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EM 2022 – England im Rausch, Deutschland im Tal der Tränen
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| Montag, 1. August 2022Die Presse beschäftigt sich intensiv mit dem packenden Ende der Frauenfußball-Europameisterschaft in England
Nach einem spannenden EM-Finale reißen die „Lionesses“ jubelnd die Arme in die Luft und holen sich den begehrten Pott. Nico Horn (Zeit Online) gratuliert: „Der bisher letzte kollektive englische Rausch endete in einer dramatischen Finalniederlage im Wembley gegen Italien. Der davor im Brexit. Und diesmal, wieder bei einem Finale im Wembley? Dieses Mal gewann England. Kurz dachte man, sie wären so töricht und würden es wirklich auf ein Elfmeterschießen ankommen lassen. Doch dann schossen Chloe Kelly das 2:1-Siegtor zehn Minuten vor dem Ende der Verlängerung. Und im größten aller Fußballtempel begann die Party, summen Sie doch einfach mit: It’s coming home. Sweet Caroline. Just can’t get enough.“
Charlotte Bruch (Tagesspiegel) ist vom großen Ganzen begeistert: „Abseits aller neuen Rekorde in Sachen Zuschauer oder Einschaltquoten war diese Fußball-Europameisterschaft der Frauen mitreißend wie noch nie. Das Finale in Wembley vor ausverkauftem Haus war der würdige Rahmen für ein sportlich hochklassiges Turnier und dürfte spätestens nach dieser Leistung auch die letzten kritischen Stimmen verstummen lassen. Bei dem 2:1-Sieg des Gastgebers über Deutschland zeigten die beiden besten Teams der EM sowohl in taktischer als auch technischer Hinsicht ihr ganzes Können.“
Beste Werbung für den Frauenfußball
Lisa de Ruiter (sky.de) feiert die Verliererinnen: „Die Nationalmannschaft hat ein Land in den Bann gezogen, Menschen vor die Fernseher gelockt, die mit Frauenfußball vorher nichts zu tun haben wollten. Sie haben gezeigt, wie sich der Sport und vor allem auch das deutsche Team entwickelt haben. Sie haben eine Euphorie ausgelöst, die vorher undenkbar war. Sie haben gezeigt, was Zusammenhalt bedeutet. Die beste Werbung für den Frauenfußball, die es hätte geben können.“
Frank Hellmann (FR Online) beschäftigt sich mit Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg: „Es ist ihr ein wichtiges Anliegen, den Volkssport Fußball einfach ganzheitlicher zu betrachten. Und es ihr auch abzunehmen, dass mit diesem Turnier erst etwas gewonnen ist, wenn wirklich ein nachhaltiger Effekt bleibt. In ein paar Wochen wird man es wissen: Sind wirklich 20 000, 30 000 Menschen am 16. September in den Stadtwald geströmt, wenn die Frauen von Eintracht Frankfurt gegen den FC Bayern ihr Bundesliga-Eröffnungsspiel bestritten haben? Sind dann auch mal 4000 Fans bei einem Heimspiel des VfL Wolfsburg? Verdient hätten es Protagonistinnen, die authentisch und aufrichtig rüberkommen.“
Zügel in der Hand behalten
Heiko Ostendorp (sportbuzzer.de) verneigt sich vor der deutschen Trainerbank: „Zur EM hat sich Voss-Tecklenburg ein Stück weit neu erfunden, Verantwortung abgegeben und trotzdem die Zügel in der Hand behalten. Sie fand stets die richtigen und einordnenden Worte zu verschiedenen Themen, auch außersportlich. An ihr können sich viele Führungspersonen künftig gerne ein Beispiel nehmen.“
Nach einer euphorischen Europameisterschaft steht die Frage im Raum: Kann der Frauenfußball den Männern den Rang ablaufen? Robert Hiersemann (t-online) streckt beide Daumen nach oben: „Die Fußballerinnen und ihre Trainerin Martina Voss-Tecklenburg begeistern sportlich, sind bodenständig und extrem sympathisch. Die Herren nicht. Die Frauen sind weniger mediengeschult, ihre Natürlichkeit spürt man in Interviews, auch das gefällt den Zuschauern. Und es fallen sogar Weltklasse-Tore durch Alexandra Popp – einer richtigen Stürmerin. Das gab es bei den Männern seit dem Abgang von Miroslav Klose 2014 nicht mehr. Wenn das Team von Bundestrainer Hansi Flick nicht aufpasst, werden sich künftig viele Fußballfans umorientieren.“
Ein absurder Vergleich
Der Kollege Florian Wichert (t-online) sieht das anders: „Nachdem sich der Frauenfußball in anderen Ländern durchaus positiv entwickelt hat, wird es in Deutschland – mal wieder – nichts mit einem Boom. Und über einen Vergleich mit dem Männerfußball brauchen wir gar nicht erst zu reden. Der ist absurd.“
Anna Dreher (SZ) macht dem DFB Druck: „So detailliert die Pläne des DFB sein mögen, es bleibt die Frage, wie konsequent sie umgesetzt werden, begonnen bei der Basis, an Schulen und Vereinen, wo Kinder für diesen Sport begeistert werden müssen. Auch die Unterstützung der großen Männerfußball-Klubs wird es hier brauchen, von denen acht zur neuen Saison in der Frauen-Bundesliga vertreten sind. Ausreden gibt es keine mehr, das Interesse ist da. Und eine bessere Steilvorlage, als es bis ins EM-Finale geschafft zu haben, hätten die Nationalspielerinnen kaum geben können. Dass der Verband parallel zum Frauen-Finale drei Männerspiele seines DFB-Pokals angesetzt hat, ist allerdings auch das beste Indiz, wie weit der Weg noch ist – auch in den Köpfen.“
Justin Kraft (spox.com) befasst sich mit der Branchenentwicklung auf der Insel: „Auch im Land der frisch gebackenen Europameisterinnen ist längst noch nicht alles als Goldstandard zu betrachten. Trotzdem gehen sie bei vielen Themen voran. Die niedrigsten Gehälter in der englischen Women’s Super League liegen bei rund 23.000 Euro brutto im Jahr. Das ist zwar kein Jahreseinkommen, von dem es sich sorgenfrei leben lässt, aber es ist eben auch das untere Ende der Tabelle. In Sachen Professionalisierung hat England schon vor einigen Jahren entscheidende Schritte nach vorn gemacht – und belohnt sich gewissermaßen nun mit dem Titel bei der Heim-EM.“