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WM 2018

WM 2018 – Katerstimmung

Kai Butterweck | Montag, 18. Juni 2018 Kommentare deaktiviert für WM 2018 – Katerstimmung

Im ersten WM-Gruppenspiel zieht die Elf von Jogi Löw gegen hochmotivierte Mexikaner den Kürzeren. Die Presse holt erwartungsgemäß den Knüppel aus dem Sack

Erstmals seit 36 Jahren startet die deutsche Nationalmannschaft mit einer Niederlage in ein WM-Turnier. Oliver Fritsch (Zeit Online) ist geschockt: „Nach einer bisweilen unfassbar schlechten Leistung unterlagen die behäbigen Weltmeister Mexiko, das dieses Auftaktspiel sehr verdient gewann. Man kann ja mal verlieren, aber dieses 0:1 war vielleicht mehr als eine Niederlage. Sie enthielt ein paar alarmierende Signale. Doch gemessen an den Reaktionen der Deutschen ist nicht klar, ob sie bei allen angekommen sind.“

Die Mannschaft bei der Ehre packen

Lars Gartenschläger (Welt) klopft beim Bundestrainer an die Tür: „Löw wird nun nicht alles infrage stellen und über den Haufen werfen. Dies hat sein Umgang mit Problemen in der Vergangenheit gezeigt. Doch es ist wichtig, dass er Zeichen setzt, seine Mannschaft bei der Ehre packt, an ihre Mentalität und den Siegeswillen appelliert.“

Bei Philipp Selldorf (SZ) schrillen die Alarmglocken: „Löw hat sich zum Einstieg ins Turnier zu sehr darauf verlassen, dass seine Auswahl zuvor meist dann, wenn sie in die Pflicht genommen wurde, ihre Kräfte bündeln konnte. Jetzt aber muss er abrupt einen Richtungswechsel inszenieren. Es geht in diesem Turnier nicht mehr lange weiter, wenn er so weitermacht wie in seinen zwölf Amtsjahren zuvor.

Michael Rosentritt (Tagesspiegel) schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: „Löw und sein Team haben ihre Weckrufe gehabt. Gegen die Fußballgiganten Österreich und Saudi Arabien. Angekommen ist da offenbar nichts. Der Auftritt des Titelverteidigers in der ersten Halbzeit wirkte unbeholfen und teilweise sogar selbstgefällig wie so mancher in seinem Gehabe und Gerede in den vergangenen Tagen der Turniervorbereitung. Vielleicht tut die Niederlage dem einen oder anderen einmal gut, der sich abgehoben gab oder so spielte.“

Jan Christian Müller (FR) nimmt sich das deutsche Mittelfeld zur Brust: „Das auffälligste Problem im deutschen Spiel: Die beiden defensiven Mittelfeldspieler Sami Khedira und Toni Kroos standen vollkommen neben sich, sie sicherten sich weder gegenseitig ausreichend ab noch waren sie in der Lage, dem Angriffsspiel Statik zu verleihen. Immer wieder wurden sie überlaufen, die Schnelligkeitsdefizite wurden dabei offenkundig.“

Georg Linsenmann (Stuttgarter Zeitung) mischt sich in Stuttgart unter die Public-Viewing-Meute: „Das Spiel begann. Bierbecher wanderten über die Köpfe. Die Fans aber schienen nicht so richtig zu glauben, was ihnen dann von Jogis Jungs geboten wurde. Sparsamen Beifall gab es fast nur für den Keeper Manuel Neuer, wenn der mal wieder einen Ball sicherte.“

Christoph Kramer läuft aus dem Stand auf Betriebstemperatur

Die TV-Berichterstattung ist für einige Fans daheim mindestens genauso wichtig wie das Spiel auf dem grünen Rasen. Ingo Scheel (stern.de) stellt den ZDF-Verantwortlichen die erste „Gut-gemacht-Urkunde“ aus: „Eine Stunde noch bis zum Spiel, und was den Deutschen später beim Kick gegen Mexiko fehlt – die Vorberichterstattung im Zweiten hat davon reichlich: Esprit, Experten. Und Holger Stanislawski. Studio-Rookie Christoph Kramer läuft aus dem Stand auf Betriebstempertatur.“

