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Ball und Buchstabe

Schmerzhafter Befreiungsschlag

Matthias Nedoklan | Mittwoch, 24. August 2011 Kommentare deaktiviert für Schmerzhafter Befreiungsschlag

Fußball als Fixpunkt auf dem schwierigen Weg von Kindheit in das Erwachsenenleben – ein Motiv, das zahllose Regale füllt. Und alle Bücher dieses Genres müssen sich mit der Referenz messen: Fever Pitch von Nick Hornby – meist nicht zu ihrem Vorteil. Auch Jürgen Bertrams Werk „Torschrei“ muss sich dem Vergleich stellen.


Der Vergleich mit Äpfel und Birnen hinkt, Torschrei ist ein ganz anderes Buch als Fever Pitch. Während des Hornby-Klassikers hat wohl jeder Leser herzhaft gelacht, sich an solche oder ähnliche Situationen aus dem eigenen Leben erinnert. Man darf nur hoffen, dass es dem Leser bei Torschrei nicht ähnlich geht.

Denn die Jugend von Jürgen Bertram gleicht einem Albtraum:  Im konservativen Goslar, die Mutter depressiv, der Vater ein cholerischer Alt-Nazi. Es hagelt Prügel auf den kleinen Jürgen, der  nicht nur deswegen schon in jungen Jahren ein kleines Alkohol- und Autoritätsproblem bekommt.

Hitler-Grüße vom „schönen Erich“

Die gewaltigste Strafe, die der jähzornige Vater dem Sohn je erteilt, ist gleichzeitig das Leitmotiv des Buches: absolutes Fußballverbot. Und anders als die Hitler-Grüße vom „schönen Erich“ und „dicken Otto“, die Schikanen der Stiefmutter oder die spießig-starre Gesellschaftsordnung Goslars, kann er diese Strafe nicht ertragen. Auf keinen Fall. Und weil der junge Jürgen Bertram zu große Angst hat, bei einem Heimspiel entdeckt zu werden, wird Bertram zum pubertären Allesfahrer.

Ein, zwei Vergewaltigungen später wird klar: Das Buch ist nicht lustig, es macht keinen Spaß zu lesen. Gut ist es trotzdem. Bertram zeichnet ein bedrückendes Sittenbild der deutschen Kleinstädte. Erschreckend, authentisch, brutal, schmerzhaft direkt. Man merkt, und liest auch, das Torschrei vorallem ein Befreiungsschrei ist. Bertram muss etwas loswerden, was ihm sein ganzes Leben auf der Seele lag. Dass der Spiegel-, dpa-, und NDR-Journalist dabei überragendes schriftstellerisches Talent beweist, ist klar. Lediglich die etwas zu gestelzte Naivität des jugendlichen Erzähler-Ichs ist manchmal etwas anstrengend. Jammern auf höchstem Niveau.

Motive der 68er werden deutlich

Für mich, als jemand der mit den 68er Protesten gegen Alles und Jeden  nur wenig anfangen kann, ein ungleich wichtiges Buch. Es zeigt, warum es diese Generation von jungen Leuten brauchte, warum ganze Jahrgänge mit allen verfügbaren Mitteln rebellierten, randalierten und versuchten das Land und die Welt zu verändern.

Einzig einen Vorwurf muss sich das dramatische und stellenweise erschütternd ehrliche „Torschrei“ jedoch gefallen lassen. Das Buch hätte auch sehr gut ohne jeglichen Fußballbezug funktioniert. Die Referenz zum SV Goslar 08, zu Schalke 04, zur Nationalmannschaft wirken ein wenig gezwungen, sie sind überhaupt nicht nötig um die Stärken dieses Buches zu fassen. Vielmehr könnten sie dazu führen, dass das Buch in so mancher Buchhandlung in der Schmuddelecke Sport landet und es dadurch so manchem Leser entziehen.

Jürgen Bertram: Torschrei: Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen, Osburg, 255 Seiten.

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