indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Der Fluch von Warschau?

Kai Butterweck | Donnerstag, 13. September 2012 3 Kommentare

Wo ist die Unbekümmertheit hin? Nach dem glücklichen Sieg gegen Österreich geht die Presse auf Spurensuche.

Michael Horeni (FAZ) bittet um Geduld: „Mit Siegen im Rücken lassen sich Veränderungen leichter vorantreiben. Löw hat sich zur Aufgabe gemacht, bis zur WM 2014 ein Team anzuführen, das in der Lage ist, dem Gegner früh und effektiv den Ball abzujagen, wie dies die Spanier und der FC Barcelona seit Jahren vor- und Dortmund in der Bundesliga erfolgreich nachmacht. Das geht nicht von einem Spiel auf das Spiel andere. In der Nationalelf solche Veränderungen zu schaffen, ist ein ganz besonderes Kunststück, wenn die meisten Spieler dieses System nicht auch im Verein täglich einüben. Pressing-Fußball ist ein Gemeinschaftswerk, das man nicht einfach so nebenbei trainieren kann.“

Nur nicht auffallen

Jürgen Schmieder (SZ) erinnert an Allwetter-Zeiten: „Marco Reus, Mesut Özil, Toni Kroos und Mario Götze können Gegenspieler in einer Telefonzelle austanzen, bisweilen könnte gar eine Briefmarke ausreichen. Langsam allerdings kommt der Verdacht auf, dass diese Generation ihre Kunst mit Vorliebe an jenen Tagen präsentiert, an denen ganz ausgezeichnetes Wetter herrscht. An denen alles klappt, der Gegner mitspielt – und es Spaß macht, Fußball zu zelebrieren. An wolkenreichen Tagen, gegen einen unangenehmen Gegner wie Österreich am Dienstagabend, müht sie sich hingegen, nur ja nicht aufzufallen. Das wiederum unterscheidet sie erneut von den Spielern anderer Jahrzehnte.“

Christian Spiller (Zeit Online)bemängelt einen Entwicklungsstillstand: „Nach diesem Spiel geht es ans Grundsätzliche, ans Sportliche, ans Herz des Löw´schen Spiels. Irgendetwas scheint die Mannschaft verlernt zu haben. Löws Team ist derzeit weder in der Lage gegen einen spielerisch limitierten Gegner, der nicht viel mehr macht, als alle Mann hinter dem Ball zu versammeln, genug Chancen herauszuspielen. Noch schafft sie es, einen offensiven Gegner zu überrumpeln. In Wien gerieten die spielaufbauenden Spieler angesichts des österreichischen Pressing-Furors derart unter Druck, dass sie sich nicht anders zu helfen wussten, als den Ball oft nur lang und weit nach vorne zu plautzen.“

Unbelohnte Bravourleistung

Frank Hellmann (FR) zieht seinen Hut vor den Österreichern, warnt aber im gleichen Atemzug vor zu viel Hochmut: „Welche Kraft und Zuversicht kann Österreich aus einer Vorstellung saugen, mit der Kollers Ensemble den Favoriten an den Rande der Niederlage drängte? Es gibt nicht wenige Kenner, die halten die unbelohnte Bravourleistung im Wiener Prater für gemeingefährlich. Dieselbe Motivation nun auch am 12. und 16. Oktober aufzubringen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein: Der Gegner heißt schließlich Kasachstan.“

Tom Schaffer (Standard) klatscht begeistert Beifall: „Österreich ist am richtigen Weg – ist endlich überhaupt auf einem Weg. Gegen die DFB-Auswahl gelang dem Team eine Leistung, die eine ganz logische Weiterentwicklung der jüngsten Testspiele darstellte. Sicher: Gegen die Deutschen vor 50.000 Zusehern ist die Motivation besonders groß, aber Marcel Kollers Mannschaft hat am Dienstag nichts Neues gezeigt, sondern nur all das in verbesserter Form, was seit seinem Amtsantritt vor zehn Monaten eben Schritt für Schritt verbessert wurde.“

Rafael Buschmann (Spiegel Online) nimmt Marcel Schmelzer, den vermeintlichen Sündenbock des Spiels, schützend in die Arme: „Schmelzer war fast nie dort, wo er eigentlich sein sollte. Er gab eine unglückliche Figur ab. Doch es wäre zu einfach, die gesamte Schuld für das ungeordnete, verunsicherte und passive Defensivverhalten der deutschen Nationalmannschaft an Schmelzer festzumachen. Der Dortmunder erwischte zwar einen schlechten Tag. Doch haben die  Defensivprobleme des DFB-Teams  an diesem Abend im Ernst-Happel-Stadion nicht nur an Schmelzers Schwächen gelegen.“

