EM 2012
Die Tücken des Tiki-Taka
| Mittwoch, 27. Juni 2012Die Presse räsoniert über das spanische Spiel, erinnert an das Ende des letzten Sommermärchens und berichtet von Problemfällen.
Armin Lehmann (Tagesspiegel) erinnert mit einer Anekdote daran, wie das deutsche Sommermärchen bei der WM 2006 endete: “Aber es waren nicht nur diese coolen Tore, die damals den Unterschied machten, es war auch das unglaublich souveräne, völlig angstbefreite Auftreten der Italiener, das beeindruckte. Es fing schon im Kabinengang vor dem Spiel an, als Lukas Podolski rief: ‘Die haben Angst.’ Und plötzlich, aus dem Nichts, die tiefe Stimme des italienischen Teambetreuers und damaligen Torwarttrainers von Hertha BSC, Nello di Martino, erklang: ‘Wir haben keine Angst.’“
Abschied vom Feindbild
Boris Herrmann (SZ) sympathisiert mit Italien: „Sollte die DFB-Auswahl aber wie 2006 ihr Halbfinale gegen Italien verlieren, dann hätten die deutschen Anhänger diesmal deutlich mehr Mühe, sich an dem alten Feindbild festzuklammern. Der italienische Fußball erfüllt nämlich seine Klischees nicht mehr. De Rossi hat alle vier EM-Spiele bestritten, teilweise im Mittelfeld, teilweise als verkappter Libero in der Dreierkette. Insgesamt hat er dabei ein einziges Foulspiel begangen.“
Einer der italienischen Gegner zieht jetzt besonders viel Aufmerksamkeit auf sich; ihm widmet Jan Christian Müller (FR) ein Porträt: “Seine wahnsinnige Seite hat Mario Balotelli gerade erst wieder eindrucksvoll demonstriert. Angesprochen auf seine offensichtliche Unlust zu Liegestützen im Teamtraining, antwortete er trotzig: ‘Ich habe den Arsch nicht in Nutella.’ Eine Aussage, die die Marketingabteilung der Firma Ferrero bestimmt nicht als notwendige Produktinformation interpretieren dürfte.”
Einen anderen Akteur nimmt Maik Rosner (FTD) in den Fokus: Der Mittelfeldspieler Riccardo Montolivo hat eine doppelte Staatsbürgerschaft und dokumentiert dies auch mit seinem Schuhwerk: “Beinahe hätte er Italien beim 4:2 gegen England in Kiew allerdings um das verdiente Weiterkommen gebracht. Als einziger Spieler seiner Mannschaft traf er nicht im Elfmeterschießen, ausgerechnet mit seinem starken rechten Fuß, an dessen Schuh die kleine deutsche Flagge aufgedruckt ist.”
Korruption und Diskriminierung
Thomas Kistner (SZ) recherchiert: „Hinter den Kulissen wachsen Michel Platini die Probleme über den Kopf. Die verhasste elektronische Torlinienüberwachung wird er nicht mehr verhindern können. Und nun hat der Chef der Europäischen Fußball-Union auch noch eine heikle Anti-Korruptions-Initiative europäischer Parlamentarier am Hals. Diese fordern die Uefa auf, Vorwürfen nachzugehen, dass sich ukrainische Oligarchen und Politiker massiv bereichert hätten an der Turniervorbereitung.“
Nicht nur in den Stadien ist diskriminierendes Verhalten ein Problem, wie Philipp Daum (Rhein-Zeitung) am Beispiel Neuwied berichtet: “Während des EM-Spiels Deutschland gegen Griechenland sollen sich Mitarbeiter des Sicherheitspersonals, die die Besucher auf das Gelände der VR-Bank-Fanmeile ließen, rassistisch gegenüber mehreren jungen, dunkelhäutigen Personen geäußert haben. Sie sollen zwei Fußballfans afrikanischer Abstammung sogar den Zutritt zum Public-Viewing-Bereich verwehrt haben.”
