Donnerstag, 25. März 2004
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Rudi Völlers Stil – Gudjohnsen, Islands bester Stürmer – Sicherheitsvorkehrungen in Istanbul vor dem Spiel Türkei gegen England – Irland, Nummer Zwei des britischen Fußball
Michael Horeni (FAZ 11.10.) schreibt über Rudi Völlers Führungsstil: „Den großen Wurf vor dieser Partie zu erwarten, wäre übertrieben gewesen. Völler hat ihn in über drei Jahren nicht präsentiert. Völler denkt und handelt rein ergebnisorientiert. Er bessert Fehler aus, pragmatisch, aus dem Bauch heraus. Es wird nie eine feste taktische Voraussetzung geben, sagt er. In 14 Spielen nach der WM hat er achtmal mit einer Dreierkette und sechsmal mit vier Verteidigern auf einer Linie spielen lassen – zuletzt beim 2:1 gegen Schottland war er erfolgreich mit einer Dreierkette. Das heißt aber nicht, daß wir jetzt wieder so spielen, sagt Völler vor dem Spiel gegen Island. Ein eigenes System durchzuhalten, egal gegen welche Mannschaft, fällt Völler nicht ein. Unlängst hat der derzeit verletzte Jens Jeremies im Spiegel gemurrt, daß es nicht schlecht wäre, zumindest mal ein System zu finden. Diesmal sollen die Deutschen im Mittelfeld Überzahl schaffen, über die Außenpositionen spielen und so oft in den Strafraum kommen wie möglich. Ist doch logisch, sagt Völler. Solche Dinge sagt er oft. Aber wie es gemacht werden soll? Das sagt er nie. Wichtiger als Training und Taktik ist für den Teamchef die Einstellung. Die Spieler müssen wissen, was auf dem Spiel steht, sagt Völler. So wie gegen Schottland. Da hätten sie die Aufgabe bravourös gelöst. Mit diesen Vorgaben soll nun auch der Schlußpunkt glücken. Aber wie der Fußball bei der EM 2004 oder bei der WM 2006 aussehen soll, darüber nur ein Wort zu verlieren, hält er für unsinnig. Visionen sind für den Teamchef eher Krankheitsbilder.Immer wieder sind gesellschaftspolitische Parallelen zwischen dem Fußball und der Politik, zwischen Bundestrainern und Bundeskanzlern gezogen worden. Wenn es aktuell eine geben sollte bei Völler und Schröder, dann wäre es der erkennbare Widerwille für weitreichende Handlungsbegründungen in einer Zeit, die dringend nach Reformen verlangt. Doch wie kein anderer seiner Vorgänger hat der Anti-Theoretiker Völler auf dem Weg zur EM und WM die Nationalmannschaft umgekrempelt.“
Philipp Selldorf (SZ 11.10.) warnt: „Als Rudi Völler vor sechs Wochen in Reykjavik vor dem ersten EM-Qualifikationsspiel gegen Island von den Wundertaten des gegnerischen Stürmers Eidur Smari Gudjohnsen erzählte, dachten viele, er wolle im Land der Trolle und Zauberer ein weiteres Märchen verkünden. Selbst seine Spieler hielten es für übertrieben, dass Völler vor Gudjohnsen wie vor einer Ladung Dynamit auf der brennenden Postkutsche warnte. Doch nach ihrer Begegnung mit dem beim FC Chelsea in Englands Premier League engagierten Stürmer wissen sie es besser, und das Publikum wird es vielleicht auch noch erfahren: Deutschlands Nationalelf muss ihre Führung in Gruppe 5 vor allem gegen den Angreifer Gudjohnsen verteidigen, der auf den ersten Blick wie ein Kicker aus der Stammtischmannschaft wirken mag, aber eine Balltechnik beherrscht, auf die fast alle Bundesligastürmer neidisch sein müssten. Die übrigen Teilnehmer auf der Gegenseite bilden sich hingegen aus guten, passablen und weniger brauchbaren Komparsen, über die man keine langen Geschichten erzählen muss. Diese Ansicht jedenfalls hat sich durchgesetzt im Nationalteam, weshalb zum Beispiel der Mittelfeldspieler Bernd Schneider folgende Strategie entwickelt hat: „Da muss der Christian Wörns am Anfang mal richtig hinlangen und dem gleich den Spaß verderben.““
FR-Interview mit Christian Wörns
