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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2014

Deutschland gegen Ghana – Ungewolltes Spektakel

Kai Butterweck | Montag, 23. Juni 2014 Kommentare deaktiviert für Deutschland gegen Ghana – Ungewolltes Spektakel

Joachim Löw schwitzt Blut und Wasser: Trotz klarer taktischer Marschroute entwickelt sich das Spiel gegen Ghana zu einem offenen Schlagabtausch. Außerdem: Grenzenlose Begeisterung, porentiefe TV-Reinheit und sympathische Dauerrenner

In einem fulminanten Rauf-und-runter-Spiel teilen sich Deutschland und Ghana am Ende die Punkte. Peter Ahrens und Rafael Buschmann (Spiegel Online) schwärmen: „Er wird gelitten haben bei den teilweise vogelwilden Darbietungen seiner Defensive, und dennoch: Der Faszination dieser Partie konnte sich selbst der kühle Analytiker Löw nicht entziehen. Es sind Spiele wie diese, die die Magie des Fußballs ausmachen. Ein Herauf und Herunter, Chancen im Minutenabstand, ein Spiel, das auf und ab wogte, keine Sekunde Gelegenheit zum Atemholen.“

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Diese WM ist anders

Oliver Fritsch (Zeit Online) reibt sich verwundert die Augen: „Wer im Fußball heutzutage gewinnen will, braucht System, Ordnung, Disziplin. Nur selten brechen Teams aus ihren Zwängen aus. Fußball ist das Bestreben, das Unbeherrschbare zu beherrschen. Doch diese WM ist anders. Es fallen mehr Tore, Sieg und Niederlage liegen näher beieinander als üblich. Vor allem verlieren selbst die routiniertesten Profis manchmal die Kontrolle. So wie die Deutschen gegen Ghana.“

Christian Kamp (FAZ) atmet tief durch: „Nach einem derartigen Spielverlauf mit einem Teilerfolg vom Platz zu gehen, kann psychologisch mehr wert sein als ein mit Leichtigkeit herausgespielter Sieg. Nüchtern betrachtet zeigte das Spiel vor allem zweierlei: Dieses Team ist für ein Spektakel jederzeit zu haben, aber der Erfolg hängt dabei auch an einem sehr dünnen Faden.“

Löw braucht das Zeug zur Spezialkraft

Christof Kneer (SZ) blickt gebannt in Richtung deutsche Trainerbank: „Die Besonderheiten seines aktuellen Kaders bringen es mit sich, dass Löw mehr denn je als Personalmanager gefordert wird. Er muss entscheiden, wie viele Minuten der Rekonvaleszent Schweinsteiger schon verträgt, er muss entscheiden, wie er mit dem erneut angeschlagenen Khedira verfährt, er muss entscheiden, ob ein Jobsharing auf dieser Zentralposition überhaupt möglich ist. Nie hatte Löw eine bessere Gelegenheit zu zeigen, dass er nicht nur ein guter Fußballlehrer ist. In Brasilien braucht er auch das Zeug zur Spezialkraft.“

Dirk Adam (Eurosport)rüffelt den Bundestrainer: „Spätestens in der Halbzeitpause hätte Joachim Löw erkennen müssen, dass er Khedira auswechseln muss, um mehr Druck auf Ghana auszuüben. Stattdessen entschied er sich wieder einmal anders und offenbarte damit eine alte Schwäche: Sein Coaching im Spiel. Löw erkennt Situationen zu spät und reagiert nicht angemessen.“

Joscha Weber (dw.de) sorgt sich um die deutsche Defensive: „Was die Euphorie nach dem Portugal-Spiel noch überdeckte, wurde gegen Ghana sichtbarer: Die neuformierte Abwehr aus vier Innenverteidigern ist längst nicht so sicher wie geglaubt. Erhebliche Abstimmungsschwierigkeiten, Lücken auf den Außenbahnen und Shkodran Mustafis Unerfahrenheit geben zu denken. Klares Urteil: Diese Viererkette ist noch nicht titeltauglich.“

