas- und Ölparadies, kleiner als Hessen, mit seinen 1,01 Millionen Einwohnern. Man muss an dieser Stelle einräumen, dass die Präsentation die beste war, emotional, versöhnlich – vor allem gegenüber Israel – und spektakulär. Neun, der zwölf Stadien werden nach der WM zum Beispiel wieder zerlegt und die Materialien zum Bau von 22 Arenen an Entwicklungsländer verschenkt. Katar verspricht auf konstant 27 Grad gekühlte Stadien, Solarbetrieben und CO²-frei natürlich.“
Wie übersteht der Fußball diese Zerreißprobe?
Jörg Hahn (FAZ.net) befindet die FIFA-Strukturen nicht mehr als zeitgemäß: „Nicht bloß das Wahlverfahren, das höchst umstrittene Gewinner hervorbrachte, muss dringend reformiert werden. Aber eine entscheidende Schwachstelle war, dass nur ein kleiner – nach zwei Disziplinarstrafen gegen augenscheinlich korrupte Mitglieder noch reduzierter – Kreis von gerade 22 Männern der Fifa-Exekutive abgestimmt hat. Im Internationalen Olympischen Komitee wählt immerhin die Vollversammlung mit über hundert Mitgliedern die Olympia-Städte. Zudem kamen acht der Fußball-Granden aus Bewerberländern, im IOC hätten sie ihr Stimmrecht nicht ausüben dürfen. Ein Milliardenunternehmen wie einen kleinen Sportverein ehrenamtlich steuern zu wollen, ist längst nicht mehr zeitgemäß.“
Bei der Financial Times Deutschland ist die Rede vom Schaden für den Fußball: „Die Funktionäre haben einen Punkt erreicht, an dem sie ihrem Kernprodukt schaden. Da ist zum einen die Ignoranz, mit der die Fifa-Oberen über den Bestechungsskandal in ihren eigenen Reihen hinweggehen. Berechtigte Forderungen, die WM-Vergabe zu verschieben, bis die Vorwürfe geklärt sind, schob der Verband beiseite. Und dann wählte er ausgerechnet zwei Länder, die nicht gerade für ihre Rechtsstaatlichkeit berühmt sind.
Selbst wenn man die – erwiesenermaßen wenig absurde – Möglichkeit der persönlichen Vorteilsnahme außer Acht lässt, entsteht der Eindruck, dass hier sportliche Großereignisse nach anderen als organisatorischen Kriterien vergeben werden. Im besten Fall waren es politische Gründe, die die Funktionäre zu ihrem Beschluss bewogen – etwa das Argument, die WM mal an ein osteuropäisches Land zu vergeben. Im schlechtesten Fall aber sucht die Fifa die Staaten aus, von denen sie am wenigsten Kritik an ihrem intransparenten Gebaren und den geringsten Widerstand gegen ihre fast diktatorischen Vertragsbedingungen erwartet. In jedem Fall riskiert die Fifa, dass ihre Stammkunden – die Fans in Europa und Südamerika – das Theater irgendwann satt haben und sich von solchen Turnieren abwenden. Nur mit Scheichs und Funktionären lassen sich Stadien aber nicht füllen.“
Tobias Schall (Stuttgarter Zeitung) blickt derweil melancholisch in die Zukunft: „Der Sport ist überfordert mit dem Problem Korruption – zumindest, wenn man unterstellt, dass es in den mächtigen Organisationen wie dem IOC oder der Fifa überhaupt ein gesteigertes Interesse daran gibt, diesen Sumpf trockenzulegen. Entsprechende Ethikkommissionen mögen zwar nett gemeint sein, sie sind aber nicht das dringend erforderliche Korrektiv – sondern nur ein Placebo für die Öffentlichkeit. Der Wille, tatsächlich effektiv gegen Korruption vorzugehen, ist nicht groß genug. Die obersten Funktionäre verbitten sich seit Jahren Eingriffe von außen. Sie berufen sich auf die Autonomie des Sports und sprechen davon, die Probleme in der Sportfamilie zu lösen. Das System überwacht sich so seit Jahrzehnten selbst, mit der unweigerlich damit verbundenen Intransparenz der Vorgänge und Strukturen. Das ist der perfekte Nährboden für Bestechlichkeit. Wenn aber der Eindruck haften bleibt, dass Stimmen verschachert werden, verkauft man nicht nur sich, sondern auch die Ideale. Der Sport hat Besseres verdient als korrupte Funktionäre.“
