WM 2018
WM 2018 – Irgendwo im Nirgendwo
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| Donnerstag, 5. Juli 2018Die Presse beschäftigt sich mit verlassenen Orten, narkotisierendem Gekicke und dem Methusalix von Uruguay
Andreas Bock (Tagesspiegel) geht abseits der WM-Metropolen auf Erkundungstour: „Es gibt hier Orte, die heißen Chernay Gryaz, schwarzer Dreck. Verlassene Orte wie Jeljakowo, 500 Kilometer nordwestlich von Moskau, in denen nur noch ein Bewohner lebt. Orte wie Tschudowo, wo 40 Prozent der Kinder keine Schule besuchen, aber mit 13 oder 14 Jahren verheiratet werden. Die großen Städte wirken in dieser Region wie Magneten. Nach und nach ziehen die Menschen weg, sie gehen nach Norden (Sankt Petersburg), nach Süden (Moskau) oder wenigstens ins 30 Kilometer entfernte Twer, eine Stadt mit Einkaufsstraße, Bars und Jobs.“
Stefanie Markert (deutschlandfunk.de) steht im Moskauer Nirgendwo am Spielfeldrand und verfolgt ein Fußballspiel der Frauen: „Vulkan gegen Spartak 2 heißt die Partie. Die Frauen-Erstligisten spielen im Oktoberstadion. Das liegt im Nordwesten Moskaus am Ufer des Moskwa-Flusses. Spartak 2 gehört zur Sportschule des russischen Männer-Rekordmeisters. Das Vulkan-Team spielt seine erste Meisterschaft. Es trägt den Namen des Sponsors, einer Baufirma aus dem 7000 Kilometer entfernten Kamtschatka.“
Ralph Grosse-Bley (focus.de) schwört auf russische Airlines: „Knapp zwei Stunden hat der Flieger nach Nischni Nowgorod gebraucht. Die Maschine ist voll – und pünktlich. Das muss ich sagen: Bisher waren alle Flüge on time. Egal, ob mit Belavia, der sibirischen S7, mit Ural Airlines, Aeroflot oder Utair. Und die Maschinen sind moderner als die von Ryanair, mit der ich kurz vor der WM das zweifelhafte Vergnügen hatte zu fliegen. Drei Stunden Verspätung, null Info – und dann diese Durchsage an Bord: Für die „kleine Verspätung“ spendiert Ryanair allen Passagieren als Entschädigung – einen Becher Wasser!“
Die Vorstellung taugt allenfalls für hysterische Spiegel-Titelbilder
Spazieren Politik und Fußball hierzulande Hand in Hand durch dick und dünn? Philipp Köster (11Freunde) hat da so seine Zweifel: „Viel ist in den letzten Tagen von den Parallelen zwischen Fußball und Politik geschwafelt worden. Jogi Löw sei wie Angela Merkel und das Land wie die Nationalelf, träge, entscheidungsschwach und überheblich. Nun taugt die Vorstellung, es gebe eine deutsche Universalbequemlichkeit, die gleichermaßen Politik, Wirtschaft und Politik ergriffen habe, allenfalls für hysterische Spiegel-Titelbilder. Ansonsten ist die Beziehung zwischen Politik und Fußball die Geschichte einer einseitigen Anbiederung, die in den Achtziger Jahren ihren Anfang nahm.“
Im Zuge der Anti-Welle, die gerade über die Köpfe der beiden TV-Kommentatoren Steffen Simon und Claudia Neumann schwappt, stellt Jörg Winterfeldt (Berliner Zeitung) fest: „Das Internet bietet eine Plattform auf der sich jedermann unmittelbar äußern kann. Das ist einerseits ein demokratischer Segen, weil es der Meinungsfreiheit eine früher unbekannte Plattform bietet. Andererseits ist es aber auch ein Risiko, weil Publikationsamateure plötzlich wie die Profis im öffentlichen Raum argumentieren – ohne Netz und doppelten Boden, ohne Chef vom Dienst, ohne Korrektorat, ohne juristische Abteilung. Wie sehr sich das zum Problem ausgewachsen hat, ist schon aktenkundig geworden, lange bevor die AfD die verbalen Entgleisungen auf übelste Weise und höchster politischer Ebene hoffähig gemacht hat.“
