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Rudi Völler, „Anti-Theoretiker“

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Rudi Völler, „Anti-Theoretiker“

em>Rudi Völler, „Anti-Theoretiker“ (FAZ) – „Das Fussball-Feuer aus dem Schwabenland steckt den ganzen Rest der Mannschaft an“ (NZZ) – Bobic und Wörns werden endlich anerkannt

of Die deutsche Nationalmannschaft hat sich für die EM-Endrunde 2004 in Portugal qualifiziert; auf den Sportseiten der Tageszeitungen gibt es viele Gewinner: erstens Rudi Völler, dessen pragmatischen Führungs-Stil Michael Horeni in der FAZ beschreibt: „Wie Fußball aussehen soll, darüber nur ein Wort zu verlieren, hält er für unsinnig. Visionen sind für den Teamchef eher Krankheitsbilder.Immer wieder sind gesellschaftspolitische Parallelen zwischen dem Fußball und der Politik, zwischen Bundestrainern und Bundeskanzlern gezogen worden. Wenn es aktuell eine geben sollte bei Völler und Schröder, dann wäre es der erkennbare Widerwille für weitreichende Handlungsbegründungen in einer Zeit, die dringend nach Reformen verlangt. Doch wie kein anderer seiner Vorgänger hat der Anti-Theoretiker Völler auf dem Weg zur EM und WM die Nationalmannschaft umgekrempelt.“

Zweitens die jungen, abgeklärten Spieler Christian Rahn (Hamburger SV), „von HSV-Coach Jara gewogen und für zu leicht befunden“ (FR) sowie die Stuttgarter Kevin Kuranyi und Andreas Hinkel. „Das Fussball-Feuer aus dem Schwabenland steckte den ganzen Rest der Mannschaft an“, schreibt die NZZ, und die taz freut sich über das (geglückte) Ende der Qualifikation: „Kuranyi, Protagonist einer neuen, selbstbewussten Jugendlichkeit im DFB-Team und eindeutiger Gewinner der langen, mitunter leidvollen Qualifikation.“ Nach einem Fußball-Jahr voller Sorge und Verdruss blickt die FAZ nach vorne: „Die Zukunft von Völlers Team hat gerade erst begonnen.“

Drittens die „alten“, frischen Spieler Fredi Bobic und Christian Wörns, die in der Nationalmannschaft noch nie so angesehen waren wie heute. „Wörns ist Deutschlands heimlichster Leistungsträger“, urteilt die BLZ über den Abwehrspieler, den Experten- und Stammtischrunden schon mal für Niederlagen verantwortlich machen, bei denen er gar nicht auf dem Spielfeld steht.

Umbruch im Nationalteam

Matti Lieske (taz 13.10.) sah “eine Partie, die noch einmal alles enthielt, was das Team von Rudi Völler derzeit charakterisiert: Gegen einen Kontrahenten, der solides europäisches Mittelmaß verkörpert, eine furiose Anfangsphase mit einem überragenden Michael Ballack, flinkfüßigem Flügelspiel und einigen Torchancen; dann ein quälender Mittelteil, in dem die Kontrolle des Spiels abgegeben wurde, weil man sich zu weit zurück zog, was Völler anschließend selbstkritisch als taktischen Fehler eingestand; schließlich eine versöhnliche Schlussphase gegen ein isländisches Team, das, weil es gewinnen musste, wesentlich offensiver als im Hinspiel auftrat, was den Deutschen sehr entgegenkam. Ein Match also, das man souverän gewinnt, wenn es, glücklich läuft; das aber leicht zum Alptraum mutieren kann, wenn es eine ungünstige Wendung nimmt – der Schiedsrichter das 1:1 der Isländer in der 58. Minute nicht wegen Foulspiels annulliert. Da hatten wir großes Glück, räumte der Teamchef ein, der mit jeder Pore seines geradezu Waldi-artig entspannten Gesichtes riesenhafte Erleichterung signalisierte. Nach dem Sterntaler-Erlebnis der WM 2002 hatte ihm vor der EM-Qualifikation in einer nominell puppenleichten Gruppe mächtig gegraust. Diese nun geschafft zu haben, ohne in der Relegation potenzielle Kontrahenten wie Niederlande, Spanien, Türkei oder Russland aus dem Weg räumen zu müssen, erfüllt Völler mit berechtigtem Stolz und verleiht seinen Tiraden gegen die Garde der Alt-Nörgler noch nachträglich zusätzliche Substanz. Hinzu kommt, dass er weit schneller und reibungsloser als erwartet einen Umbruch im Nationalteam eingeleitet hat.“

