Ballschrank
Dieses Finale hinterließ keinen schönen Geruch
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| Donnerstag, 25. März 2004
Das Schlimmste war zu befürchten, trat aber nicht ein. Nachdem das italienische Finale der Champions League (der AC Mailand bezwang Juventus Turin mit 3:2 nach Elfmeterschießen) nach atemraubender erster Halbzeit, durchschnittlichem zweiten Durchgang sowie einer undramatischen Verlängerung letztendlich torlos endete, musste man mit bissigen Klagen über italienisches Defensivprimat rechnen. Schließlich „wird Italien“, stellt die SZ fest „in Europa traditionell reflexhaft belächelt.“ Das „Haben wir es nicht schon immer gesagt?!“ der schreibenden Zunft blieb jedoch weitgehend aus. Abgesehen von der spanischen Presse (“Gebt den Pott zurück!”), die in Sachen internationaler Fußballberichterstattung indes nicht ernst zu nehmen ist, dominieren zwar sehr kritische, immerhin jedoch hauptsächlich unvoreingenommene Urteile über ein Finale, das man durchaus zu den besseren zählen kann.
„Je länger die vom deutschen Schiedsrichter Markus Merk souverän geleitete Partie dauerte, desto „italienischer“ ging es auf dem Rasen zu“, heißt es im Berliner Tagesspiegel. Die FAZ erkennt einen „Triumph der Sachlichkeit“, die NZZ schreibt über „Verteidigungsarbeit mit artistischen Zügen“. Alle anderen Tageszeitungen hierzulande teilen sich einen Korrespondenten; ein Indiz für mangelndes Interesse, restriktive Medienpolitik seitens der Veranstalter oder schlicht die Medienkrise? Dass der renommierte Fußballautor Ronald Reng (unterwegs für SZ, taz, BLZ, FR und FTD) nicht viel vom italienischen Fußball hält, hat er im Vorfeld gestanden. So schrieb er in der SZ vom Dienstag: „Italienischer Fußball ist fantastisch anzusehen. Man darf bloß nicht aufs Spielfeld schauen. Einen meiner besten Nachmittage im Fußballstadion hatte ich vor einigen Jahren beim Spiel AS Rom gegen AC Mailand: Was für ein Spektakel, was für eine Leidenschaft – auf den Rängen. Nirgendwo wird Fußball so farbenfroh, so fanatisch zelebriert wie in italienischen Fankurven, ich sah den Zuschauern 90 Spielminuten zu. Aber noch heute, einige Jahre später, bin ich ratlos, wen oder was die italienischen Fans in der Serie A eigentlich feiern: Sich selber? Dass der Eisverkäufer vorbeikommt? Oder tatsächlich, dass ihr Team nach fünf Quer- und drei Rückwärtspässen einen Einwurf an der Mittellinie erkämpft hat?“ Folglich war für Reng „weit und breit kein Gewinner zu sehen“, bevor er resigniert die Champions-League-Saison bilanziert: „Am Ende wird sie mehr für ihre Verlierer als für ihre Gewinner in Erinnerung bleiben.“ Die markanteste Szene des Abends beschreibt er folgendermaßen: „Hey, duschst du gar nicht?, schrie jemand Milans Ersatztorwart Christian Abbiati zu, als er, noch in Torwartkluft aus dem Stadion ging. Duschen? Morgen!, sagte Abbiati und lachte. Nein, dieses Finale hinterließ keinen schönen Geruch.“
Ein Bravo an das überwiegend italienische Publikum
In der italienischen Presse fällt die Freude nicht ganz so explosiv aus wie üblich. Das mag jedoch daran liegen, dass Berlusconis AC Mailand in Italien nicht über eine (gute) Presse verfügt. Denn der Corriere della Sera gehört wie Juventus dem Agnelli-Clan, und der Besitzer von La Repubblica ist pikanterweise Carlo De Benedetti, der erbitterte Gegenpart des Regierungschefs nicht nur im SME-Prozess, bei dem Berlusconi wegen Richterbestechung angeklagt ist und in dessen Verlauf kürzlich Berlusconis engster Vertrauter Cesare Previti zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Dennoch wird dem AC Mailand Respekt gezollt. Im Corriere della Sera heißt es: „Der König der europäischen Krone verdrängt die Königin der Scudetti nach einem Spiel, das zwar mit 0:0 endete, aber nicht schlecht war. Objektiv hat Milan mehr für den Sieg getan, besonders in der ersten Hälfte.“ Gianni Mura von La Repubblica hingegen lobt das Publikum: „Ein Bravo an das überwiegend italienische Publikum, das seine Spieler an diesem Abend auf englische Art unterstützt hat: ohne Gewalt, Rauchbomben, Raketen, Invasionen des Spielfeldes. Es ist also möglich.“ Er schlägt vor, den nächsten Scudetto in England stattfinden zu lassen.
