WM 2018
WM 2018 – Frankreich auf dem Fußball-Thron
| Montag, 16. Juli 2018Frankreich ist Weltmeister. „Vive la France!“, schallt es durch die Straßen von Paris. Die Presse gratuliert
Nach einem ereignisreichen Finale erklimmt Frankreich den Fußball-Gipfel. Christian Schubert (FAZ) mischt sich in Paris unters Partyvolk: „Hier feierte eine Nation ihre Comeback – nicht nur auf dem Fußballplatz. Jahrelange Wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, politischer Stillstand – all diese Missstände mögen wenig mit Fußball zu tun haben, doch sie gehören zu einer Analyse dieses kollektiven Freudenausbruchs. Eine Nation mit einer verletzten Volksseele feiert hier eine neue Botschaft: „Wir sind wieder wer“.“
Das letzte Lagerfeuer, das die gesamte Gesellschaft zusammenbringt
Joscha Weber (dw.com) weckt im Hier und Jetzt Erinnerungen: „Das Symbol der ethnisch gemischten Nationalelf, die gemeinsam Grenzen überwindet und gewinnt wurde 1998 überall gefeiert. Inzwischen ist es als Momentaufnahme entlarvt, die eben doch nicht für das alltägliche Leben in Frankreich steht. Die soziale Kluft existiert weiter, daran konnte damals weder Lilian Thuram etwas ändern noch kann es heute Kylian Mbappé. Und trotzdem singen die Franzosen hier und heute wieder vereint, vor diesem wohl letzten Lagerfeuer, das die gesamte Gesellschaft zusammenbringt.“
Frank Nägele (ksta.de) gratuliert: „Die große Nation hat den Titel nicht zufällig gewonnen. Sie verfügte über den Kader mit dem größten Talent, Produkt eines konsequenten Ausbildungsplanes. Trainer Didier Deschamps hat nach Jahren des nicht vollständigen Gelingens den Erfolg mit einer sozusagen mathematischen Formel gefunden: Größtmögliche Veranlagung mal geringstes Risiko, geteilt durch gegenseitige Wertschätzung.“
Pogba war in den entscheidenden Momenten zur Stelle
Constantin Eckner (n-tv.de) kauft sich ein Pogba-Trikot: „Der 25-Jährige ist mittlerweile gereift. Das stellte er gerade in den letzten vier Wochen unter Beweis. Denn obwohl er so manche Freiheit im französischen Spielsystem genoss, waren undisziplinierte Ausflüge unter Didier Deschamps nicht erlaubt. Dafür legt der Nationaltrainer viel zu viel Wert auf Stabilität und Absicherung. Frankreich gewann die Weltmeisterschaft gewiss nicht mit einem fußballerischen Feuerwerk.Pogba ordnete sich dem gemeinsamen Ziel unter. Er war aber in den entscheidenden Momenten zur Stelle. Tauchte er noch in der Gruppenphase ab, leuchtete sein Stern ab dem Achtelfinale immer heller.“
Trotz der Niederlage macht man in Zagreb die Nacht zum Tag. Max Bosse (Berliner Zeitung) ist mittendrin statt nur dabei: „Sie tanzten auf dem Ban-Jelacic-Platz, wo das größte Public Viewing (eigentlich das größte Man-sieht-die-Leinwand-vor-lauter-Menschen nicht) veranstaltet wurde, sie tanzten in den Gassen der mittelalterlichen Oberstadt, sie tanzten natürlich in all den Bars. In den vergangenen vier Wochen ist in Kroatien etwas entstanden, für das es keine Worte gibt. Tanzen, das war die einzige Ausdrucksmöglichkeit.“
Uruguay, Belgien, Island und Kroatien zeigten den großen Nationen, dass man auch im kleinen Kreise Großes bewirken kann. Johannes Kopp (taz) kennt das Erfolgsrezept der „Kleinen“: „Bevölkerungsarme Staaten bestechen durch ihre Effizienz. Wenn man es klug anstellt, kann gerade aus einem kleinen Reservoir ein Weltklasseteam entstehen. Ein Vorteil gegenüber Ländern und Vereinen mit großen Ressourcen ist die Flexibilität. Es regiert weniger Schema F als das gute Auge. Den kleinen, schmächtigen Jungen namens Luka Modrić, der von anderen Vereinen zuvor abgewiesen wurde, nahm man bei Zagreb einst auf und bildete ihn zum Weltklassespieler aus.“
Wochenlang meckerten Spieler, Trainer und Fans über das sportliche Niveau der WM. Oliver Fritsch (Zeit Online) weiß, warum es auf dem WM-Rasen nur selten rauf und runter ging: „In Vereinen trainieren die Spieler viel öfter zusammen, Manager kaufen Fußballer, um ihre Kader zu entwickeln. Ländermannschaften hingegen treffen sich nur ein paar Wochen im Jahr. Überhaupt arbeiten die besten Trainer, Scouts oder Analysten nicht bei Nationalverbänden, sondern bei Topclubs. Vereinsteams sind daher besser organisiert und eingespielter als Nationalmannschaften. Real Madrid würde gegen Frankreich gewinnen, der FC Bayern gegen Kroatien.“
Das ist respektlos
