EM 2012
Herausforderungen abseits des Rasens
| Freitag, 8. Juni 2012Die Presse beschäftigt sich kurz vor Turnierbeginn mit Geschehnissen außerhalb des Grüns. Im Fokus: Der Auftritt von Delegationen in Auschwitz und der Besuch der Kanzlerin im Spielerhotel. Derweil bestätigt die britische Regierung ihren Boykott von EM-Begegnungen und auch die beiden Ausrichter sind sich nicht grün.
Nach dem von Dieter Graumann, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, kritisierten Auftritt der deutschen Delegation in Auschwitz, steht für die Mannen von Jogi Löw am kommenden Mittwoch ein nächster schwerer Gang an. Michael Horeni (FAZ) klärt auf: „die Diskussionen zeigen, dass die gesellschaftliche Verantwortung, die der DFB und die Nationalelf seit Jahren übernommen haben, bei dieser EM zu einer Herausforderung geworden ist, wie sie Spieler und Verbandsführung dieser Generation bisher nicht kannten. Auch die Frage des Umgangs der ukrainischen Regierung mit den Menschenrechten wird für die deutsche Delegation spätestens in einer Woche wieder auf der sportpolitischen Agenda auftauchen, beim Spiel gegen die Niederlande in Charkiw – der Stadt, in der Julija Timoschenko im Gefängnis sitzt. Das gesellschaftliche Spielfeld, auf dem sich der deutsche Fußball bewegt, ist so groß wie nie zuvor.“
Italienische und niederländische Mannschaft besuchen KZ-Gedenkstätte
Nachdem der DFB mit drei Spielern nach Auschwitz reiste, hatten die Teams aus Italien und den Niederlanden jeweils alle Spieler versammelt. Obwohl sich die Niederländer dabei nicht von der Presse begleiten ließen, titelt De Volkskrant “Oranje sichtbar unter dem Eindruck von Auschwitz”. Die Zeitung stützt ihre Einschätzung vor allem auf via Twitter verbreitete Nachrichten der Spieler: “’Das dürfen wir niemals vergessen’, twitterte Heitinga. ‘Bin gerade in Auschwitz’, twitterte Ron Vlaar. ‘Keine Worte können diesen Eindruck beschreiben. Das dürfen wir niemals vergessen.’ Der Spieler von Feyenoord Rotterdam twitterte auch ein Foto. ‚Hier das death gate, wo die Züge ankamen. Wirklich nicht zu begreifen.’ Und Khalid Boulahrouz: ‘Auschwitz, habe keine Worte um es zu beschreiben.’”
Zu den Spielern der italienischen Mannschaft, die die KZ-Gedenkstätte besuchten, gehört auch Mario Balotelli. Dieser steht im Mittelpunkt einer Diskussion um potenzielle rassistische Provokationen bei der EM. Rob Hughes schreibt für das Goal Blog der New York Times “Balotelli, Sohn ghanaischer Eltern, der bei Pflegeeltern in Italien aufwuchs, hat gesagt, sollte er Beleidigungen über die Farbe seiner Haut hören, dann wird er das Feld direkt verlassen. Am Vorabend des Turniers, warnte Uefa-Präsident Michel Platini aber, dass einem Spieler, der das Feld verlässt, die gelbe Karte gezeigt werden würde.” Vor dem Hintergrund dieses Dilemmas konstatiert der Autor: “Europa hat einen langen Weg von den Konzentrationslagern bis heute zurückgelegt, aber Intoleranz bleibt auf dem Sportplatz beunruhigend präsent.”
Boykott und Besuch
Derweil hat auch die britische Regierung bestätigt, dass sie den Begegnungen des englischen Teams zunächst fernbleibt. Luke Harding (Guardian) bilanziert: “Das politische Debakel ist eine riesige Blamage für die Uefa. Der europäische Fußballverband hatte gehofft, dass die Ausdehnung des Turniers nach Osten den Fortschritt einer nach dem Zusammenbruch des Kommunismus unabhängigen Ukraine demonstrieren würde. Stattdessen wird es nun immer wahrscheinlicher, dass Janukowitsch alleine in der VIP-Loge sitzen wird, während David Cameron und andere europäische Politiker ihn meiden.”
