indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Zwischen Himmel und Hölle

Kai Butterweck | Donnerstag, 18. Oktober 2012 10 Kommentare

Nach dem historischen Unentschieden gegen Schweden steht die Presse Kopf

Philipp Selldorf (SZ) wundert sich nicht: „Dieses 4:4 war keine singuläre Kuriosität und kein ‚Betriebsunfall‘, wie der schon länger in buddhistische Milde entrückte Experte Franz Beckenbauer verzeihend anmerkte. Dieser Irrsinn hatte Methode: Das 4:4 ist ein Resultat, das zu dieser begnadeten, aber auch pubertären und unreifen, orientierungslosen Mannschaft passt.“

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Zweifel an Löw

Oliver Fritsch (Zeit Online) zeigt mit dem Finger auf die deutsche Trainerbank: „Löw ist ein sehr guter Lehrer, aber an seinem Coaching machen sich große Zweifel fest. Als sein Gegenüber Hamrén in der Halbzeit zwei Mal wechselte und damit seine linke Angriffsseite stärkte, reagierte Löw nicht, obwohl für alle im Stadion sichtbar Sturm aufzog. Über die linke Seite leiteten die Schweden alle Tore ein. Löw wechselte zwei Stürmer ein, aber keinen Defensiven. Auf einen dritten Wechsel verzichtete er sogar in der Nachspielzeit. Dieses Mittel, ein Spiel über die Zeit zu bringen, ist ein profanes, aber ein gutes.“

Auch Andreas Rüttenauer (taz) geht mit dem Bundestrainer hart ins Gericht: „Seit der rätselhaften Einwechslung des Sprinters David Odonkor im vergeigten EM-Vorrundenspiel 2008 gegen Kroatien gab es immer wieder Situationen, in denen man Löw mangelnde Reaktionsfähigkeit im Spiel vorwarf. Gegen Schweden wechselte er Mario Götze für Thomas Müller ein und Lukas Podolski für Marco Reus. Die Frage, warum er – obwohl er doch sehen musste, wohin die Reise gehen würde – nicht die Defensive gestärkt hat, steht im Raum. Und auch all diejenigen, die Löw vorwerfen, er habe es versäumt, in der Mannschaft klare Hierarchien zu installieren, müssen sich nach dem Desaster von Berlin bestätigt fühlen. Die Führungsspielerdiskussion, die immer mal wieder aufflackert, wenn die Mannschaft nicht funktioniert, treibt auf einen neuen Höhepunkt zu.“

Die innere Statik funktioniert nicht

Michael Horeni (FAZ) vermisst Grundlegendes: „Auch wenn es sie gab, waren es nicht individuelle Fehler, die zum Fiasko der letzten halbe Stunde führten. Es war ein kollektiver Angst- und Lähmungszustand, der sich von einer auf die anderen Minute über ein Team legte, das eben noch fliegen konnte, wunderschön wie kein deutsches zuvor. Aber diese Mannschaft hat nur das Fliegen gelernt – nicht das Siegen um jeden Preis. Es gibt daher auch nicht das Versäumnis oder die Schwäche eines einzelnen Spielers zu beklagen. Dieses Team ist randvoll mit fußballerischer Klasse. Aber seine innere Statik funktioniert nicht, zumindest nicht in Ausnahmesituationen – und die gibt es im Fußball immer wieder.“

Thomas Hummel (SZ) überbringt der Fußballwelt gute Nachrichten: „Dieses absurde Spiel gegen Schweden ist der Beweis dafür, dass sich im vergangenen Jahrzehnt ein Kulturbruch im deutschen Fußball vollzogen hat: Hieß es nicht einmal, dass man die Deutschen nie abschreiben dürfe? Sich nie sicher sein dürfe, selbst wenn man 3:1 in der Verlängerung gegen sie führt? Dass es kommen kann, wie es will, am Ende gewinnen eh immer die Deutschen? Diese Weisheiten sind wie weggewischt. Sie haben sich fast umgekehrt. Jetzt können sich die Deutschen nicht mehr sicher sein, selbst wenn sie nach 60 Minuten im eigenen Stadion mit 4:0 führen.“

Eine verpasste Chance

Thomas Niklaus (Hamburger Abendblatt) findet deutliche Worte: „Was nach einem denkwürdigen Abend blieb, war große Fassungslosigkeit und die Erkenntnis, dass die deutsche Elf eine große Chance verpasst hat. Nicht nur die Chance, auf dem Weg zur WM 2014 bereits frühzeitig eine Vorentscheidung herbeizuführen. Sie hätte vor allem mit einem Schlag für Ruhe sorgen können. So aber zeigte sich in Berlin auf einmalige Art und Weise wie fragil das Gebilde Nationalmannschaft nach wie vor ist.“