England trifft im Viertelfinale auf widerstandsfähige Schweden. Stephan Klemm (ksta.de) deckt sich schon mal vorsorglich mit Coffein-Tabletten ein: „Optisch ist das Prinzip Schweden eine Zumutung – Einschlafgefahr auch am Nachmittag. Riesen in der Abwehr, Läufer im Mittelfeld, groß auch sie, zwei Zonen à fünf Mann, die sie mit limitierten Fußballern dicht stellen, zu denen in der aktuellen Form auch Emil Forsberg gehört. Sie hoffen auf Abpraller, die sie nach vorne jagen können zu einem Stürmer namens Toivonen, der beim FC Toulouse in der gesamten vergangenen Saison kein einziges Tor geschossen hat.“
Das Turnier der Ecken, Freistöße und Elfmeter
Marcus Krämer (Spiegel Online) gibt Ballbesitz-Teams wie Spanien und Deutschland Taktik-Tipps für die Zukunft mit auf den Weg: „Die WM in Russland ist das Turnier der Ecken, Freistöße und Elfmeter. So kommen Außenseiter leicht zu Toren, aber auch Ballbesitzmannschaften müssen dieser leicht zu trainierenden Spielform mehr Bedeutung beimessen. Egal ob kurz ausgeführt, eine bestimmte Passfolge zur Vorbereitung der Flanke oder flache Hereingaben – es braucht nur Ideen und einen Trainer, der das üben lässt.“
Daniel Schmitt (FR) verneigt sich vor der uruguayischen Trainerbank: „Nach der WM in Russland läuft der Vertrag von Tabárez aus. Der Verband will den Erfolgstrainer natürlich halten, vermutlich wird es der „ewige Oscar“ aus Rücksicht auf seine Gesundheit aber doch lieber sein lassen mit einer Verlängerung. Irgendwie schade. Die Geschichte des Methusalix von Uruguay, der mit seinen unbeugsamen Draufgängern Luis Suarez und Edinson Cavani die große Fußballwelt aufmischt, hat Charme. Bleibt wohl nur die Hoffnung, dass Oscar Tabárez eine Flasche Zaubertrank findet.“
Rumms! Peng! Alles klar!
Andreas Rüttenauer (taz) outet sich als Elfmeterschießen-Fan: „Nicht jede Mannschaft beherrscht diese Disziplin. Manche Teams brauchen wie die Engländer Jahrzehnte, um sie zu erlernen. Am Ende gewinnt nicht die Mannschaft, die besser Fußball spielen kann, es gewinnt die Mannschaft, die im Elfmeterschießen besser ist. Fußballpuristen mögen das bedauern. Da siegt kein ausgeklügeltes Positionsspiel gegen athletisches Pressing. Da siegt ganz einfach, wer häufiger ins Schwarze trifft. Rumms! Peng! Alles klar!“
WM-Kolumnist Berti Vogts (RP Online) klopft dem englischen Cheftrainer anerkennend auf die Schultern: „Wer mir sehr imponiert ist Gareth Southgate – und das nicht nur, weil er als erster englischer Trainer ein Elfmeterschießen gewonnen hat. Er hat das übliche 4-4-2 der Engländer aufgelöst und eine starke Fünferkette aufgebaut. Klasse! Und dann die Stärke bei den Standards, da zittert jeder Gegner schon, bevor der Ball gespielt wird.“
Im Interview mit taz.de nimmt sich Schiedsrichter-Beobachter Andreas Thielmann Schauspieler und Störenfriede zur Brust: „Das, was Neymar macht, schadet dem Fußball. All das zeigt, dass der Fußball immer emotionaler und öffentlichkeitswirksamer wird und dass immer mehr Show dazugehört.“