England ist der Verlierer
Owen Gibson (Guardian) bilanziert das Desaster für England: „Dabei hatte der sympathische Andy Anson, Englands Botschafter für die WM 2018, noch ausdrücklich versichert, dass sie nicht naiv wären, sondern wüssten, was alles in dieser Welt passiere, als sie ihr zweijähriges Projekt erstellten und zielgerichtet um einzelne Stimmen bei den FIFA-Mitgliedern warben. Millionen Pfund und tausende Stunden im Flieger wendete man auf, um die 24 Männer (aus denen 22 wurden), die das Schicksal Englands in ihren Händen hielten, zu überzeugen. Unter dem Strich kam eine winzige Stimme dabei heraus. Was lief falsch? Alles.“
Nicht die bessere Präsentation der Engländer habe gewonnen, sondern die klügere der Russen, résumiert Wolfgang Hettfleisch (FR): „Es war ein gelungener Auftritt dank Fußballstar Andrei Arschawin, der unverkrampft erzählte, wie ihn der Sport in seiner Jugend in St. Petersburg einst auf den rechten Weg geführt habe. Und dank Stabhochsprung-Primadonna Jelena Isinbajewa, die sich als Fußballfan bekannte und der Männerriege der Fifa-Bosse ausgerechnet für die Förderung des Frauenfußballs dankte. Und dort, neben und hinter der großen Bühne, haben sich die Herrschaften aus Russland offensichtlich am geschicktesten angestellt. Das wird in England unweigerlich aufs Neue die Debatte anfachen, ob britische Medienberichte über korrupte Fifa-Spitzenfunktionäre der eigenen Bewerbung den tödlichen Schlag versetzten.“
Der Fußball erschließt einen neuen Markt
Roland Zorn (FAZ.net) traut Russland die Ausrichtung der WM zu: „Neues Russland, neues Geld, neuer Markt, neue Chancen: Die Vergabe der WM 2018 ist auch ein Tribut an ein Riesenland, das inzwischen weit entfernt vom Kommunismus vergangener Tage und doch noch lange nicht in der demokratischen Staatengemeinschaft angekommen ist. Am Rubel wird die Inszenierung einer WM nicht scheitern, für die 13 der 16 geplanten Stadien noch gebaut oder komplett umgebaut werden müssen. Mit dem zweiten sportlichen Großprojekt nach den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi könnte sich Russland der Welt weiter zuwenden. Die jetzt noch evidenten Transportprobleme (Flughäfen, Bahn) sollten bis 2018 behoben sein.“ In Quatar werde es 2022 vermutlich heiß zugehen, auch wenn man die WM-Arenen, die WM-Trainingsplätze und die Fanzonen klimatisieren wolle. „Am Geld dazu fehlt es nicht, wohl aber am Glauben, dass ein kleines Land wie Qatar sich in eine einzige Kühlbox verwandeln und ein Riesensportereignis wie eine WM stemmen kann.“
Stephan Ramming (NZZ) hält all der Kritik aber auch den Mut der getroffenen Entscheidung entgegen: „Die Wahl des 22-köpfigen Exekutivkomitees für die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaften überrascht vor allem mit Katar. Aber sie zeigt auch, dass die oberste Fußballbehörde das Wagnis eingeht, in acht und in zwölf Jahren ihr Premium-Produkt in jungen Fußball-Märkten zu placieren, und nicht bewährte Sportveranstalter wie England, Australien, Spanien oder die USA berücksichtigen will. Fußball ist kein Spiel, das Völker verbindet oder Fairplay lehrt. Fußball ist ein Produkt, das sich mit Geld überall inszenieren lässt. In der Wüste, auf dem Mond, im Cyberspace. Der Fußball soll auch in Zukunft seinen globalen Eroberungszug als größte, milliardenschwere Sportveranstaltung neben den Olympischen Spielen fortsetzen – und zwar in Regionen, die noch als weitgehend weiße Flecken auf der Landkarte des Fußballs gelten. Das gilt für Russland in dem Sinne, als das riesige Land ein großes Marktpotenzial bietet; und das trifft insbesondere auf Katar zu, wo es unendlich viel Geld und Wüstensand, aber keinen Fußball gibt. Und auch nie geben wird, außer während der vier heißen Wochen im Sommer 2022.“