Das Nicht-Mitsingen der deutschen Nationalhymne stößt bei vielen deutschen Stammtisch-Fans auf Kritik. Matthias Dell (deutschlandfunk.de) stellt sich schützend vor die Herren Gündogan, Özil und Co: „Der schlichte Nationalismus einer Hymne aus dem 19. Jahrhundert erzählt einem Ilkay Gündogan einfach nichts über sein interkulturelles Leben im Jahr 2018 zwischen türkischem Elternhaus, deutscher Sozialisation und englischem Arbeitsplatz.“

Fehlende Euphorie und schlechte WM-Stimmung? Pustekuchen! Jan Christian Müller (blog-de.) kommt in Moskau aus dem Feiern gar nicht mehr raus: „Die Fans aus aller Welt trafen sich in jeder Ecke der Stadt, in unserer Hotelbar veranstalteten mexikanische Fans wilde Partys, die S-Bahn rockten die Argentinier, und vor dem Spiel Argentinien gegen Island herrschte am Stadion eine ausgelassene Stimmung, wie ich es in meinen nunmehr 20 Jahren als Berichterstatter von Welt- und Europameisterschaften noch nie erlebt habe.“

Mit dem Fahrrad von Ägypten nach Russland

Niklas Levinsohn (11Freunde) beschäftigt sich mit besonders fußballverrückten WM-Fans: „Der Ägypter Mohamed Nufal ist bereits im April nach Russland aufgebrochen. Nicht weil er sich im Datum geirrt hatte, sondern weil der 24-Jährige aus Kairo mit dem Fahrrad aufbrach. Auf dem Tahrir-Platz gab er seiner Mutter einen Abschiedskuss, schwang sich auf den Sattel und fuhr los, um pünktlich im 5000 km entfernten Moskau anzukommen, wenn Ägypten nach 28 Jahren Abstinenz auf die WM-Bühne zurückkehrt.“

In Russland könnte die WM für vernachlässigte Regionen einen Aufschwung bedeuten. Gesine Dornblüth (deutschlandfunk.de) ist in Rostow vor Ort: „15 Prozent der öffentlichen Busse und Bahnen wurden im Rahmen der WM erneuert, ebenso fast die Hälfte der Krankenwagen, diverse Grünanlagen. Davon haben auch die Bürger etwas. Dazu kommen aber immense Ausgaben aus den öffentlichen Haushalten allein für die Betreuung der Fans. Die Fanmeile zum Beispiel wurde mit knapp 2,5 Millionen Euro veranschlagt, allein das kostenlose WLAN dort fällt mit 160.000 Euro ins Gewicht.“

Während alle mit der WM beschäftigt sind, nutzt die Politik die Gelegenheit, unangenehme Fragen vom Tisch zu räumen. Christin Schmidt (maz-online.de) ist genervt: „Es ist der perfekte Zeitpunkt, um unbequeme Gesetze und Reformen durchzubringen. Das haben all jene, die noch nicht komplett vom WM-Rummel eingelullt sind, am Freitag erlebt. Da hat die Große Koalition sich gerade noch in Sachen Flüchtlingspolitik gezofft und nun demonstrieren CDU und SPD plötzlich Einigkeit und beschließen in einem Hauruck-Akt im Schatten der WM die Anhebung der Parteienfinanzierung aus Steuergeldern.“

Kurz vor dem ersten Turnier-Anpfiff wird der britische LGBTI-Aktivist Peter Tatchell auf dem Roten Platz in Moskau festgenommen. Martin Reichert (taz) zieht die Augenbrauen zusammen: „Sich offen gegen Homosexualität zu positionieren gehört in Putins Russland längst zum guten nationalistischen Ton und gilt, unterstützt von der russisch-orthodoxen Kirche, vielen als identitätstiftend. Man grenzt sich ab zu „Gayeurope“.“

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