Friedhelm Körner (RP Online) blickt voller Sorge in die Zukunft: „Am Ende der WM-Ausscheidung kann es die Konstellation geben, dass Schweden und Deutschland vorn gleichauf liegen. Dann fällt die Entscheidung über den Gruppensieg, der die WM-Teilnahme sichert, am 15. Oktober in Schweden. Weil bei Punktgleichheit der direkte Vergleich zählt, wäre die Ausgangsposition für den DFB dann miserabel, da bei Torgleichheit die Mannschaft Platz eins belegt, die auswärts mehr Treffer erzielt hat. Auf vier Tore wie die Schweden in Berlin wird die deutsche Mannschaft schwerlich kommen. Wird sie aber nur Zweiter, führen nur die Play-off-Spiele der acht besten Zweiten aus den neun Europagruppen nach Brasilien. Und dann kann alles passieren.“

freistoss des tages

Kommentare

10 Kommentare zu “Zwischen Himmel und Hölle”

  1. Rolf Mandery
    Donnerstag, 18. Oktober 2012 um 14:35

    Man fragt sich, was noch passieren muss, bis mit Höwedes ein kopfballstarker, torgefährlicher Abwehrspieler (umso wichtiger,da mit Lahm ohnehin ein „Zwerg“ in der Abwehr steht)in die Elf kommt. Eigentlich egal, ob für Schmelzer oder für Boateng. Bei letzterem ist die Orientierungsgeschwindigkeit ebenso wenig ausgeprägt wie bei Toni Kroos, der (nicht nur in München)völlig überschätzt wird (eigentlich ein 10er mit dem Tempo der 70er Jahre). Badstuber „gesetzt“ ist ein Witz.

  2. lateral
    Donnerstag, 18. Oktober 2012 um 16:27

    Ich denke auch, dass der mittlerweile sehr reif wirkende Höwedes der Abwehr Stabilität verleihen würde. Daneben darf man nicht vergessen, dass auch Khedira ausfiel sowie dessen Backups Bender². Der Ausfall Khediras war dabei m.E. das größte Problem für die defensive Ordnung, weil er ein Spieler mit ungeheurem Einsatz, Zweikampfstärke, Spielintelligenz, Organisationsvermögen und Führungspersönlichkeit ist.

    Deshalb lasse ich die in der Öffentlichkeit vorwiegend genannten Gründe
    -vercoacht und
    -psychologischer Effekt
    schon gelten, aber eben mit der Einschränkung, dass es die Spieler gibt, die aus der Nationalmannschaft eine zwischen Offensive und Defensive ausgewogene machen können; diese Spieler haben aber aus verschiedenen Gründen leider nicht gespielt. Da kann man zwar beim Einen (Höwedes) wieder „vercoacht“ rufen, beim echten Sechser (Khedira bzw. Backups) muss man aber die momentane Nichtverfügbarkeit der vorhandenen Weltklasse-Kraft konstatieren. Mit einer solchen Kraft wäre das Auseinanderfallen der Defensive, aber vermutlich verhindert worden (ich weiß: Spekulation) – was wiederum trotz der Mängel der anderen Verteidiger Höwedes‘ Einsatz obsolet gemacht hätte.

    Dennoch, wenn es „Gewinner“ dieses Spiels gab, dann v.a. Khedira und daneben eben Höwedes und all die jungen Abwehrspieler, die sich im kommenden Jahr profilieren werden.

  3. Rolf Mandery
    Donnerstag, 18. Oktober 2012 um 19:15

    Stimme „lateral“ ausdrücklich zu, ggf auch mit der Alternative Höwedes und Hummels im Zentrum und L. Bender als rechten Außenverteidiger.

  4. Jim Ferstle
    Donnerstag, 18. Oktober 2012 um 19:18

    Alle reden über Psychologie. Hat sich jemand mal die Fitnesswerte der Mannschaft angesehen? Wenn das Spiel 90 min dauert und die Mannschaft nach 60 nicht mehr rennt, kann es doch auch einfach daran liegen, dass sie nicht mehr können. In der Leichtathletik und auch in anderen Ballsportarten würde man doch auch erst sagen, die Jungen haben nichts drauf, ehe man die Psychologie bemüht. Habt Ihr nach dem Spiel die roten Flecken im Gesicht der deutschen Spieler gesehen? das ist doch typisch für Leute, die einfach breit sind.
    Die Schweden haben sich 60 min „geschont“ und dann losgelegt. Das ist doch im Basketball üblich. Da redet auch keiner von Psychologie, sondern von „haben sich vorher geschont.“
    Die deutsche Mannschaft hat 60 min wie ein Weltmeister gespielt, aber die haben eben noch keine Luft, dieses hohe Tempo 90 min zu halten.

  5. JP
    Donnerstag, 18. Oktober 2012 um 20:27

    Kroos ist kein 6er („Tempo der 70er“ gefällt mir, und da ist was Wahres dran), und Badstuber und Neuer haben einen schlechten Tag erwischt, das waren, auf Einzelne bezogen, sicher die größten Probleme. Dennoch wäre das Desaster vermutlich nicht passiert, wenn die offensive Mittelfeldreihe Reus/Özil/Götze nach dem 4:2 nicht das Verteidigen eingestellt hätte.