Außer dem AC Milan und den begeisterten Tifosi gibt es noch weitere Sieger: die Sportjournalisten Italiens, zumindest in Sachen Geschwindigkeit. Bereits am Himmelfahrtsmorgen konnte man an Bahnhofsbuchhandlungen in der deutschen Provinz Tageszeitungen kaufen, die auf der Titelseite mit den Jubelmeldungen „Milan König von Europa“ – „Juve durch Elfmeter bezwungen“ aufwarteten. Auch in den Innenteilen waren bis zu acht Seiten ausführlicher, brandaktueller Berichterstattung zum „italienischen Derby“ zu finden.
Nichts und niemand, der zu Träumen von einer glorreichen Zukunft verführt hätte
Zu den Ursachen mangelnder Spieldramatik lesen wir von Michael Horeni (FAZ 30.5.). “Die Furcht vor dem wiedererwachten Gespenst Catenaccio, das in Europa sein Unwesen treibe, hat das Finale der Champions League nicht ganz vertreiben können. Daß der Defensivfußball made in Italy nach seiner Renaissance in dieser Spielzeit eine neue Ära begründen könnte – diese Sorgen müssen sich die Fußballfans jenseits des Apennin jedoch kaum machen. Das Endspiel zeigte zwei Stunden lang, woran es einer bruchlosen italienischen Erfolgsgeschichte für die Zukunft gebricht: Dem neuen Champion AC Mailand fehlt es ebenso wie Verlierer Juventus Turin, trotz aller kollektiven Qualität, an Starappeal. Schon während der Halbfinalbegegnungen im Stadtderby gegen Inter mangelte es Milan erkennbar an einer Führungskraft, die dem starren taktischen Konzept spielerische Kraft verliehen hätte. Auch im Endspiel gab es nichts und niemanden, der zu Träumen von einer glorreichen Zukunft verführt hätte.“
Saison ohne Innovation
Ronald Reng (BLZ 30.5.) ist vom Spiel wie von der gesamten Saison enttäuscht. “Nach Endspielen sehen Sieger immer gleich aus, überdreht und kindisch – sogar an einem Abend wie diesem, an dem weit und breit kein Gewinner zu sehen war. Für das, was zwischen Juventus Turin und Mailand geschah, nachdem Milan in den ersten 30 Spielminuten mit exzellentem Direktpass-Spiel Großes erahnen ließ, gibt es wenig Vergleiche. So arm an Torgelegenheiten war seit der WM 1994, als sich Italien und Brasilien langweilten, kein internationales Finale mehr. Der ganze Abend ging schief, es war schlimm, sagte Juventus Trainer Marcello Lippi – und redete nur von seiner Elf, die in 120 Minuten eine Torchance zu Stande gebracht und beim 2:3 im Elfmeterschießen mehr Strafstöße verschossen als verwandelt hatte. Es ist nach solch einer Partie einfach zu sagen, ein Champions-League-Endspiel hätte Real Madrid verdient gehabt oder wenigstens irgendeine andere schwungvolle Elf. Die traurige Wahrheit aber ist, dass sich niemand mehr als Milan und Juventus die Finalteilnahme verdient hatten. Klasse, gut dosiert, reichte in dieser Europacup-Saison. Milan ächzte und stöhnte nach einem fliegenden Start ab Februar nur noch Richtung Manchester, Juventus zeigte nur ein wirklich außergewöhnliches Spiel, im Halbfinale gegen Real Madrid. Doch Madrid etwa hatte auch nicht viel mehr riesige Auftritte als den im Viertelfinale gegen Manchester. Juventus, gerade zum 27. Mal italienischer Meister geworden, schien in einer Saison, in der Pragmatismus Eleganz übertrumpfte, der logische Gewinner. Aber dass sie das Finale verloren, ist schließlich auch bezeichnend für diese Saison ohne Innovation.“
Verteidigung zur Kunstform erhoben
