indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Der Torklau von Donezk und seine Folgen

Kai Butterweck | Donnerstag, 21. Juni 2012 2 Kommentare

Tor oder kein Tor? Die Rufe nach technischen Hilfsmitteln werden immer lauter. Außerdem: Die Presse resümiert die Gruppenphase

Das nicht gegebene Tor im Spiel Ukraine gegen England erhitzt die Gemüter. Christian Kamp (FAZ) spricht sich klar für technische Hilfsmittel aus: „Um was dreht sich das ganze Spektakel dann eigentlich? Das Schöne am Fußball, so argumentieren die Technikgegner, sei doch, dass man so viel über ihn reden und auch streiten könne. Vielleicht sollten sie sich mal mit denjenigen unterhalten, denen durch eine vermeidbare Fehlentscheidung die sportliche Chance eines Lebens geraubt wurde.“

Der menschliche Blick verzerrt das Geschehen bisweilen erheblich

Auch Markus Völker (taz) hält ein Umdenken für zwingend notwendig: „Der europäische Verband könnte wohl auch ein Dutzend Pfeifen einsetzen, diese haarsträubenden Fehler würden immer wieder passieren. Die Referees treffen in kniffligen Situationen Tatsachenentscheidungen – mit allen fatalen Folgen. Wie sich auch während der Weltmeisterschaft in Südafrika 2010 erwiesen hatte, verzerrt der menschliche Blick das Geschehen bisweilen erheblich.“

Nach dem Torklau von Donezk twitterte Sepp Blatter, Präsident des Weltfussballverbandes Fifa, dass die Torlinien-Technologie nun nicht länger eine Alternative, sondern eine Notwendigkeit wäre. Simon Rice (Independent) hält dagegen: “Fußball ist für alle da und dies ist der Grund, warum es das mit weitem Abstand beliebteste Spiel der Welt ist. Sollte Technologie ein grundlegender Teil des Spiels werden, wäre dieser Status bedroht. Ob die Aussage Blatters auf eine anti-englische Verschwörung hinweist, ist deshalb irrelevant, denn sie richtet sich gegen den Fußball selbst.”

Thomas Kistner (SZ) hält Blatters (Neu-)Positionierung für populistisch, da dieser jahrelang Änderungen blockierte: Nun „will sich der Chef der skandalumtosten Fifa als Reformer neu erfinden. Da ist die alte Verweigerungshaltung gefährlich, zumal sie ja eine entlarvende politische Komponente hat: Die Objektivierung des Spiels durchs unbestechliche Kameraauge beschneidet auch die Einflussmöglichkeiten der Funktionäre und anderer Beteiligter. Dass es die gibt, bezeugen Berge an staatlichen Ermittlungsakten.“

Diskussionen werden auf der Strecke bleiben

Artur vom Stein (derwesten.de) blickt eher wehmütig in die Zukunft: „Chip, chip, hurra? Wenn die Versprechen der Industrie stimmen, wird die Technik dafür sorgen, den Fußball gerechter zu machen. Und gegen Gerechtigkeit lässt sich schlecht argumentieren. Die Folge solcher Neuerungen wird allerdings sein, dass man die ein oder andere Diskussion, die auf der Strecke bleiben wird, ja klar, sogar vermissen wird.“

Gegenteilig argumentiert Johannes Aumüller (SZ): “Wie keine andere Mannschaftssportart ermöglicht der Fußball Spiele wie das Champions-League-Finale, in denen eine Mannschaft trotz permanenter Dominanz doch verliert. Weil es am Ende immer nur um eine zentrale Frage geht: Tor oder nicht Tor? 
Wie kann es da sein, dass der Fußball noch nicht einmal sicherstellt, dass jedes dieser seltenen Tore auch zählt?”

Daniel Theweleit (FR) glaubt zu wissen welches technische Hilfsmittel derzeit die besten Karten hat: „Es wird gemunkelt, die Hawk-Eye-Kameratechnik habe bessere Chancen, weil das Unternehmen von Sony, einem der wichtigsten Fifa-Sponsoren, übernommen wurde. Allerdings birgt die Überwachung der Torlinie mit Kameras die Gefahr, dass der Ball im entscheidenden Moment von einem Körper verdeckt wird. Der Chip hat dieses Problem nicht.“

Beeindruckende Altherren

Die Gruppenphase ist beendet. Oliver Fritsch, Christian Spiller, Anna Kemper und Steffen Dobbert (Zeit Online) schauen zurück und erfreuen sich vor allem an den älteren Semestern: „Andrea Pirlo, der 33 ist und wie 43 aussieht, verteilt die Bälle im italienischen Mittelfeld mit Eleganz und Übersicht. Giorgios Karagounis, 35, schoss die Griechen ins Viertelfinale. Antonio Di Natale, 34, wirkte im Spiel gegen die Spanier vor dem Tor schneller als der 13 Jahre jüngere Balotelli. Andrij Schewtschenko, 35, der nach seinen beiden Toren gegen Schweden sagte, er fühle sich wie 20. Und Andrei Arschawin, 31, dessen Pässe im ersten Spiel der Russen die Tschechen schwindlig machten.“

Christian Paul, Lukas Rilke, Peter Ahrens und Rafael Buschmann (Spiegel Online) erhoffen sich mehr Schwung für die K.o.-Runde: „Für etwas Klasse über 90 Minuten sorgten lediglich zwei große Fußballnationen. Italien und Spanien lieferten sich am ersten Spieltag der Gruppe C ein Duell auf Augenhöhe. Die Azzurri entnervten die iberischen Ballkünstler mit einer beinahe prähistorisch anmutenden Dreier-Abwehrkette, konterten geschickt und holten verdient ein Remis. Das war beeindruckend.“