Michael Horeni (FAZ 13.10.) fühlt sich an gute Zeiten erinnert: “Dieses Spiel hätte es so gar nicht geben dürfen. Zumindest nicht in Deutschland, nicht im Jahr 2003 und nicht unter Rudi Völler. Denn solche Vorstellungen gehören eigentlich nicht mehr in die aktuelle deutsche Fußball-Welt. Die entscheidende Qualifikationsbegegnung schien vielmehr einer längst vergangenen Zeit entlehnt, in der es noch große Fußball-Nationen gab und krasse Außenseiter und sich die Dinge stets so nahtlos ineinanderfügten, wie es das Publikum erwartet: mit der ersten Chance nach ein paar Sekunden, mit dem ersten Tor nach neun Minuten, dem zweiten Treffer nach vielen Chancen zur rechten Zeit in der zweiten Halbzeit, dem verdienten 3:0 lange vor dem Abpfiff – und mit noch vielen weiteren schönen Kombinationen und Torgelegenheiten zu den allesamt wunderbar herausgespielten Treffern. Dazu gesellten sich wie früher nach dem Abpfiff eine Mannschaft und ein Teamchef, die nach dem erfolgreich verrichteten Tagewerk nicht überschwenglich die eigenen Taten lobten, sondern so selbstbewußt und selbstkritisch waren, um ganz selbstverständlich vor allem über die einzige Schwächephase des Spiels zu reden. Und es kam auch niemandem in den Sinn, über eine am Ende souverän hinter sich gebrachte Qualifikationsrunde mit vier Punkten Vorsprung vor den Schotten zu räsonieren. Eben ganz so, als ob dies für einen Weltmeisterschaftszweiten die reine Pflichtübung gewesen wäre und nichts anderes. Als das Schlußbild der Qualifikationsgruppe 5 seine unveränderliche Form mit den Deutschen an der Spitze gefunden hatte, wertete Teamchef Rudi Völler im Rückblick die 14 Monate Qualifikation für Portugal dann sogar ziemlich genau so, wie er es seinen Kritikern noch vor vier Wochen nicht hatte durchgehen lassen. Das war nicht die Gruppe wie bei der WM-Qualifikation, die war damals stärker. Deshalb sollte man jetzt nicht überziehen, gab der Teamchef nun ganz realistisch über bestandene Aufgaben und kommende Erwartungen zu Protokoll. Nichts anderes als der erste Platz habe für die deutsche Mannschaft daher das Ziel sein können – hört, hört! Nach erfolgreicher europäischer Abschlußprüfung durften die Kleinen für den Moment klein sein und die Großen groß.“

Ihr Maßstab waren die Tradition und die Erfolge ihrer legendär gewordenen Vorgängerteams

Philipp Selldorf (SZ 13.10.) kommentiert die Bedeutung der Qualifikation: „Die deutsche Mannschaft hat auf eher abseitigen europäischen Fußballplätzen zwar keine glanzvolle Qualifikation gespielt, manchmal waren ihre Vorstellungen sogar ziemlich schaurig anzuschauen, aber sie hat ihre Aufgabe erfüllt, und sie ist in den entscheidenden Momenten – in den Heimspielen gegen Schottland und Island – den Erwartungen gerecht geworden. Dafür hat sie viel Applaus erhalten und Respekt verdient, denn für diese heiklen Partien bedurfte es mehr Standfestigkeit und Leistungswillen, als es der mäßige Ruf der Gegner vermuten lässt. Rudi Völlers mühsam zusammengesuchte Mannschaft spielte nicht nur gegen Männer namens Ingimarsson und Hreidarsson, McNamara und McFadden. Ihr Maßstab waren die Tradition und die Erfolge ihrer legendär gewordenen Vorgängerteams, und ihre Jury das ganze Land. Die Nationalelf bleibt für die Fußballanhänger und auch für die Spieler selbst die wichtigste Mannschaft, die es in Deutschland gibt. Das kann eine Last bedeuten. Vor allem aber bedeutet es Ansporn. Nicht nur die jungen Spieler wie Hinkel, Kuranyi oder Rau werden daraus gelernt haben, auch eine Größe wie Ballack macht Fortschritte, denn die Erfahrung des Härtefalls bleibt im Fußball unersetzlich.“

