EM 2012
Von der Fan- zur Fun-Randale
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| Donnerstag, 14. Juni 2012Die Presse beschäftigt sich eingehend mit den Krawallen rund um das Spiel Polen gegen Russland und zeigt dabei mit dem Finger auf Regierende und Boulevard. Anderen Ärger gibt es in Frankreich und Italien.
Am Rande des Spiels zwischen Gastgeber Polen und Russland kam es zu schweren Ausschreitungen. Ulrich Krökel (FR) erklärt die Hintergründe: „Seit Tagen hatten sich russische und polnische Fangruppen gegenseitig aufgestachelt, unterstützt von Boulevardmedien und nationalistischen Politikern. Eine Zeitung zeigte Trainer Smuda als Feldmarschall Pilsudski mit Waffe in der Hand. Die Erinnerungen in Polen an die jahrhundertelange Unterdrückung durch den großen Nachbarn im Osten sind 20 Jahre nach dem Zerfall des Sowjetimperiums unverändert lebendig.“
Uli Räther (taz) bereiten Trittbrettfahrer Sorge: „Neben dieser bewusst provozierten Gewalt war in Warschau aber auch eine zahlenmäßig nicht zu unterschätzende, viel unspektakulärere Art der Randale zu beobachten. Alkoholisierte, pubertätsgeschüttelte junge Männer nahmen die aufgeladene Atmosphäre und Polizeipräsenz zum Anlass, auch mal ihr Mütchen zu kühlen. Neben der klassischen Fan- ist also auch eine massive Fun-Randale zu beobachten, die die Stimmung in und um die Warschauer Fanmeile am Kulturpalast sehr negativ beeinflusste.“
Christian Eichler (FAZ) kommentiert: “Wahrscheinlich hätte es zu dieser Eskalation nicht einmal der ruppigen Töne russischer Offizieller und Fan-Vertreter bedurft, die so klangen, als wolle Russland in Polen abermals wie die Besatzungsmacht auftreten, die es einmal war.” Und er sorgt sich: “ Doch weil die Geschichte des 20. Jahrhunderts auch im 21. noch zum Vorwand für Feindbilder und Gewalt-Folklore taugt, bieten stille Diplomatie und gute Nachbarschaft keine Gewähr für friedlichen Fußball. Deshalb muss man eine Wiederholung der Krawalle befürchten: im möglichen Viertelfinale zwischen Polen und Deutschland.”
Eine Zündschnur fürs Pulverfass
Heiko Hinrichsen (Stuttgarter Zeitung) kritisiert fehlende Weitsicht seitens der polnischen Obrigkeit: „Mit ihrer Entscheidung, den Marsch der Russen an ihrem Nationalfeiertag durch die Innenstadt zu erlauben, wollte die polnische Regierung Toleranz demonstrieren. Das ist eine falsche Entscheidung gewesen. Denn bei all den politischen Wunden aus der Vergangenheit wurde so auf einer emotionalen Weltbühne, die ein Medienereignis wie eine Fußball-Europameisterschaft immer ist, eine Zündschnur an ein Pulverfass gelegt.“
Thomas Kistner (SZ) erzürnt sich über die UEFA: „Unter Michel Platini, Typ gelernter Fußballer, ist die Uefa ab 2007 sportpolitisch stark in Richtung seines Stimmvolks abgedriftet, sprich: in den wilden Osten. Was Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit angeht, dümpelt sie nun irgendwo im Mittelalter; das erklärt, warum sie kein Problem damit hat, Fragen zum heiklen Thema Fanrandale bei der EM zu verbieten. Einfach so. Maulkörbe werden im Reich Platinis so ungeniert verteilt, dass sie sich schon als Wappensymbol aufdrängen.“
Es gibt da ein Problem
Florian Haupt (Welt Online) zeigt sich alles andere als überrascht: „Seit Jahren nimmt fast überall in Europa die Gewalt rund um den Fußball zu, und dass diese Europameisterschaft auch zu einer Messe der Hooligans würde, war lange befürchtet worden. Natürlich handelt es sich dabei nur um eine Minderheit, aber die Botschaft ist verheerend: Europa trifft sich nicht nur zu friedlichen Spielen, sondern auch zu einem Schaukampf chauvinistischer Selbstdarstellung.“
Luke Edwards (Telegraph) betont schließlich den Charakter der Ausschreitungen in Warschau: “In einigen der schlimmsten Szenen von Gewalt bei einem großen Fußballturnier seit englische Fans mit einheimischen Jugendlichen in Marseille bei der WM 1998 zusammengestoßen sind, waren Dutzende, sich gegenseitig schlagend und tretend, an den Kämpfen beteiligt. Noch alarmierender ist, dass es auch unprovozierte Angriffe auf Passanten gab, die auf dem Weg zu Stadion waren.”
Anderer Ärger in Frankreich und Italien
Die franzöischen Medien beschäftigt seit dem Spiel gegen England vor allem der Torschütze. Dabei geht es darum, dass er nach dem Tor den Zeigefinger zum Mund geführt hat. Diese Geste in Richtung Presse nimmt der ehemalige französische Nationalspieler Vikash Dhorasoo zum Anlass für eine Liebeserklärung (Le Monde): “Seit Montagabend liebe ich Samir Nasri. Nicht, weil er gut spielt und noch weniger, weil er mir sympathisch scheint, sondern weil er sich nicht verstellt. Ja, Samir Nasri spielt nicht für die anderen, er spielt nicht für Frankreich und noch weniger für den französischen Fußball, weil er weiß, dass der französische Fußball keine wohlhabenden Fußballer schätzt.”
Richard Willams (Guardian) rät dem italienischen Coach derweil zu einer deutlichen Bestrafung der homophoben Äußerungen von Antonio Cassano: “Hier ist die perfekte Gelegenheit für Prandelli ein wenig Umerziehung zu betreiben. Er sollte Cassano vermitteln, dass nicht nur seine Worte inakzeptabel sind, sondern auch die Einstellung, die hinter ihnen steckt. Und dass er sich den Abend gegen Kroatien am Donnerstag frei nehmen kann, um über die Angelegenheit nachzudenken, während er einen Teil seines Turniergehalts für eine entsprechende Anti-Diskriminierungs-Kampagne spendet.”
Mitarbeit: Erik Meyer