Kurz nach dem Abpfiff überreicht Kommentator Béla Rethy den beiden feiernden Les Bleus-Stars Paul Pogba und Kylian Mbappé ihre Eintrittskarten in die Erwachsenwelt. Philipp Awounou (Spiegel Online) zieht die Augenbrauen zusammen: „Zusammen sind Pogba und Mbappé Weltmeister geworden in einem französischen Team, das zu Recht für seine mannschaftliche Geschlossenheit und taktische Disziplin gerühmt wird. Beide Spieler waren Leistungsträger auf dem Weg zum Titel, erzielten Tore im Finale. Doch ausgerechnet im größten Moment ihrer Karriere spricht Réthy über Pogba und Mbappé, als wären sie schwer erziehbare Kinder. Das ist nicht nur deplatziert. Das ist respektlos.“
Palina Rojinski war wochenlang für die ARD in Moskau unterwegs. Nicht jeder verfolgte das Treiben der Moderatorin mit einem Lächeln im Gesicht. Carin Pawlak (focus.de) nimmt in puncto Kritik kein Blatt vor den Mund: „Wie fleischgewordene Fake News kam immer wieder Palina Rojinski daher. Über „Land und Leute“ sollte die russisch-deutsche Moderatorin berichten. Gott, war das arg! Da gleitet die ARD-Reporterin mit der Rolltreppe in die Moskauer Metro hinunter und tut gerade so, als würde sie über nichts weniger als ein Weltwunder berichten. Zumindest, so hört man, war sie hübsch anzusehen. Etwa, als sie aufs Radl steigt und fährt und fährt – und ihre hervorstechendsten Merkmale so fröhliche Hüpfburg-Bewegungen vollführen, dass mancher Mann seine GEZ-Gebühren ausnahmsweise gerne bezahlt hat.“
Die WM ist vorbei. Wie geht es nun in Russland weiter? Wendet sich alles zum Guten? Christoph Cöln (Welt) hält den Ball flach: „Die Stadien waren top, die Organisation aus einem Guss und die Infrastruktur fast überall hervorragend. Es war vielleicht nicht die beste, aber eine sehr gute WM. Putin gab sich keine Blöße. Man hatte es auch nicht anders erwartet. Die Probleme, die Russland hat, und die Probleme, die die Welt mit Russland hat, sind auch weiterhin ungelöst. Das hat nichts mit den Mythen der anderen und nichts mit dem russischen Volk zu tun. Sehr wohl aber mit der Wahrnehmung des Mannes im Kreml.“
Bunt statt grau
Juri Rescheto (dw.com) zeigt mit dem Fazit-Daumen nach oben: „Hat diese WM Russland verändert? Ja. Nachhaltig? Wohl nicht. Aber das Turnier machte das Land zumindest für einen Monat bunt statt grau, fröhlich statt grimmig, mutig statt ängstlich. Sowohl für die Außenwelt als auch für die Menschen, die hier leben. Selbst wenn ich dieser Tage unter den vielen Farben der Fans das Grau der russischen Polizei sah, kam mir als Erstes ausnahmsweise nicht die Einschränkung der Meinungsfreiheit in den Sinn. Sondern der Gedanke an die Sicherheit des größten Sportfests, das Russland gemeistert hat. Mit Erfolg.“
Benedikt Niessen (watson.de) hingegen winkt ab: „Schirmherr Putin lieferte ein Turnier ohne Komplikationen, ohne Hooligans, ohne Aufschrei. Er präsentierte der Welt ein begeisterungsfähiges Land ohne Probleme. Natürlich sagte Fifa-Boss Infantino: „Es ist die beste Weltmeisterschaft, die jemals stattgefunden hat.“ Da vergaßen viele, dass in Russland unter Putin „die größte Menschenrechtskrise seit der Sowjet-Ära“ herrsche, wie „Human Rights Watch“ zuletzt erinnerte. Putin wird es egal sein.“
Der Bundestagsabgeordnete und Sprecher für Menschenrechte Michael Brand (FR) ist gespannt: „Mit der WM ist nur eine kurze Ruhepause für die Opposition in Russland eingetreten. Während der Spiele gab es laut Putin keine Prozesse – mehr nicht. Die nur kurze Verschnaufpause in Russland ist vorbei. Jetzt muss sich beweisen, ob das Thema Menschenrechte mehr als zu Lippenbekenntnissen taugt. Die Zeit der Gleichgültigkeit sollte endlich vorbei sein.“
Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky darüber, wie die WM das Weltbild seiner Landsleute verändert hat: „Wenn man Propaganda und persönliche Erlebnisse zur Auswahl hat, dann sollte sich doch die eigene Erfahrung durchsetzen. Moderatoren des Staats-Fernsehens wie Dmitri Kisseljow werden einen schwereren Job haben, die Russen wieder davon zu überzeugen, dass die Deutschen und die Briten böse sind. Denn sie spazierten auf unseren Straßen, und sie waren freundlich.“
Kommentare
2 Kommentare zu “WM 2018 – Frankreich auf dem Fußball-Thron”
Donnerstag, 26. Juli 2018 um 09:35
Wer weiß eigentlich, daß
Public Viewing in England für Leichenschau steht?
ein furchtbares Bild!
Freitag, 17. August 2018 um 18:36
Manchmal wird in England das PV so bezeichnet.
Nach dem frühzeitigen WM-Out Deutschlands und
dem Rücktritt Özils scheinen sich auch deutsche Medien und ihre Follower auf dieses Bild geeinigt zu haben. It`s a trauerspiel.