Flurin Clalüna (NZZ 30.5.) bilanziert. „Man musste schon etwas genauer hinsehen, damit sich einem die Vorzüge der italienischen Spielart im Bruderduell erschlossen. Die erste Halbzeit spielte sich so ab, wie es die Regieanweisungen für „Milan Paradiso“ vorgesehen hatte: ein dynamischer „Diavolo“ mit Seedorf und Rui Costa in der Doppelrolle als Maestro, Chancen durch Inzaghi und einem Offsidetor Schewtschenkos. Daneben wurde vor allem die Verteidigung zur Kunstform erhoben. Die Artisten Maldini – in seinem sechsten europäischen Finalspiel – und Nesta bewiesen, dass auch Abwehrarbeit zelebriert werden kann. Derweil war die Juve unwillentlich ihrem Spitznamen gerecht geworden. Der Übername „vecchia signora“ lebte in den fünfziger Jahren auf, als sich die zu grossen Trikots mit Luft füllten und deshalb der Eindruck einer „gobba“, eines Buckels, entstanden war: Abgesehen von vereinzelten Farbtupfern Davids‘ oder Zambrottas krankte die Offensive der Turiner an Lähmungserscheinungen. Die Abwehr um Ciro Ferrara hingegen – ein Gütesiegel erster Klasse mit Torhüter Buffon als Magier – spielte praktisch fehlerfrei.“
Michael Horeni (FAZ 30.5.) berichtet. „Als zwei Stunden Fußball ohne Tore vorbei waren, suchte Marcello Lippi auf dem Platz das Gespräch mit seinen Spielern. Es ging darum, fünf Mutige für die einfachste Methode zu gewinnen, endlich ein Tor zu erzielen: Elfmeterschießen. Willst du? Fühlst du dich gut? Bist du bereit? Solche Fragen machten bei den am Boden liegenden und von Helfern versorgten Profis von Juventus Turin die Runde, nachdem ein am Ende immer ermüdenderes italienisches Finale der Champions League nach 120 Minuten zur Entscheidung reifte. Doch der Trainer erntete bei seinen Gesprächen nur Kopfschütteln. Vier oder fünf Spieler haben abgelehnt, einen Elfmeter zu schießen. Dann wird es schwierig, sagte Lippi später, als das für Juventus traurige Resultat der Verweigerungshaltung auch im Ergebnis feststand. Und als Verlierer fügte er resignierend und vorwurfsvoll hinzu: Und kein Elfmeter wird von einem Trainer geschossen. (…) Von Juves spielerischer Klasse war nur für Minuten und von entschiedenem Willen, ein Tor zu erzielen, ebenfalls kaum etwas zu spüren. Juves Triumph im Halbfinale gegen Real Madrid, es war wie ein Ereignis aus einer anderen Turiner Fußballwelt. Der ganze Abend lief schlecht, von Anfang an, sagte Lippi, er stand unter keinem guten Stern. In der ersten halben Stunde lag es allein am AC Mailand, daß kalte Turiner Berechnung das Endspiel im Theater der Träume von Old Trafford nicht von der ersten Minute an beherrschte. Milan bemühte sich zumindest, Tore erzielen zu wollen und dabei den zweifelhaften spielerischen Ruf des italienischen Klubfußballs vor aller Augen aufzubessern. Doch Gegner Juventus verweigerte seinen Beitrag.“
In der NZZ (30.5.) heißt es. „Vielleicht war es nur Zufall, dass das Schicksal Trainer Ancelotti im Moment der unendlichen Erleichterung den Weg in die Arme von Seedorf gewiesen hatte. Aber den Holländer und den Ausbildner der Rossoneri verband in diesem Augenblick, als sich das Blitzlichtgewitter über dem Old Trafford entlud, das unsichtbare Band der Geschichte. Als erstem Spieler war es dem gebürtigen Surinamer gelungen, den Titel der Champions League mit drei verschiedenen Vereinen zu gewinnen. 