Jan Christian Müller (FR 13.10.) erläutert das Erfolgsmodell Völler: „Der Teamchef ist kein großer Stratege, kein Visionär, kein akribischer Technokrat. Er ist ein Mann des Fußballplatzes, hat ein gutes Auge dafür, wer sportlich und charakterlich ins Team passt. Er lässt Leine, und er trifft mitunter Bauchentscheidungen zum Wohle des großen Ganzen. Das zeichnet einen erfolgreichen Verantwortlichen für eine Nationalmannschaft mehr aus als trainingsmethodisches Grundwissen. Seinen cholerischen Ausbruch vor laufenden Kameras hat Völler unbeschadet überstanden. Er weiß selbst, dass die öffentliche Zustimmung mit seiner Popularität und einem verbreiteten Gefühl der Abneigung gegen die Medien zu tun hat. Wenn nun behauptet wird, er habe damit den Spielern Gutes getan, so ist dies ausgemachter Blödsinn. Völler kann von Glück sagen, dass die Mannschaft ihre Pflichtaufgaben gegen Schottland und Island dennoch so bravourös gelöst hat. Wobei das 3:0 gezeigt hat, dass dieses deutsche Team noch nicht gefestigt ist. Sonst wäre es nach formidablem Auftakt nach dem Wechsel nicht so in Bedrängnis geraten. Aber es gibt keinen Grund, die jungen Kräfte für fehlende Reife zu rügen. In der Breite ist der deutsche Fußball stärker als noch zur WM 2002. Er kommt frecher, forscher, ungestümer daher.“

Aus dem Spielertrainer ist nun ein richtiger Trainer geworden

Christof Kneer (BLZ 13.10.) stellt einen Wandel bei Völler fest: „Es deutet einiges darauf hin, dass diese EM-Qualifikation mit all ihren Käse-MistScheißdreck-Erfahrungen aus dem Spielertrainer Völler nun einen richtigen Trainer gemacht hat. Unter dem Druck der öffentlichen Erwartungen hat der Trainer-Azubi die Rudireife abgelegt. Er hat seinen Stil verfeinert, sein Instrumentarium erweitert. Seine Ehrenkodex-Strategie hat ihn durch die WM getragen, aber er hat bald feststellen müssen, dass sie nicht für jeden Alltag taugt. Er hat lernen müssen, dass er eine überragende Begabung wie Kevin Kuranyi nicht verstecken darf, nur weil Miroslav Klose oder Oliver Neuville in einer Völler-internen Statistik mehr Treuepunkte haben. Er hat lernen müssen, dass er einen forschen Dynamiker wie Andreas Hinkel von Anfang an bringen muss, obwohl ein müder Ex-Dynamiker wie Marko Rehmer nach Völlers Verständnis mehr für den Fußball geleistet hat. Es ist die wertvollste Botschaft dieser Qualifikation, dass sich der bislang bauchgesteuerte Teamchef auf dem Weg zum Taktiker befindet. Und er ist mutiger geworden, er hat den Widerspruch in sich selbst besiegt. Er ist ja einerseits der vielleicht größte Talentförderer, der je auf Deutschlands oberster Trainerbank saß; er hat erst Kloses und Metzelders eingegliedert, dann Raus und Friedrichs, jetzt Hinkels und Kuranyis. Aber andererseits hat er seinem Umbruch nicht wirklich getraut. Er hat sich im Zweifelsfall immer für konventionelle Genügsamkeit entschieden, für allzu routinierten Sicherheitsfußball. Gegen Schottland hatte er sich mit einer mutigen Formation erstmals selbst vom Gegenteil überzeugt, und es war für den deutschen Fußball eine gute Nachricht, dass er gegen Island abermals diesem Modell vertraute.“

FR-Interview mit Christian Wörns (vor dem Spiel)

FR: Bei großen Turnieren waren Sie vom Pech verfolgt. Lassen Sie uns rekapitulieren. 1992?

CW: War ich in Schweden bei der Europameisterschaft dabei, habe aber nicht gespielt. FR: Als einziger Feldspieler. Das muss doch frustrierend gewesen sein?

CW: Nein, das war okay. Ich war gerade 20, hatte mein erstes Länderspiel hinter mir und war der Jüngste.

FR: 1994 bei der WM in den USA?

CW: War ich berechtigterweise nicht dabei. Ich hatte ein Formtief. Thomas Berthold war besser. Das musste ich einsehen.

1996?

CW: Da hat man es sich einfach mit mir gemacht. Ich hätte es verdient gehabt, dazuzugehören. Aber ich hatte keine Lobby. Rene Schneider war stattdessen dabei. Der war aber verletzt und konnte kaum trainieren.

FR: Und Sie hockten zu Hause und waren sauer?

CW: Ich hatte eine gute Saison gespielt und als Abwehrspieler sechs Tore geschossen. Es war enorm hart, in England nicht dabei zu sein.