Florian Haupt (Welt Online) fühlt sich bisher bestens unterhalten: „Eine EM ist schwieriger als eine WM, sagte Xavi vor dem Turnier, und der muss es wissen – er hat beides schon gewonnen. Was der Spanier meinte, hat sich in Polen und der Ukraine eindrucksvoll bewahrheitet: Bei einer EM geht es von Anfang an zur Sache, es gibt keine Aufbaugegner, keine Gelegenheit, etwas auszuprobieren, und wenn es das Schicksal mal nicht gut meint, kann es vorbei sein, bevor es so richtig beginnt.“

Ein Auftaktsieg ist kein Garant für einen Durchmarsch

Achim Dreis (FAZ.NET) stellt vermeintlich festgeschriebene Turnierweisheiten in Frage: „Ein guter Start in die Gruppenphase, so die scheinbar ewig gültige Wahrheit, sei schon der halbe Durchmarsch in die K.o.-Runde. Doch stimmt das überhaupt? Ein Blick auf die Ergebnistafel der Europameisterschaft 2012 zeigt, dass eher das Gegenteil richtig ist. 80 Prozent der Mannschaften, die am ersten Spieltag gewonnen haben, nämlich vier von fünf, sind nach der Gruppenphase schon ausgeschieden.“

Michael Massing (stern.de) beschäftigt sich vor dem Hintergrund des Turnierverlaufs mit möglichen Titelanwärtern: „Es kommt  auf das Gesamtpaket an, aber bei zwei gleich starken Mannschaften hat tendenziell die reaktivere Vorteile. Diese Sicht der Dinge kann durch einen Turniersieg Spaniens in Schutt und Asche gelegt werden. Der Fußball der Furia Roja ist nämlich noch immer von Dominanz und Ballbesitz geprägt.“

Am Rand des komödiantischen Offenbarungseids

Waldemar Hartmanns TV-Expertenrunde (Waldis Club) scheidet die Geister. Oskar Beck (Stuttgarter Zeitung) wünscht sich vor allem mehr Redepausen für Matze Knop: „Früher ist er als grandioser Beckenbauer-Imitator immer mal wieder rettend in die Runde geplatzt. Heute ist er immer da und macht jeden nach und immer öfter bis dicht an den Rand des komödiantischen Offenbarungseids.“

freistoss des tages

Mitarbeit: Erik Meyer

Kommentare

2 Kommentare zu “Der Torklau von Donezk und seine Folgen”

  1. Dirk
    Donnerstag, 21. Juni 2012 um 12:20

    Ich verstehe das nicht:

    Wenn es ein reguläres Tor gewesen sein soll, dann doch nur, weil das vorausgehende Abseits eine andere Spielsituation war.

    Und die Aufregung würde ich dann schon wieder gerne erleben: wenn in einem Videobeweis das Tor gegeben wird und den Engländern dabei gesagt wird, dass die Abseitsstellung mit dem Tor nichts zu tun hat.

  2. HUKL
    Donnerstag, 21. Juni 2012 um 14:14

    Die Europameisterschaft und ihre Technik

    Trotz meiner eigentlich sehr ausführlichen Betrachtung von gestern folgt nochmals eine klärende Ergänzung:

    Die schon lange anhaltende Diskussion um Tor oder nicht, Videobeweis…ja oder nein oder um den Torklau im Stadion von Donesk ist von mir fast nicht mehr zu ertragen und hat einen einfachen Grund:

    Solange der Fernsehzuschauer während der Orginalübertragungen eines Spieles in jeder Kneipe, Wohnung oder sonstwo eines noch so vom Spielort entfernten Landes mit Hilfe der sofort eingeblendeten Wiederholungen bzw. Zeitlupen schneller und besser informiert wird als der vielleicht nur 20 m vom „Tatort“ stehende Schiedsrichter oder wie im Fall von Donesk, sein ihn unterstützender Torrichter, der sich am Pfosten fast die Nase breitdrückt, statt das Überschreiten des Balles sofort anzuzeigen, ist doch der Ruf nach weiteren kostenaufwendigen Hilfsmitteln fast grotesk!

    Maximal eine Minute Unterbrechung ohne jeglichem zusätzlichem Aufwand und Betrachten der entsprechenden strittigen Szene an einer der Videowände im Stadion, die für den Benachteiligten zudem nicht nur sportliche Nachteile bringen, wäre doch besser, als
    tage-, wochen-, monate- oder gar jahrelanger Streit im Nachhinein!

    Sehr interessant ist die plötzliche Wortmeldung und Meinungsänderung des skandalumwitterten und scheinbar unantastbaren FIFA- Chefs Blatters dazu!

    O.Beck (Stuttgarter Zeitung) liegt mit seiner Kritik des zuckenden Waldi mit seinem manchmal etwas komisch zusammengestellten Club richtig. Früher hatte ich mich immer sehr auf diese etwas ausgefallene Sendung besonders gefreut, natürlich besonders auf sein Zugpferd Matze Knop. Nach dem Höhepunkt vor einigen Monaten, das „Maradona-Interview“, scheint allerdings die Luft etwas raus zu sein, obwohl die Einschätzungen als wahrer Knop oftmals auch die besten am Expertentisch sind. Zudem nimmt die Regie den Gag selbst heraus, indem beim Zeigen des jeweiligen „Dubels“ er selbst unten rechts immer zusätzlich bei dem Nachsprechen eingeblendet wird, was eigentlich gerade nicht sein sollte.

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