Rainer Hermann (FAZ 11.10.) berichtet die Sicherheitsvorkehrungen in Istanbul: „Nicht wenige Engländer haben Karten auf dem Schwarzmarkt erstanden. Die türkische und die englische Polizei wollen aber dafür sorgen, daß sie am Samstag nicht einmal in die Nähe des Stadions gelangen. In einem ersten Schritt ist allen Engländern, die zu dem Spiel angereist sind, auf den Flughäfen der Türkei die Einreise verwehrt worden, wenn sie als Schlachtenbummler zu erkennen waren. In einem zweiten Schritt mußten seit Montag die türkischen Hotels der Polizei die Listen mit den Namen ihrer englischen Gäste vorlegen. Die Verdächtigen unter ihnen hat die englische Polizei seit Mittwoch kontrolliert. Wer dennoch als Hooligan unerkannt durchgekommen sein sollte, der müßte am Samstag drei Sicherheitsringe um das Stadion passieren, um auf die Tribüne zu gelangen. Zuletzt wird die Polizei am Stadioneingang noch die Personalausweise der Zuschauer kontrollieren. Sie wird nur türkische Staatsangehörige passieren lassen. Für diejenigen, die es so weit gebracht haben, sind die Sicherheitsvorkehrungen schärfer als bei Spielen der türkischen ersten Liga. Gegen England darf nichts in den Hosentaschen sein. Konfisziert wird alles, was als Wurfgeschoß benutzt werden könnte: Kleingeld, Mobilfunkgeräte, Feuerzeuge und Flaschen, selbst die türkischen Flaggen mit Stern und Halbmond. Abgewiesen wird, wer Alkohol im Blut hat. Der müßte weit weg konsumiert worden sein. Denn im Stadtteil Kadiköy, in dem das Stadion liegt, darf am Samstag kein Alkohol verkauft werden. Die übergroße Vorsicht ist berechtigt. Zum einen entscheidet das Spiel über die direkte EM-Qualifikation, zum anderen hatte es in der Vergangenheit bei Spielen zwischen Vereinen der beiden Länder immer wieder Ausschreitungen gegeben. Dabei waren vor dem UEFA-Cup-Halbfinalspiel zwischen Galatasaray Istanbul und Leeds United im April 2000 zwei englische Schlachtenbummler erstochen worden. Im Endspiel in Kopenhagen sechs Wochen später standen sich Galatasaray und Arsenal London gegenüber, und die Fans beider Klubs führten Straßenschlachten mit äußerster Brutalität. Vier Schwerverletzte und 42 Festnahmen waren das Ergebnis, obwohl ein Fünftel aller dänischen Polizisten für Sicherheit hätte sorgen sollen. Daran hatten sich die englischen Hooligans erinnert, als sie im Hinspiel im Londoner Wembley-Stadion der türkischen Mannschaft einen wenig britischen Empfang bereitet hatten.“
Die NZZ (11.10.) befasst sich mit Irland, dem Schweizer Gegner: „Ein Jahr nach dem Trainerwechsel von Mick McCarthy zu Brian Kerr können sich die Iren am Samstag zumindest für die Barrage qualifizieren. Die wiedergewonnene Zuversicht hat einen statistischen Hintergrund: Seit zehn Spielen sind die Iren ungeschlagen. Die Equipe von Kerr ist in Basel nicht allein. Rund 6000 Fans sind ihr in die Schweiz gefolgt. Doch die Supporter haben ein Problem. Weil das irische Ticket-Kontingent auf 3500 Karten beschränkt war, führt der Weg in den St.-Jakob-Park für viele über den Schwarzmarkt. Angst vor Ausschreitungen ist aber nicht angebracht. Die „Green Army“ bewegt sich auf friedlichen Pfaden: „We‘re here to have a good time“ könnte ihr Slogan heissen. Wer nicht ins Stadion kommt, geht ins nächste Pub. Auf die Basler Gastronomie wartet ein ertragreicher Abend. – Ein wesentlich aggressiveres Auftreten als von den Fans ist von der Mannschaft zu erwarten. Mit ihrem kämpferischen, unnachgiebigen Stil haben sich die Iren in den letzten 15 Jahren einen Platz in der Noblesse des europäischen Fussballs erobert. Ihre Art zu spielen entspricht der Leidensgeschichte ihrer (von den Engländern) unterjochten und vertriebenen Vorfahren ziemlich exakt. „Wir wissen, was es heisst, um unsere Existenz zu kämpfen“, sagt Kerr mit einem Augenzwinkern. Seit 1988 – als sie sich unter Jacky Charlton erstmals für die EM qualifizierten – sind die Männer von der Grünen Insel an grossen Turnieren gern gesehene Gäste. Sie haben Schottland als zweite Macht des britisch geprägten Fussballs abgelöst. Zurückhaltung und Grazilität ist vom Schweizer Gegner nicht zu erwarten. Doch auch die bedingungslose Flucht nach vorne entspräche nicht der idealen Taktik.“