1995 hatte er das Ajax-Dress getragen, drei Jahre später das weisse Trikot von Real Madrid. Der Pathos mag klebrig wirken, doch dem 27-Jährigen verschlug es vor den laufenden Fernsehkameras die Sprache, Tränen verhinderten ein nüchternes Statement. Derweil muss Carlo Ancelotti, der in Turin den hohen Anforderungen an einen Ausbildner nicht genügt hatte, seine historischen Meriten mit drei anderen Grössen (Miguel Muñoz, Giovanni Trapattoni und Johan Cruyff) des internationalen Fussballs teilen: Sie alle hatten sowohl als Spieler wie als Trainer auf dem Thron der Königsklasse gesessen. Bereits als Mittelfeldakteur hatte Ancelotti mit der AC Milan 1989 und 1990 den Meistercup gewonnen, jetzt wird ihm als Coach die gleiche Ehre in der Champions League zuteil.“
RTL hat auf große Momente verzichtet
Christopher Keil (SZ 30.5.) geht mit RTL hart ins Gericht. „Man sitzt da also zunächst neunzig Minuten. Tore werden nicht geschossen, was die Übertragung ja nicht grundsätzlich abwertet. Doch dann, nach dem Schlusspfiff, in diesen zehn, fünfzehn Minuten, in denen so viel passiert vor der Verlängerung, terrorisiert RTL seine eigene Sendung. Mit Werbung. Vor allem mit sehr viel Waschmittel-Werbung. Mit schrecklicher Waschmittelwerbung. Und während schnarrende Stimmen ein dämliches Sauberkeitspulver anpreisen (Wer kennt den Namen der Dose?), schreiten die Trainer scheinbar beherrscht über den Rasen. Sie umarmen den einen oder anderen, lachen beiläufig. Ihre Assistenten fangen an, auf Zetteln Namen zu sortieren. Namen, die eine halbe Stunde später beim Elfmeterschießen Glück oder Unglück über die Clubs von Juventus Turin und des AC Mailand bringen werden.Die meisten Kicker liegen auf dem Rasen und lassen sich massieren. Oft von Kollegen, die nicht mehr zum Einsatz kommen oder ausgewechselt wurden. Gefüllte Wasserflaschen fliegen von einer Hand zur nächsten. Man blickt dank des Kameramannes in die Gesichter, und die körperliche Anstrengung hat dort mehr angerichtet als beide Teams auf dem Rasen. Der Fernsehsport hat seine größten Momente, wenn er den Athleten ganz nahe ist, bevor sich alles entscheidet. Oder danach. Kein Wort kann da Hoffnung, Verzweiflung, Freude besser beschreiben als das Bild. RTL hat Mittwochabend auf große Momente verzichtet.“
Jörg Hanau (FR 30.5.) begrüßt die Reduzierung des Wettbewerbs in der nächsten Saison. „Die längst schon auf den Weg gebrachte Reform der Königsklasse kommt angesichts solch eines finalen Spiels zur rechten Zeit. In der neuen Saison bleibt der Hälfte der qualifizierten 32 europäischen Topteams einiges erspart. Genau vier Spiele nämlich. Die Champions League speckt ab, unterzieht sich einer Schlankheitskur. Statt bislang 16 Spiele sind es künftig nur noch deren zwölf bis zum Finale im kommenden Jahr in der Arena AufSchalke. Die auf Grund ungebremster Expansion eingeführte Zwischenrunde ist von der Europäischen Fußball-Union (Uefa) ersatzlos gestrichen worden. Nach der ersten Gruppenphase geht es fortan im Achtelfinale bereits um alles oder nichts. Eine weise Entscheidung der europäischen Fußball-Funktionäre, sollte das neue Spielsystem doch für sportliche Attraktivität sorgen. Es trifft ja nicht immer Juve auf Milan. Die Fußballer sind zufrieden. Jetzt gilt es nur noch, die TV-Sender vom neuen Format zu überzeugen. Schließlich sind sie es, die den Ball in der Zasterliga mit ihren Millionen am rollen halten.“
Internationale Pressestimmen FR
Italienische Reaktionen Tsp
(28.5.)