Angela Merkel hat ihren Besuch bereits in Danzig absolviert. Kurz vor Turnierbeginn lässt es sich die Kanzlerin nicht nehmen den deutschen Spielern vor Ort ihren Segen zu erteilen. Philipp Selldorf (SZ) erklärt die Hintergründe: „Angela Merkel wertet durch ihre bedeutsame Gegenwart das Prestige der Fußballmannschaft auf, die Spieler verhelfen ihrerseits der Kanzlerin zu einer Popularität und Volksnähe, die sie aus der Nähe zum englischen Premierminister oder zum französischen Staatspräsidenten nicht gewinnen kann. Es ist ein Schauspiel. Werbung und Marketing, wovon beide Seiten profitieren.“
Polen vs. Ukraine
Nur noch wenige Stunden bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels in Warschau. Doch in Polen wird noch an vielen Ecken gehämmert, gespachtelt und gewerkelt. Paul Flückiger und Saara Wendisch (Tagesspiegel) treffen auf verärgerte Einheimische: „Viele Polen klagen über die Euro 2012, vor allem wegen des Zustands des Straßen- und Schienennetzes. Beim Anflug auf die polnische Hauptstadt ist der braune Erdring um die halbe Stadt deutlich zu sehen, genauso wie die versprochene Autobahn A 2 nach Berlin aus der Vogelperspektive nur selten asphaltschwarz aufscheint. Von den insgesamt versprochenen 900 Kilometern Autobahn- und 2100 Kilometern Expressstraßen sind nach Expertenangaben höchstens 40 Prozent fertig geworden.“
Benjamin Steffen (NZZ Online) nimmt westeuropäischen Kritikern den Wind aus den Segeln. Auch in der Ukraine gäbe es blauen Himmel: „Kein Kritikpunkt mag völlig falsch sein, von den politischen Problemen ganz zu schweigen. Aber ebenso wenig ist in der Ukraine alles schlecht. So drohen die aufgemotzten oder aus dem Boden gestampften Stadien in Kiew, Donezk und Charkiw in der Post-Euro-Ära nicht zu fast ungenutzten Fussball-Ruinen zu verkommen, weil in diesen Städten die Spitzenklubs des Landes zu Hause sind – ein eklatanter Unterschied zu Südkorea (WM 2002), Portugal (Euro 2004) oder Südafrika (WM 2010).“
Aber das Miteinander beider Ausrichter-Länder lässt nach Ansicht vieler Experten zu wünschen übrig. Claudio Catuogno (SZ) zuckt ratlos mit den Schultern: „Wie soll ein Ereignis die Europäer einander näherbringen, das schon seine Ausrichter mehr entzweit hat als geeint? Beim EU- Mitglied Polen tut man inzwischen, als fände weiter östlich eher zufällig noch eine zweite EM statt, mit der man aber nichts zu tun hat.“
Spätestens seit dem mittlerweile verstorbenen Kraken Paul kommt kein Turnier mehr ohne tierisches Orakel aus. Kerstin Dembsky (taz) schmunzelt über die Bayern 3-Version: „Das neue EM-Orakel heißt Yvonne und ist eine Kuh. Weil die Wiederkäuerin eigentlich weniger auf Sport als vielmehr auf gutes Essen steht, wird sie sich für ihren Orakelspruch auch ganz auf ihre Mägen verlassen. Vor den Spielen werden ihr zwei Eimer mit Kraftfutter serviert, die jeweils mit der Nationalflagge der gegeneinander antretenden Länder gekennzeichnet sind. Der Fressnapf, über den sich Yvonne zuerst hermacht, bestimmt den Sieger des Matchs.“
Europäische Spezialitäten
Auch beim morgigen Gegner der deutschen Mannschaft wird abseits des Grüns einiges geboten: In Bezug auf Äußerungen durch Manuel José der portugiesischen Presse gegenüber, um seine Nationalmannschaft werde ein „Zirkus“ montiert, berichtet der ehemalige Nationaltrainer Carlos Queiroz von „absurden und oft lächerlichen Versuchungen“. Bruno Roseiro (Expresso) gegenüber berichtet er von dem Vorschlag, 22 Spieler zu benennen und den 23. Spieler per Telefon-Voting durch die Bevölkerung bestimmen zu lassen.
Die Belgier gucken diesmal nur zu. Das ändert aber nichts an der grundlegenden Begeisterung für das Turnier, und so bieten 15.000 belgische Fans ihre Anfeuerungsdienste via Ebay an. Barbara Schäder (Financial Times Deutschland) animiert zum Mitbieten: „Ein attraktives Angebot, denn die Begabung der Belgier für fremde Nationalhymnen ist berühmt: 2007 schmetterte der designierte Ministerpräsident Yves Leterme im TV die französische Marseillaise – fehlerfrei. Ärgerlich nur: Das Fernsehteam hatte den Flamen nach der frankofonen Fassung der belgischen Nationalhymne gefragt. Die Verwechslung kam im französischsprachigen Teil Belgiens schlecht an.“
Kreativität versus standardisierten Hochglanz: In der Schweiz sagt das „Tschuttiheftli“ den Panini-Machern den Kampf an. Roger Stilz (Spiegel Online) blättert fleißig mit: „Die ersten beiden Alben 2008 und 2010 waren ein voller Erfolg – dieses Jahr liegt die Auflage schon bei zwei Millionen Stickern. Herangehensweise und Ziel sind gleich geblieben: Künstlerische Freiheit bei der Gestaltung sowie ein Zeich(n)en gegen die bekannten Panini-Hochglanzalben, die für die „Tschuttiheftli“-Macher ein Symbol der Kommerzialisierung des Fußballs sind.“
Tony Karton (Time) versucht mit einem Augenzwinkern dem US-amerikanischen Publikum zu vermitteln, wie es sich den innereuropäischen Wettbewerb aus patriotischer Perspektive vorzustellen hat: “In den nächsten drei Wochen werden sonst kosmopolitisch gesinnte niederländische, englische, deutsche und französische Männer und Frauen in den Ruhm einer mythologisierten Vergangenheit eintauchen und symbolisch Rache für historische Niederlagen nehmen. Sie werden versuchen, symbolisch eine nationale Größe wiederherzustellen, die im geopolitischen Sinne nicht mehr existiert.” Zur Verdeutlichung nennt er folgendes Beispiel: “Die aktuelle Auseinandersetzung über die Fiskal- und Geldpolitik der Europäischen Union wird zur symbolischen Aufladung der Paarungen beitragen, wenn etwa Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien (Die Gruppe der Schuldner!) auf Deutschland treffen.”
Mitarbeit: Anne Marie Hoffmann & Erik Meyer
Kommentare
2 Kommentare zu “Herausforderungen abseits des Rasens”
Samstag, 9. Juni 2012 um 00:33
Der indirekte Freistoß nimmt wieder Fahrt auf. Danke.
Samstag, 9. Juni 2012 um 08:10
[…] Butterweck hat auf indirekter-freistoss unter dem Titel Herausforderungen abseits des Rasens Pressestimmen zu Themen wie dem Besuch der CDU Parteifreundin und protestantischen Pfarrerstochter […]