Der alte, weise Meister

Der eingewechselte Miroslav Klose entpuppte sich wieder einmal als Retter in höchster Not. Armin Lehmann (Tagesspiegel) zieht seinen Hut: „Im asiatischen Kampfsport wäre Klose der alte, weise Meister, dem man Respekt entgegenbringt. Aber diese alten Meister sind niemals zu unterschätzen, denn sie beherrschen ihren Sport wie einen lange einstudierten Laufweg, quasi spirituell, mit offenen und geschlossenen Augen.“

Auch Stefan Osterhaus (NZZ Online) rollt dem erfahrenen Torjäger den roten Teppich aus: „Präsenz und Klasse, Routine und Treffsicherheit – Klose ist ein Faktor für den DFB, sein Wert ist nicht nur in Zahlen messbar: 133 Spiele, 70 Tore, der erfolgreichste Schütze in der Geschichte des Verbandes. Niemals war er ein Querulant. Auf einen solchen Joker mag Löw nicht verzichten, und die neue, ungewohnte Rolle füllt er sofort aus in diesem Spiel gegen Ghana, in dem die Deutschen nach Kontrolle gierten, sie aber nie erlangten.“

Das furioseste Turnier des Jahrhunderts

Doris Akrap (taz) ist seit zehn Tagen hin und weg: „Fans singen im Stadion ihre Hymnen einfach weiter, obwohl die Musik längst aufgehört hat, und Wettquoten spielen verrückt, weil selbst die Buchmacher nicht mehr wissen, wer jetzt noch Favorit ist. Es ist schon jetzt das furioseste Turnier des Jahrhunderts. Und zwar nicht nur aus fußballinternen Gründen. Das sowieso. Angefangen beim Eröffnungsspiel versetzte die erste WM-Woche durch hochspannende, hochtorige und hochtragische Spiele in Hocheuphorie.“

Ein weiteres Eigentor

Flitzer, Proteste, Transparente: Die Fifa wacht mit Argusaugen, dass sich keine dunklen Wolken in die  heimischen Wohnzimmer verirren. Jörg Rösner (Welt Online) ist entsetzt: „Drei bekannt gewordene Fifa-Eingriffe in zehn Tagen WM – Grundkenntnisse der Mathematik genügen für die Prognose, dass in den nächsten drei Wochen noch ein paar weitere Zensurversuche hinzukommen werden.  Als Veranstalter des Turniers sind diese Manipulationen des öffentlichen Bildes, formal gesehen, das gute Recht der Fifa. Trotzdem sind sie maximal ungeschickt. Und damit ein weiteres Eigentor in der fast täglich länger werdenden Liste der Fifa-Peinlichkeiten.“

Sie halten ihre Köpfe in jeden Gewaltschuss

Neben der eigenen Mannschaft entwickelt der Zuschauer im Normalfall auch Sympathien für andere Teams während einer WM. Ferdinand Dyck (n-tv) präsentiert ein Paradebeispiel: „Die Australier rennen, bis der Schiri pfeift, und das bei Regen, Tropensonne oder Schneesturm. Sie halten ihre Köpfe in jeden Gewaltschuss und, wenn es sein muss, auch mal direkt in die gegnerischen Stollen. Am Ende werden sie dafür, wie auch in diesem Jahr wieder, viel zu selten mit Punkten belohnt. Vor acht Jahren mussten sie sich dazu auch noch den Achtelfinal-Sieg gegen Italien in der letzten Sekunde wegpfeifen lassen. Trotzdem bleiben die Aussie-Fans fast immer entspannt und gut gelaunt und schreien sich die Seele aus dem Leib. Nur Massenmörder und Eisschränke können deshalb kein Herz haben für die Männer aus Down Under.“

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