Neue Reizpunkte müssen her

Klaus Bellstedt (stern.de) fordert Veränderungen: „Die deutsche Mannschaft und ihr Trainer, das hat spätestens das Spiel gegen Österreich bewiesen, sind auf ihrer gemeinsamen Reise an einem kritischen Punkt angekommen. Joachim Löw ist jetzt gefordert, so wie nie zuvor in seiner Amtszeit als DFB-Chefcoach. Bisher hat er es nicht geschafft, nach der großen Sommer-Enttäuschung Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Er muss nun beweisen, dass er dieses junge Team auch weiterentwickeln kann. Dafür muss er neue Reizpunkte setzen und Veränderungen herbeiführen – vielleicht sogar durch frisches Personal.“

Marko Schumacher (Stuttgarter Zeitung) weiß, warum, wieso und weshalb es momentan nicht läuft: „Es gibt Gründe für die schwache deutsche Darbietung – der erste heißt: Österreich. Angetrieben von einem entfesselten Publikum bot der Gastgeber eine vorzügliche Vorstellung. Als mildernden Umstand lässt sich mit gutem Willen auch der Zeitpunkt des Spiels anführen. Noch ist die Saison jung, noch sind die Nationalspieler dabei ihren Rhythmus zu finden. Letztlich landet man aber auch wieder  bei der 1:2-Niederlage im EM-Halbfinale gegen Italien, die mehr als nur ein kleiner Rückschlag in der Entwicklung der jungen Mannschaft darstellt. Bis ins Mark scheint das jähe Aus die Nationalelf und deren Selbstverständnis erschüttert zu haben.“

 

freistoss des tages (mouseover für Hinweise zum „Hillsborough Report“)

Kommentare

3 Kommentare zu “Der Fluch von Warschau?”

  1. Dirk
    Donnerstag, 13. September 2012 um 12:56

    Das Selbstverständnis ist seit der EM-Niederlage gegen Italien zu Recht erschüttert. Und zwar nicht wegen der Niederlage an sich, sondern weil die von der sportlichen Leitung gezogenen Lehren gegen das bisherige Selbstverständnis sprechen.

    Bis einschließlich WM 2010 war die Einschätzung: Deutschland ist gut und auf dem richtigen Weg, aber Spanien ist besser.

    Die EM 2012 sollte dann mit der folgenden Einschätzung gewonnen werden: Spanien ist immer noch gut, aber Deutschland ist mit der Art und Weise wie Deutschland Fußball spielt besser. Und diese Art und Weise war Offensivfußball, schnelles kreatives Spiel nach vorne, dominieren.

    Dann werden die zwei für mich offensichtlichen Fehler während der EM und im Italienspiel gemacht: Festhalten an bisherigen Größen, die außer Form waren und daher Nichtberücksichtigung andere besserer Spieler sowie Änderung des Systems, um auf Pirlo zu reagieren.

    Die „richtige“ Lehre würde diese Fehler benennen und feststellen: Wenn wir an unser System geglaubt hätten und dementsprechen aufgestellt und gespielt hätten, dann wären wir Europameister.

    Stattdessen wird jetzt von außen nach Leitwölfen gerufen (wer soll das sein?). Und viel schlimmer, von innen wird gesagt, dass am Gegenpressen gearbeitet werden muss.

    Im Fernsehinterview nach dem Österreichspiel hat Löw zuerst gesagt, dass von nun an verstärkt auf Gegenpressing und das Defensivverhalten Wert gelegt werden soll. Und dann zum Abschluss des Gespächs hat er gesagt, dass der entscheidende Punkt gegen Österreich das fehlende Spiel nach vorne gewesen sei.

    Als Trainer anzuordnen, dass Barcelona zu kopieren sei, kann ich auch. Aber ist das der richtige Weg, um mit der tollen Generation an deutschen Spielern Erfolg zu haben?

  2. augelibero
    Donnerstag, 13. September 2012 um 17:49

    In Sachen Mehmet Scholl: Die größten Kritiker der Elche waren mal selber welche!

  3. Zizous Erbe
    Donnerstag, 13. September 2012 um 18:19

    Ich frage mich immer noch, wie Deutschland so haushoch gegen Österreich verlieren konnte!

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