Von Fallenstellern, Schachspielern und Bleigiessern halten die Mancunians nicht viel
Die NZZ(28.5.) berichtet die Atmosphäre im Finalort “Wärmendes Heimatgefühl hat sich in Manchester noch nicht breit gemacht. Vereinzelt sind auffällig gekleidete Repräsentanten jener gut 60 freiwilligen Helfer zu erblicken, die der Stadtrat durch einen Crash-Kurs für eine sprachliche Schnellbleiche in Italienisch gejagt hat. Noch setzt der Ansturm der erwarteten 50.000 Tifosi aber erst behutsam und tröpfchenweise ein. Nicht zu vergleichen jedenfalls mit der Invasion der alten Römer, die im 1.Jahrhundert auf der Insel eingefallen waren und den Aussenposten „Mancunium“ gegründet hatten. Anders als zwischen Mailänder Dom und Turiner Fiat-Werken, wo sich über eine Million Anhänger beider Vereine um Tickets für das Spiel des Jahres bemüht hatten, ist die Stimmung der gastgebenden Engländer reserviert und zurückhaltend – very british halt. Ein Augenschein im ausladenden Fan-Shop bestätigt den Eindruck: Einzig die ManU-Trikots gehen wie die sprichwörtlichen warmen Brötchen über den Ladentisch. Auf die Frage, wo sich denn die Juventus-Shirts befinden, die ernüchternde Antwort – „Wo zum Teufel hängen die Zebras?“, ruft der übel gelaunte Verkäufer ins Magazin. Nichts ahnend hatte er sich als Kenner des italienischen Calcio geoutet: Diavolo und Zebra, die Symbole der beiden Finalgegner, in einem Atemzug zu nennen, verdient Respekt. Es wird am Mittwochabend noch einiges an Überzeugungsarbeit brauchen, ehe sich die 20.000 Engländer im ausverkauften Stadion (62.295 Zuschauer) für die italienische Sache einnehmen lassen. Von Fallenstellern, Schachspielern und Bleigiessern halten die Mancunians nicht viel. Die Werbetrommel für den zuletzt so erfolglosen wie unverhofft auferstandenen Calcio zu rühren und um Verständnis für die italienische Spielart zu werben, haben sich deshalb wohl beide Mannschaften auf ihre Fahnen geschrieben. Oder wie es Juve-Stürmer David Trézéguet umschrieben hat: „Ich hoffe, das angekratzte Image des italienischen Fussballs wird nach dem Final aufgewertet.“ Old Trafford hat ein feines Gespür dafür, ob es sich hierbei nur um einen flapsigen Flirt oder eine veritable Wiedergeburt handelt.“
Ronald Reng (FTD 28.5.) kann sich über ein italienisches Endspiel nicht richtig freuen. “Als Marcello Lippi 1994 Trainer von Italiens erfolgreichstem Fußballklub Juventus Turin wurde, wusste er, wo er zuerst hin musste: auf den Friedhof. Sein Vater verdiente eine Erklärung. Lippi setzte sich an das Grab und sprach mit dem Toten. Sein Vater war ein überzeugter Gewerkschafter gewesen, Juventus das Privatspielzeug des – mittlerweile auch verstorbenen – Fiat-Chefs Gianni Agnelli. „Ich weiß, dass dir diese Mannschaft nicht gefällt, weil sie für dich ein verhasstes Symbol der Macht ist, Papa. Aber sie wird dir gefallen.“ (…) Dass Juventus dieses Jahr das beste Team in Europa ist, lässt sich schon vor dem Anpfiff mit einigem Recht behaupten, nach beeindruckenden Resultaten, etwa im Halbfinale gegen Madrid oder zuvor gegen Dynamo Kiew, sowie dem Gewinn ihrer 27. italienischen Meisterschaft. Aber was würde Vater Lippi sagen? Gefallen tut La Juve immer noch nicht. Das erste inneritalienische Finale in der Geschichte der Champions League wird im restlichen Europa weniger mit Vorfreude als mit Skepsis erwartet, und auch wenn man den Neid und die übliche Schlaumeierei