Aber 1998 bei der WM in Frankreich hat es dann ja geklappt.

CW: Allerdings mit dem denkbar unangenehmsten Ausgang.

Bis zum Kroatien-Spiel galten Sie als bester deutscher Feldspieler.

CW: Ja, es war bis dahin ein Super-Turnier für mich.

In der öffentlichen Wahrnehmung sind Sie der Schuldige am deutschen Ausscheiden. Sie haben Davor Suker gefoult und dafür Rot gesehen.

CW: Da stand es noch 0:0. Abgesehen davon, dass ich die Rote Karte nach wie vor für zu hart erachte: Wir haben erst danach drei Gegentore kassiert und 0:3 verloren. Ich hätte mir damals von den etablierten Spielern gewünscht, dass sie mehr Verantwortung für die Niederlage nehmen. So musste ich als Alibi herhalten. Darunter habe ich gelitten.

FR: Sie sind dann zu Paris Saint Germain nach Frankreich gewechselt. War das auch eine Flucht aus Deutschland?

CW: Ich hatte dort ja vorher schon unterschrieben. Aber ich räume ein: Es ist mir so zunächst sehr recht gewesen.

FR: Bis der Präsident Sie hinter Ihrem Rücken nach Liverpool verschachern wollte.

CW: Stimmt. Ich war gerade einen Monat da, hatte mit meiner Frau vier Monate lang Sprachkurse belegt, wir hatten uns eingerichtet und ein kleines Kind. Da habe ich nicht mitgespielt. Liverpool und Saint Germain waren sich schon über einen Fünf-Jahres-Vertrag einig. Übrigens: Der Präsident von Saint Germain war Journalist, bei Canal plus.

FR: Nun ja, das spricht jetzt nicht für unsere Branche. Aber hat das Jahr in Paris Ihnen auch was gebracht?

CW: Ich habe erstmals in meiner Karriere ohne Libero gespielt, modern mit Viererkette. In Deutschland waren wir noch nicht so weit. Da entwickelte es sich gerade dahin, dass der letzte Mann nicht mehr zehn Meter hinter der Abwehr steht, sondern nur noch zwei, drei Meter. Mit Libero hatten wir bei internationalen Spielen ständig Unterzahl im Mittelfeld.

FR: Mit Libero – das geht jetzt nicht mehr?

CW: Auf keinen Fall.

Er ist Deutschlands heimlichster Leistungsträger

Christof Kneer (BLZ 13.10.) anerkennt Wörns: “Es war all die Jahre ziemlich einfach mit Christian Wörns. Er war das schlechte Gewissen des deutschen Fußballs. Er hat bei der WM 1998 ein Foul gemacht, und dann ist Deutschland ausgeschieden, so ungefähr steht das in den Geschichtsbüchern. In der Tat war es so, dass die Kroaten damals, im WM-Viertelfinale in Lyon, erst über die Deutschen hereinbrachen, nachdem Wörns nach einem Foul an Suker des Feldes verwiesen worden war; aber man hat ihn allzu lange leiden lassen für diese Ungeschicklichkeit. Man hätte also nicht gedacht, dass man so eine Szene noch erleben dürfte. Es war in der 42. Minute des Spiels gegen Island, als sich die AOL-Arena spontan zum Szenenapplaus zusammenfand. Es war ein Applaus für Christian Wörns, der einen Ball erstritt und umgehend zu einem Offensivpass verarbeitete. Es hat viele gute Spieler gegeben am Sonnabend; Michael Ballack zuvorderst, der präsent war wie an seinen gesündesten Tagen. Aber er hat nicht mithalten können mit diesem Wörns, dem sein Teamchef absolute Weltklasse bescheinigte. Christian war ohne Worte, schwärmte Völler, das war das beste Länderspiel, das ich von ihm je gesehen haben. Der Besungene selbst blieb dagegen so trocken wie sein Spiel: Das war sicher eines meiner besseren Länderspiele, sagte Wörns, aber ich habe nur an die Leistung von Schottland angeknüpft. Wahrscheinlich gehört auch das zur Tragik des Christian Wörns. Das Land hat noch gar nicht gemerkt, dass da einer schon seit längerem auf altem, neuem Niveau verteidigt. Im Moment hält Wörns, 31, mit zehnjähriger Verspätung das, was das Land sich einst von ihm versprach. Er ist Deutschlands heimlichster Leistungsträger.

„Linksfuß Christian Rahn, von HSV-Coach Jara gewogen und für zu leicht befunden, tankt bei Völler Selbstvertrauen“ FR

Presse-Stimmen zu anderen Spiele der EM-Qualifikation

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