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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Vor dem „Debt Derby“

Matthias Nedoklan | Freitag, 22. Juni 2012 Kommentare deaktiviert für Vor dem „Debt Derby“

Im Mittelpunkt steht das Duell der deutschen gegen die griechische Mannschaft. Aber auch Mesut Özil ist nicht nur wegen des Fußballs Thema.

Christof Kneer (SZ) widmet sich Mesut Özil und seinem Dilemma: „Er hat das Pech, dass er so viel Glück hatte, dass ihn die Natur mit überwältigendem Talent ausgestattet hat. Das führt zu dem Konflikt, dass die einen (die Zuschauer) dieses Talent immer sehen wollen, während die anderen (die Gegner) es immer bekämpfen.“

Demgegenüber problematisiert Michael Horeni (FAZ) ausgehend von den bei Twitter aufgetauchten rassistischen Einlassungen gegen den “Coverboy der deutschen Fußball-Integration” einen anderem Zwiespalt: “Seit der Deutsche Fußball-Bund Özil zu seinem Integrationsbotschafter ernannt hat und die Bundeskanzlerin das Mitglied des internationalen Fußball-Lifestyles zu einem deutschen Integrationssymbol gemacht hat, steigt der rechte Druck auf Özil. Wenige Tage nachdem er und seine Kollegen im Schloss Bellevue im Herbst 2010 mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet wurden, pfiffen auch türkische Fans auf den in Gelsenkirchen geborenen deutschen Spielmacher türkischer Eltern bei jedem Ballkontakt, weil er sich für die Nationalmannschaft seines Geburtslands entschieden hatte.”

Deutschland mit Lücken in der Abwehr

Philipp Selldorf (SZ) warnt vor falschen Analogien: „Es ist ja nicht zu leugnen, dass weite Teile des Publikums die Stärke der griechischen Elf nicht viel höher schätzen als die der griechischen Wirtschaft. Dass das Treffen mit den Griechen als eine Art Freilos fürs Halbfinale angesehen wird, haben die deutschen Spieler mitbekommen.“

Lucien Favre (Tagesspiegel) gibt den Griechen Tipps gegen Deutschland: „Ganz hinten, in der Abwehr. In der Viererkette sind alle Verteidiger technisch nahezu perfekt ausgebildet, sie sind überragend in der Spieleröffnung, da kommt keine andere Mannschaft ran. Aber es fehlt eben noch die totale Koordination. Man merkt an manchen Stellungsfehlern, dass die Vorbereitung wegen des Champions-League-Finales sehr spät angefangen hat.“

Marco Plein (Focus) gibt zu Bedenken: „Sie wittern ihre Chance, den Titelkandidaten mit dessen nur für den großen EM-Triumph zusammengestellten Kader vor eine gemeine Geduldsprobe zu stellen, ihn zu entnerven, ihm das Spiel zu verderben. Darauf freuen sich die Griechen. Die Deutschen eher nicht.“

Griechen sind besser als ihre Wirtschaft

Felix Rother (Focus) hat die Griechen im Hotel besucht: „Die Devise der Griechen: Bürgernähe statt Isolation. Die Nationalmannschaft wohnt – und das ist wohl einmalig im heutigen Profifußball – zusammen mit dem Otto-Normal-Urlauber. Da kommt es schon mal vor, dass ein Theofanis Gekas statt dem gewünschten Spiel Deutschland gegen Dänemark mit Portugal gegen Holland vorlieb nehmen muss.“

Marcus Walker und Stelios Bouras (Wall Street Journal) analysieren den Kampf um die (den) Euro: „Deutschland, das bisher  einzige Team, das alle seine Spiele bisher gewann, ist in der Favoritenrolle. Das Problem für die DFB-Elf ist jedoch, dass die Griechen nicht dem Klischee ihres Landes entsprächen. Sie sind gut organisiert, diszipliniert und, wie Herr Löw es beschreibt, höchst effizient.“

Kit Holden (The Independent) spricht über die Kanzlerin:„Egal wie sehr sich die Spieler von der politischen Bedeutung des Spiels distanzieren, für Frau Merkel ist die Partie ein Spiel, das sie nicht verlieren darf.“

Dirk Schümer (FAZ) denkt unter dem Titel “Ein Europa der Elfmeter und Eigentore” über die symbolische Herausforderung der Partie nach: “‘Ich bin ein Grieche’, sagt der grimmige Trainer Griechenlands, der notabene ein Portugiese ist. Wenn nun auch andere Mittelmeeranrainer das Hohelied der armen Fußballer vom Peloponnes singen und gegen die ach so arrogante Übermacht der deutschen Panzer wettern, wie das etwa in Italien fleißig geschieht, ist das pure Heuchelei. Viele der griechischen Kicker sind in der florierenden deutschen Fußballindustrie als Gastarbeiter so reich geworden, dass sie die Existenzsorgen ihrer gewöhnlichen Landsleute nicht zu teilen brauchen.”

Dass die Partie Deutschland gegen Griechenland nicht nur von der politischen Symbolik belastet wird, berichtet Paul Wilson (Guardian) im Hinblick auf die Auskünfte griechischer Nationalspieler: “Ein Kommentar aus dem deutschen Lager, man verstehe die Bedeutung des Wortes ‘Ausscheiden’ nicht, hat die Griechen mehr gewurmt, als alle Anspielungen auf den Zustand ihrer Wirtschaft oder die Chancen auf den Verbleib in der Eurozone. Griechenland hat entgegen aller Erwartungen in seinem letzten Gruppenspiel Russland aus dem Turnier geworfen und Dimitris Salpigidis insistierte, das Gleiche könne den Deutschen passieren.”

Post-nationale Perspektive?

Inga Höltmann (Tagesspiegel) fragt sich, ob Auto-Spiegel und Halsketten etwas mit Nationalismus zu tun haben: „Wir schlüpfen in eine Rolle, gehen gemeinsam in diesem Ereignis auf. Unsere Nationalfarben auf Wangen und T-Shirts sind kein Rückfall in einen gefährlichen Nationalismus – sie sind Teil des Spieles. Sich seiner Geschichte bewusst zu sein, heißt nicht, seine Nationalität zu verleugnen.“

Im Interview mit Oliver Fritsch (Zeit Online) offenbart Polens Expräsident Lech Wałęsa post-nationale Perspektiven: “Ich werde am Freitag Deutschland die Daumen drücken, wir sind Nachbarn. Außerdem spielen viele Polen in der Bundesliga. Und wir spielen ein bisschen deutsch: nicht spektakulär, aber effektiv.”

 freistoss des tages

 Mitarbeit: Erik Meyer

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