abzieht, so bleibt doch ein berechtigter Missmut. Denn nur in Ausnahmen haben Juventus und Milan in dieser Saison angedeutet, dass mit ihnen die größte Partie der Spielzeit auch eine große Sache werden könnte. Zwar haben die beiden Kontrahenten alles, was man braucht, um erfolgreich Fußball zu spielen – exzellente taktische Disziplin, technisch großartige Profis. Aber ihnen fehlt, was Fußball faszinierend macht: der Drang, spielen zu wollen. Nach Zeiten, in denen offensive Teams wie Real Madrid oder Manchester United die Champions League auf ein neues Niveau hoben, ist dies das Jahr des Stillstands. Die Spielweise von Milan und Juventus hat nichts Außergewöhnliches, nichts Innovatives. Pragmatisch, solide.“
Schießt ihr ruhig eure Tore, wir machen eben ein paar mehr
Matti Lieske (taz 28.5.) rückt Vorurteile zurecht. „Manchmal scheint es, als hätten die Italiener Defensivfußball und Offensivfußball gleichermaßen erfunden. Das Inter Mailand der 60er-Jahre machte den Catenaccio seines Trainers Helenio Herrera für alle Zeiten zum geflügelten Wort, der AC Mailand von Arrigo Sacchi beendete in den 80ern die tumbe Schreckensherrschaft der Briten und schwang sich zum Synonym für bildschönen Angriffsfußball auf. Aber natürlich gab es beide Varianten schon lange vorher. So verfuhr das grandiose Real Madrid in den 50ern nach der Devise: Schießt ihr ruhig eure Tore, wir machen eben ein paar mehr. Und der Österreicher Karl Rappan hatte bereits 1938 als Trainer der Schweiz den Deutschen im Achtelfinale mit seinem berühmten Riegel das früheste Aus ihrer WM-Geschichte beschert. Die Schweizer vergaßen jedoch auch das Toreschießen nicht, denn sie wussten, dass große Defensive erst dann wirklich erfolgreich ist, wenn sie die Basis für ebenso große Offensive darstellt. Das galt auch für das klassische Inter Mailand, welches fünf Mal in Folge mindestens das Halbfinale des Europacups der Landesmeister erreichte, den es 1964 und 1965 gewann. Inters Fußball war längst nicht so öde, wie es der Begriff Catenaccio suggeriert. Geprägt von Offensivkünstlern wie Mazzola, Suárez, Jair oder Corso lieferte sich die Mannschaft zum Beispiel 1964 zwei atemberaubende Matches mit Borussia Dortmund (…) Gute Verteidigung ist an sich nichts Böses. Vor allem in Spanien, wo man in den letzten Jahren daran gewöhnt war, Europas Fußball zu dominieren, und den Verlust dieser Position an Italien nur schwer verkraftet, sieht man dies derzeit anders. Aus allen Postillen wird gegen den vermeintlichen italienischen Mauerfußball gewettert, und man vergisst gern, dass Real Madrid letztes Jahr mit drei Abwehrschlachten gegen Barcelona und Leverkusen am Ende die Champions League gewann. Von Übel ist die Priorität der Defensive lediglich dann, wenn ihr nur minimales Offensivbemühen zur Seite steht. So wie bei Liverpool und Nottingham in den 70er- und 80er-Jahren; wie bei den Münchner Bayern und dem FC Valencia im europäischen Finale vor zwei Jahren, wo beide Teams von Anbeginn dem Elfmeterschießen entgegenverteidigten; wie bei Italiens Nationalmannschaft unter Trapattoni; wie beim aktuellen Team von Inter Mailand. Trotz der unzweifelhaften Betonung solider Defensive boten die Spitzenspiele der italienischen Liga aber auch in der abgelaufenen Saison häufig rasanten Fußball auf hohem Niveau. Außer bei Inter sind Rückpässe zum Torwart oder Querpässe in der eigenen Hälfte, wie man sie in der Bundesliga zum Teil minutenlang betrachten kann, eine absolute Rarität.“