    Andere Frage: der RP-Online-Kommentar behauptet, bei Punktgleichheit würde der direkte Vergleich zählen. In den letzten Jahren war es immer so, daß bei FIFA-Turnieren die Tordifferenz ausschlaggebend war, bei UEFA-Turnieren der direkte Vergleich. Hat die FIFA das geändert, oder ist der Kommentar falsch?

  6. Günter Stellwegen
    Donnerstag, 18. Oktober 2012 um 20:58

    Ich bin von diesem Blog enttäuscht. Ich hatte fest mit der Überschrift

    „DFB-Elf – wenn vier Tore nicht genügen“

    gerechnet.

    ;-D

  7. Blog- & Presseschau für Freitag, den 19.10.2012 | Fokus Fussball
    Freitag, 19. Oktober 2012 um 10:13

    […] So ganz aufgearbeitet ist das 4:4-Remis gegen Schweden immer noch nicht. Der Indirekte Freistoß hat alle Pressestimmen zusammengestellt. […]

  8. HUKL
    Freitag, 19. Oktober 2012 um 12:16

    Es ist traurig, dass erst ein Katastrophenergebnis in der Schlussphase nach einem zuvor regelrecht zauberhaften Spiel unserer hochgelobten Nationalmannschaft die Spalten des „indirekten Freistoßes“ wieder etwas auferstehen lässt und damit die regelrecht sparsam gewordene Leserbeteiligung zu verschiedenen Themen aus dem Abseits etwas zurückholte.

    Aus meiner Sicht sind diesmal alle Kommentare der verschiedenen Journalisten auf der oberen Seite zutreffend. Nach solch einem verrückten Spielverlauf hätte man sich normalerweise die Einzelkritik erstmals schenken können. Das gerade selten erlebte Spektakel, das sich im letzten Drittel in ein Debakel verwandelte, sitzt zu tief, um sich auf Einzelaktionen überhaupt erinnern zu wollen!

    Mir kommt es nach der Hilf- sowie Sprachlosigkeit aller Aktiven und zum Gefolge gehörenden zum Schluss moralisch geschlagenen „müden Krieger“ so vor, als ob diese Einschätzungen diesmal auch keinem Zuschauer und Leser interessiert. Der Schock des völlig ungewöhnlichen Spielverlaufes wird noch einige Zeit andauern, bei allen, die auf oder am Rasen in Berlin waren oder das Geschehen in irgendeiner medialen Form in das Haus geliefert bekamen.
    Als die Gefahr immer größer wurde, konnte leider auch jegliche gut gemeinte Hilfe von der Bank nicht mehr wahrgenommen werden. Nur wer selbst einmal Fußball gespielt hat (das gilt auch für andere Mannschaftssportarten) weiß, dass es einfach solche Situationen des „kollektiven Zusammenbruches“ mal geben kann. Größere Kritiken sind deshalb diesmal völlig unangebracht und sollten einfach unterlassen werden.

    Hinterher hatten allerdings fast einheitlich die oben schreibenden Experten richtig festgestellt, dass unser spürbar etwas dünnhäutig gewordener Trainer z.B. mit der späten Einwechselung von Podolski nicht gerade den besten Griff in die Trickkiste erwischt hat und mit dieser Maßnahme an ein besonderes Italienspiel erinnerte….In dieser Situation war das Zwischenergebnis noch in Ordnung, doch bereits schon spürbar äußerst gefährdet, bis es nur wenige Sekunden danach noch zum vierten Male einschlug, leider erneut im eigenen Tor!

    Bei einer noch möglichen erneuten Auswechslung in der Schlussminute hätten wir zudem den Schweden die Zeit gestohlen, um ihren „Todesschuss“ ansetzen zu können.

    Ein schwacher Trost ist das Zustandekommen des Ergebnisses der Spanier gegen Frankreich, auch erst in der letzten Minute!. Auch einem Primus passiert mal so ein Patzer.
    .

  9. Dirk
    Freitag, 19. Oktober 2012 um 12:26

    Ich finde, das entscheidende von Horeni fehlt:

    „Die Erklärungen des Bundestrainers und auch des Kapitäns verfehlten nach dem 4:4 den Kern. Löw und Lahm sagten, sie wollten immer weiter lernen aus so einem Spiel. Fußball sei ein Lernspiel. Das klang wie bei Klinsmanns Amtsantritt. Aber das ist acht Jahre her. Die Mannschaft hat seither unglaublich viel gelernt. In ihren Füßen steckt mehr als genug, was es braucht, um Weltmeister zu werden, nicht zu reden von einem Vier-Tore-Vorsprung gegen Schweden. Was ihr fehlt, kann man aber kaum lernen, man muss es wollen, unbedingt.“

  10. Kai Butterweck
    Samstag, 20. Oktober 2012 um 18:41

    @günter stellwegen: ich hatte wirklich kurz überlegt….;-)

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