EM 2012
Profitieren oder protestieren?
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| Mittwoch, 6. Juni 2012Während die deutsche Presse verstärkt Aspekte der Sicherheit vor Ort thematisiert, bleibt international die Frage nach einem Boykott der EM virulent.
Ingo Blazejewski (WAZ) besucht das “Team Deutschland” bei der Zentralen Informationsstelle für Sporteinsätze in Duisburg: “Das Team ist sozusagen die Nationalmannschaft der szenekundigen Beamten für die Fußball-Nationalmannschaft” und bei der EM in Polen und der Ukraine präsent.” Sie “sollen die Behörden vor Ort unterstützen, beraten und auch über die deutsche Fankultur aufklären, damit Rituale nicht falsch verstanden werden.” Und damit “die schlimmsten Chaoten dort erst gar nicht auftauchen, hindert die Polizei 100 Problemfans an der Ausreise. Weitere 1000 haben die Beamten im Vorfeld zu Hause oder am Arbeitsplatz besucht und eine freundliche Warnung hinterlassen”.
Rafael Buschmann (SpOn) prognostiziert im Hinblick auf befürchtete Ausschreitungen mit polnischen Hooligans “Frieden im Stadion, Gewalt auf dem Land”. Denn um “größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten, werden die Ordnungshüter während der EM vom Militär unterstützt und zahlreiche private Security-Kräfte eingesetzt. Derartig umfangreiche Sicherheitskonzepte haben bei den vergangenen Turnieren dazu geführt, dass große Randale eher der Vergangenheit angehören.” In diesem Zusammenhang erinnert der Autor an die Fußball-Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, bei der ein Polizist lebensgefährlich verletzt wurde. „Seitdem wurden Hooligans kaum mehr gesehen – zumindest nicht dort, wo es Fernsehkameras gab.”
Unter dem Titel “Auch die Nato ist beim EM-Eröffnungsspiel in Warschau dabei” berichtet Matthias Monroy (Telepolis) ausführlich über die von Polen beantragte Aussetzung des Schengen-Abkommens. “Demnach wird die verstärkte Grenzüberwachung bereits vier Tage vor dem Eröffnungsspiel begonnen: Die Maßnahme erstreckt sich vom 4. Juni bis zum 1. Juli. Damit reizt Polen die maximale Dauer der entsprechenden Sonderregelung aus.” Ein weiterer Baustein dieser internationalen Sicherheitsarchitektur ist die weitreichende Kooperation der Sicherheitsbehörden auch über den EU-Raum hinaus in die Ukraine. Neben dem grenzüberschreitenden Einsatz von Polizeikräften ist der Austausch sensibler Daten vereinbart. ”Besondere Unterstützung dürfen die Polizisten aber aus der Luft erwarten: Polen hat die Nato angefragt, bei der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit auszuhelfen. Dem Wunsch könnte mit der Überlassung von ‚AWACS‘-Aufklärungsflugzeugen entsprochen werden.”
Die Boykott-Diskussionen gehen weiter
Jacques Ardoino, Jean-Marie Brohm und Fabien Ollier (Le Monde) rufen den gerade gewählten französischen Präsidenten François Hollande zu einer verschärften Gangart gegenüber der Uefa auf: “Er muss von Michel Platini fordern, die Abhaltung von Eröffnungsfeierlichkeiten und den Beginn des Turniers von der Freilassung Julija Timoschenkos abhängig zu machen.” Die drei Intellektuellen sehen aber auch die Sportler selbst in der Pflicht: “Die Fußballer sollten nicht dulden, dass eine eklatante Ungerechtigkeit Europa beschämt. Sie haben die Qual der Wahl, um ihr Bekenntnis zu den Grundsätzen der demokratischen Solidarität zu zeigen: Sie können sich kollektiv weigern am Wettbewerb teilzunehmen, Petitionen an die ukrainischen Behörden richten, offizielle Zeremonien boykottieren oder öffentlich ihre Missbilligung demonstrieren.”
James Meek (London Review of Books) diskutiert die unterschiedlichen Einstellungen deutscher und britischer Politiker zu einem politischen Boykott von EM-Begegnungen in der Ukraine: Angela “Merkel hat den Protest gegen die ukrainische Regierung wegen der Behandlung von Julija Timoschenko, die aufgrund einer absurder Anklage zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, nicht von Anfang an angeführt. Vielmehr behaupten zynische Stimmen in Deutschland, dass die Beteiligung der Kanzlerin an der Kampagne für eine medizinische Behandlung von Timoschenko im Ausland ein Versuch ist, ihr verblassendes Profil in Sachen ‘Menschenrechte’ wieder zu schärfen.” Im Hinblick auf die Haltung im Mutterland des Fußballs mutmaßt Meek: “Ein Grund, warum diese Angelegenheit in Großbritannien nicht deutlicher auf dem Radarschirm ist, könnten die Erwartungen an das Abschneiden des englischen Teams sein: Sie sind so niedrig, dass gemeinhin nicht erwartet wird, dass es über die Vorrunde hinaus kommt.”
“Politisch wäre es für die Regierung fast schon am angenehmsten, wenn das deutsche Team früh ausscheidet”, erläutern Thomas Steinmann, Claudia Kade und Maike Rademaker (FTD) im Hinblick auf Angela Merkel: “Im Kanzleramt heißt es nun, die Regierungschefin habe keine Reisepläne für das Turnier. Zugleich wird aber Wert auf die Feststellung gelegt, dass es sich dabei nicht um einen Boykott handele.” Fußballfan Merkel fehle einfach die Zeit.
Ukraine: Profitieren, protestieren oder resignieren?
Konrad Schuller (FAZ) titelt “Der Gewinner steht fest” und meint damit diejenigen, die in der Ukraine deutlich sichtbar vom Wettbewerb profitieren. “Auf den Kipplastern und Baggern der Baustellen drängt sich immer wieder der Schriftzug ‘Altkom’ ins Bild – der Name eines geheimnisvollen Firmenkonglomerats, das bei der Vorbereitung zur Europameisterschaft wie kein anderes mit Aufträgen bedient worden ist und einen gewaltigen Teil der 10,2 Milliarden Euro auf seine Konten leiten konnte, welche in der Ukraine nach einer Rechnung der Raiffeisenbank für das Turnier ausgegeben worden sind. Natürlich ist Altkom dort beheimatet, wo Präsident Janukowitsch und sein Clan ihre Wurzeln haben: im Gebiet Donezk.”
Vor diesem Hintergrund sieht Tobias Schall (Stuttgarter Zeitung) die EM vor allem in der Ukraine als “Cup der Guten Hoffnung” für die Opposition: “Ein vielstimmiger Chor singt ein Konzert des Klagens. Es ist ein Weckruf, ein Hilfeschrei. Ob Tierschützer, Homosexuelle oder Prostituierte – sie alle eint, dass sie in der EM einen Katalysator für ihre Interessen sehen: die Mutbürger aus dem Osten.”
Ganz anders erlebt der ukrainische Autor Serhij Zhadan (SZ) die Situation: Der “Fußball, mit dem alles begann, ist zu einer Kulisse geworden, vor der sich die Probleme dieses Landes abspielen. Wir hatten gehofft, dass die EM unser gemeinsamer Sieg sein würde, ein Sieg nicht nur im Fußball. Heute haben viele von uns diese Hoffnung verloren, sie ist versunken in einem Meer von Lügen und Enttäuschung.”