zur Debatte über den italiensichen Fußball siehe auch hier
Verteidigen als produktive Kunst
Dirk Schümer (FAZ 28.5.) porträtiert Paolo Maldini. „Mit nicht einmal siebzehn stand er bereits in der Serie A auf dem Feld. Lange Zeit mußte er sich gegen den neckischen Vorwurf durchsetzen, er habe mit seinem berühmten Vater und dem jeweils aktuellen Trainer gleich zwei Übungsleiter. Als Vater Cesare dann nach 1996 tatsächlich Italiens Nationaltrainer wurde, war sein berühmterer Sohn längst jenseits aller neidischer Nachrede. Eigentlich hatte der kleine Paolo Stürmer werden wollen und dabei ausgerechnet Roberto Bettega von Juventus Turin, dem heutigen Endspielgegner, nachgeeifert. Den Vorwärtsdrang merkt man seiner eleganten und zweckdienlichen Weise zu verteidigen stets an: Mit immensem taktischen Geschick, kluger Raumaufteilung und nützlichen Pässen nach vorne prägt Maldini immer auch das Aufbauspiel. Die abgeklärte, antizipierende Spielweise, die ihm auch schwere Verletzungen ersparte, machte Maldini zum Erzvater einer ganzen Generation italienischer Verteidiger von Weltklasse. Ihm eifern Alessandro Nesta, der heute neben Maldini die Innenverteidigung bildet, wie Mark Iuliano oder Gianluca Pessotto nach, die für den Gegner Juve mit Eleganz vorwärtsverteidigen. Diese erheblich jüngeren Spieler haben sich bei Maldini die Kunst abgeschaut, nicht nur Angriffe zu zerstören, sondern das Verteidigen als produktive Kunst zu betreiben. Doch nicht nur Maldinis Ballbehandlung, auch der Spieler selbst ist stets eine Augenweide. Bei Umfragen unter weiblichen Fans wurde der hochgewachsene Mann mit tiefblauen Augen, dunkler Lockenmähne und griechischem Profil bei internationalen Turnieren gleich zweimal zum Spieler mit dem größten Sex-Appeal gewählt; bei Modenschauen für Armani und Versace stand er als Dressman auf dem Laufsteg.“
Birgit Schönau (SZ 28.5.) porträtiert Alessandro del Piero. „Er war Pinturicchio. Seine Tore erschienen dem kunstsinnigen Avvocato hingemalt wie die Fresken des Hofmalers von Pius II. Als sie ausblieben, nannte der Alte den Spieler ironisch Godot. Dann, abschätzig-sarkastisch: Mammas Liebling. In den letzten Jahren hatten sie wieder zueinander gefunden. Morgens um sieben Uhr rief der Industrielle seinen Lieblingsfußballer an. Er wollte nur fünf Minuten über Fußball reden, um seinen Tag besser zu beginnen. Oft weckte er den Spieler, aber der hat lange gebraucht, das seinem Padrone zu gestehen. Der Patriarch und sein Juwel – Gianni Agnelli und Alessandro Del Piero. Nun ist der Avvocato tot, und im Champions-League-Halbfinale Juve – Real Madrid erinnerte ein Banner über der Fankurve an ihn: „Wir haben einen Stern am Firmament, der weist uns den Weg.“ So sentimental können sie werden im grauen Turin. Aber Juves Star beim Finale in Manchester ist Del Piero, und wenn er den Pokal erheben würde, könnte er zum Kometen des calcio italiano aufsteigen. Eine Karriere mit Höhen, vor allem aber großen Tiefen und vielen Mühen hat er hinter sich, per aspera ad astra. Immer bei Juventus. Seit zehn Jahren spielt der 28-Jährige aus Conegliano in Venetien für den Turiner Klub. Damit ist er, wie Paolo Maldini vom AC Mailand und Francesco Totti vom AS Rom, eine der letzten, treuen Identifikationsfiguren unter lauter Fußball-Nomaden. Tore macht er auch, seine Tore. „La mattonella“ heißt die Nummer, in der ein links angeschnittener Ball von ganz oben in die rechte Ecke des Kastens fällt, wie ein Ziegelstein. Zuletzt traf es Real Madrid.“