Gemeinsam statt gegeneinander
Michael Ashelm (FAZ) blickt auf Mario Gomez und die Ersatzbank: „Zugleich könnte es wirklich einer der entscheidenden Parameter neben der Tagesleistung für den angestrebten Triumph sein, wenn der Zusammenhalt in der Mannschaft sich nicht nur auf einige Spieler oder Vereinsgruppen beschränkte. Wenn wirklich bis zum Ende gemeinsam am EM-Strang gezogen wird.“
Lukas Rilke, Christian Paul, Rafael Buschmann, Peter Ahrens und Jan Reschke (Spiegel Online) schreiben über den Fluch des Erfolges von Welt- und Europameister Spanien: „Das 4-2-3-1 hat sich durchgesetzt, andere Systeme gelten als veraltet und unterlegen. Das Problem: Nicht alle Mannschaften sind taktisch und technisch in der Lage, den Ballbesitz zu ihren Gunsten zu nutzen. Die Folge ist oft ein Verwalten. Teams wie Griechenland, Frankreich, Tschechien und auch die Engländer schienen sich nach der Balleroberung zu fragen: und nun?“
Eine Ausnahme nennt Javier Caceres (SZ): „In ihrem teaminternen Tippspiel haben die meisten der 23 spanischen Nationalspieler übrigens auf Deutschland als Finalgegner gesetzt. Das dürfte einem innerlich gehegten Wunsch entsprechen. Sie wissen, dass die Deutschen unter dem Trainer Joachim Löw einen ähnlichen Fußballansatz verfolgen. Und das bedeutet, dass Deutschland der Gegner ist, gegen den man noch am ehesten Fußball spielen kann.“
B-Note für Ronaldo
Michael Brake (taz) widmet sich in seiner Kolumne “B-Note” dem “Christiano-Ronaldo-Syndrom”: “Neben der Haargelsache wird übrigens auch Ronaldos Gestik im Allgemeinen und sein Freistoßanlauf im Speziellen gern kritisiert. Hierbei macht er fünf große Schritte rückwärts, um dann breitbeinig wie ein Cowboy stehenzubleiben. Reines Gegockel? Von wegen: Da hat jemand für sich herausgefunden, wie der optimale Bewegungsablauf sein muss und es in ein Ritual zur besseren Konzentration verpackt.”
Sid Lowe (The Guardian) weiß, dass Spanien keine Angst vor Ronaldo zu haben braucht: „Ihr Spiel kann man in einem Wort zusammenfassen: Kontrolle. Das ist was Spanien von allen unterscheidet. Tiki-Taka hatte immer eine defensive Facette. Durch den Erfolg der Spanier und die Evolution der Gegner und ihrer eigenen Entwicklung wird dies deutlicher den je.“
Bis an die Schmerzgrenze
Sam Wallace (Independent) schaut in eine ferne Zukunft und von dort aus betrachtet erscheinen die Reisestrapazen der Europameisterschaft wie ein Strandurlaub: “Wenn die englischen Spieler denken, dass ihre vier Hin- und Rückflüge zwischen Polen und der Ukraine in einem Zeitraum von 16 Tagen eine Zumutung waren, dann müssen sie noch der Realität der WM 2016 in Brasilien gewahr werden. Dort liegen die WM-Sädte über 3000 Kilometer voneinander entfernt und die Temperaturen schwanken von tropisch bis zum Gefrierpunkt.”
Lucas Vogelsang (Zeit Online) war zu Gast bei Waldis EM-Club: „An den Tischen vor der Bühne werden bayerische Spezialitäten serviert. Über die Großleinwand flimmert der EM-Song, den Hartmann gemeinsam mit, natürlich, Matze Knop aufgenommen und vor Kurzem bei Florian Silbereisen präsentiert hat. Volksmusik im Vollplayback. Bis an die Schmerzgrenze und eigentlich längst darüber hinaus.“
Mitarbeit: Erik Meyer
Kommentare
1 Kommentar zu “Die Tücken des Tiki-Taka”
Donnerstag, 28. Juni 2012 um 08:59
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