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Meine Perlen
Der 2:0-Sieg in Finnland habe das Standing des italienischen Nationaltrainers deutlich verbessert, berichtet Peter Hartmann (NZZ 13.6.). „An einem kühlen Frühlingsabend in Helsinki hat sich Giovanni Trapattoni mit der fernen Heimat versöhnt, und stellvertretend dankte anderntags die rosarote Gazzetta dello Sport: „Grazie, Trap. Questo è calcio.“ Das ist Fussball. Seine Squadra Azzurra gewann gegen die Finnen durch Tore von Francesco Totti und Alessandro Del Piero, Treffer mit Symbolwert, denn die beiden Stars traten erstmals seit der Niederlage Italiens im WM-Achtelfinal gegen Südkorea vor einem Jahr wieder gemeinsam auf. Die Italiener gewannen das fünfte Länderspiel in Serie. Der „Commissario tecnico“ stand nach dem missglückten EM-Auftritt in Cardiff gegen Wales mit dem Rücken zur Wand, doch jetzt hat Italien zumindest wieder eine gute Chance auf den zweiten Gruppenplatz und damit für die Barrage. Zur Entkrampfung der Stimmungslage leistete der Trainer als Diplomat und Psychologe selber den entscheidenden Beitrag. Nach der Weltmeisterschaft war Trapattoni wegen seiner Catenaccio-Philosophie von den eigenen Spielern (Vieri, Del Piero, Totti) hart kritisiert worden, und Maldini trat enttäuscht aus der Verbandsauswahl zurück. Im letzten Herbst sah sich der Coach mit einer Welle von Defaitismus konfrontiert, mit provokativen Absagen und fragwürdigen Begründungen. Aber er machte aus der Not eine Tugend (…) Als lernfähig zeigte sich „il Trap“ vor allem im kreativen Bereich, im Kopf die wieder gewonnenen Gewissheiten dank dem Durchmarsch von Milan und Juventus in der Euroliga: Er fand endlich eine Koexistenz-Formel für Totti und Del Piero. „Meine Perlen“, schwärmte jetzt Trapattoni. Und allmählich wird die Schmach vergessen, wie er, in einem frühen Panikanfall, Del Piero gegen Südkorea bereits in der 63.Minute gegen den „Wachhund“ Gattuso austauschte und wie Totti in der Verlängerung vom berüchtigten Schiedsrichter Byron Moreno mit der zweiten gelben Karte hinausgeschickt wurde. Manche sogenannte Experten in den Medien unterstellten den beiden eine Art genetische Unverträglichkeit, weil sie sich zu ähnlich seien.“
Wenn Gefühle stärker sind als der Verstand
Gerhard Fischer (SZ 13.6.) berichtet den klaren 3:0-Sieg Schwedens über Polen. „Es gibt viele Klischees über die Schweden. Sie leben angeblich so weit im Norden, dass sie einem Eisbären in die Arme laufen, wenn sie zum Zigaretten holen aus dem Haus gehen. Die Männer sind mindestens 2,50m groß, die Frauen alle blond und alle attraktiv und alle emanzipiert. Außerdem sind Schweden gelassen, bedächtig, diszipliniert, harmoniesüchtig. Sagt man. Ein bisschen was ist wahr. Ein Vorurteil ist auch, dass die schwedische Nationalmannschaft so Fußball spielt: eingezwängt in ein gut funktionierendes taktisches Korsett, ohne spielerische Klasse. Viele Tore schießen die Schweden nie. Auch das ist ein bisschen richtig. Oder war. Bis Mittwoch. Die Schweden spielten nämlich in der ersten Halbzeit wie die Brasilianer, mit denen sie sonst nur die gelben Hemden und die blauen Hosen gemeinsam haben. Wenn schwedische Fußballer Besonderes leisten, führt das bei schwedischen Fans immer zu einer lustigen Realitätsverschiebung – zu einer, die es nur gibt, wenn Gefühle stärker sind als der Verstand. Schweden sind Patrioten, sie mögen ihre Mannschaft, und im Überschwang ist Allbäck plötzlich so stark wie Ronaldo. Manchmal werden auch die Reporter von dieser Hybris erfasst. Das Svenska Dagbladet schrieb Linksverteidiger Erik Edman „eine Ballbehandlung wie Roberto Carlos“ zu (…) Schweden hat zwei Trainer, Lagerbäck und Tommy Söderberg, und ihre Charaktere stimmen so perfekt mit ihrem