Vincenzo Delle Donne (Tsp 28.5.) vergleicht die beiden Trainer. “Carlo Ancelotti bringt so schnell nichts aus der Fassung. Er reagiert gewöhnlich ruhig und besonnen. Selbst in den hektischen Phasen eines Fußballspiels fällt der gemütliche Trainer kaum einmal aus der Rolle. Ganz anders dagegen Marcello Lippi. Der Mann aus der Toskana ist aufbrausend, seinen Spielern tritt er als unerbittlicher Schleifer gegenüber, Autorität geht ihm über alles. Unterschiedlicher können die Charaktere der beiden Trainer nicht sein. Ancelotti, der Trainer vom AC Mailand, 44 Jahre alt, kündigt vor dem Spiel im Old Trafford das an, was er selbst vorlebt. „Ich werde meinen Spielern Gelassenheit predigen.“ Sein Berufskollege Lippi, Trainer von Juventus Turin, 55 Jahre alt, hält dagegen, indem er seine Lebensauffassung den Spielern vermitteln: Er bläut ihnen eiserne Disziplin ein. Der Verzicht auf Bewährtes kommt für Lippi nicht in Frage: Vom 4-4-2-System will er nicht abrücken. Die beruflichen Lebenswege von Marcello Lippi und Carlo Ancelotti haben sich als Trainer bei Juventus gekreuzt. Wobei Lippi einen Vorteil davontrug. Es ist fast Ironie des Schicksals, dass Ancelotti erst Lippis Nachfolger war und dann zwei Jahre später als Lippis Vorgänger abtrat. Ancelotti war es, den die Juventus-Chefetage 1999 verpflichtete, als Lippi nach drei Meistertiteln, einem Champions-League- und einem Weltpokalsieg Ermüdungserscheinungen zeigte und entlassen wurde – wegen Erfolgslosigkeit. Lippi war es dann wiederum, der Ancelotti beerbte. Das Vereinstriumvirat Roberto Bettega, Luciano Moggi und Antonio Giraudo hatte nach eineinhalb Jahren Ancelottis vorzeitige Entlassung beschlossen. Grund: „Juve“ hatte in Italiens Meisterschaft nur Platz zwei belegt – zu wenig für diesen Klub. Ancelotti leidet auch jetzt: Wenn seine Elf das Finale nicht gewinnt, dann dürften seine Tage als Cheftrainer beim AC Milan gezählt sein.“
Zwei Liebende, die sich gefunden haben
Christian Zaschke (SZ 28.5.) ist die Vorfreude auf das Spiel anzumerken. „Jetzt, da in Manchester sich der AC Mailand und Juventus Turin zum ersten italienischen Champions-League-Finale gegenüberstehen, wird offenbar, dass die beiden wie gemacht sind füreinander: die englische Stadt und der italienische Fußball. Denn in beiden wohnt das Wissen um die eigene Hässlichkeit, das sie nach außen so trotzig macht. Normalerweise gibt es in der Stadt den spektakulären Fußball von Manchester United, doch auf gewisse Weise passt der nicht dorthin, in seiner Schönheit wirkt er wie ein Gegenentwurf, er verhöhnt die Stadt. In Italien ist es gerade umgekehrt, in herrlichen Städten und schönen Stadien wird von blendend frisierten Männern bei tollstem Wetter so sehr gemauert und so wenig Fußball gespielt, dass das Gekicke wie eine Mahnung anmutet: So herrlich habt ihr es hier, bedenket, dass es das Hässliche gibt. Denn auch im Hässlichen wohnt ein Zauber. Man denke an den stillen Genuss eines perfekt gespielten 0:0, keine Torchancen, nur diese Ruhe. Man denke an graue Fassaden im Regen, keine Menschen, alles Beton. Manchester und der italienische Fußball: zwei Liebende, die sich nun dank der Macht des Zufalls und der Uefa gefunden haben.“
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