Aussehen überein, dass man sie in einem Comic genau so zeichnen würde, wie sie im wirklichen Leben sind: Söderberg geht wie ein tapsiger Eisbär, spricht undeutlich – und ist der Kumpel der Spieler. Lagerbäck ist dünn, trägt eine Brille, ist eher leise als laut – und ist der Theoretiker. Die Schweden nennen das Duo „die Firma Lagerbäck/Söderberg“ oder einfach „Lars-Tommy“. Ihre Arbeit wird respektiert, und ihre Erfolge können sich sehen lassen: Seit 1997 verloren die Schweden kein EM- oder WM-Qualifikationsspiel, das sind 25 Spiele – besser waren nur Deutschland (38 Spiele zwischen 1967 und 1981) und England (34 Spiele).“
Auf Otto Rehhagel ist Verlass
Andreas Morbach (Tsp 13.6.) lobt Otto Rehhagel nach dem 1:0 der Griechen über Ukraine. “Diesmal wird ihn die einheimische Presse, anders als zu Beginn seiner Tätigkeit, jedoch nicht attackieren, weil er seltener in ihrem Land ist, als sie sich das von einem Nationalcoach wünschen. Oder weil er auf Neugriechisch immer noch nicht viel mehr sagen kann als „Heute ist ein schöner Tag.“ Denn der Mann, der in seiner Heimat den SV Werder Bremen und den 1. FC Kaiserslautern zur Deutschen Meisterschaft führte, hat mit und trotz seiner eigenwilligen Art auch im Südosten Europas Erfolg. Es ist schon eine erstaunliche Serie, welche die Mannschaft von Otto Rehhagel hingelegt hat: In der Qualifikation vier Siege in Folge ohne Gegentor, dazu auswärts Spanien mit 1:0 besiegt. Die Spanier patzten am Mittwoch beim 0:0 in Nordirland erneut. Seitdem gelten die Spanier in Athen endgültig als großartige Menschen. „Gratias Amigos“, bedankte sich der Verband auf seiner Homepage erst einmal für die Tabellenführung. Die Aussichten auf die Teilnahme der Griechen an der Endrunde 2004 in Portugal stehen jetzt prächtig. Der Verband überlässt es seinem deutschen Trainer, die Euphorie zu drosseln. Und auf Otto Rehhagel ist Verlass.“
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Aufsichtsratschef Beckenbauer
„Wieder einmal wirbt Aufsichtsratschef Beckenbauer für einen Konkurrenten des teuren Klubsponsors“ berichtet Thomas Kistner in der SZ vom Mittwoch über das Engagement des Bayern-Aufsichtsratschef beim Telekom-Rivalen O2. Dabei fällt auf, dass dieses Thema selbst zwei Tage später in den anderen überregionalen Gazetten wenig Beachtung findet; ein Sonderfall, denn die Sportberichterstattung ist dafür bekannt, dass sie mehr als andere Ressorts Nachrichten verarbeitet und kommentiert, die bereits von anderen verarbeitet und kommentiert wurden. Für dieses Phänomen hält die Medienwissenschaft den Begriff „Agenda-Setting“ bereit. Gerne jedoch hätte man eine weitere Expertenstimme zu diesem heiklen Thema gehört. Schließlich ist Beckenbauer nicht nur Vereinsfunktionär, sondern greift als WM-Organisationschef und DFB-Vizepräsident in bundesweite Sportinteressen ein. Die Problematik wird aus der Tatsache ersichtlich, dass Telekom nicht nur die Münchner unterstützt. Auch für die in Deutschland stattfindende Weltmeisterschaft 2006 tritt der Bonner Konzern als Topsponsor auf.
Weitere Themen: der 1. FC Kaiserslautern verpflichtet einen „Spielertrainer“; Effenberg sagt Servus, oder doch nicht? und: Wie gehen Underdogs mit der ungewohnten Situation an der Tabellenspitze um? 1860-Niederlage gegen Hansa Rostock; Premier League vor dem Start u.a.
Martin Hägele (SZ 16.8.) schreibt über Kaiserslauterns Neuverpflichtung Ciriaco Sforza. „Mittlerweile wissen fast alle, dass hinter der “größten Sensation des deutschen Fußballs” (Günter Netzer zur Deutschen Meisterschaft des FCK 1998) nicht nur der selbstherrliche Otto Rehhagel gestanden hat; auf dem Rasen zog seinerzeit Ciriaco Sforza die Strippen. Nichts hat übrigens das Fußball-Lehrer-Ehepaar Beate und Otto Rehhagel mehr aufgeregt, hieß es, als wenn in den Zeitungen vom Spielertrainer Sforza zu lesen war. Als solcher ist er nun geholt worden. Obwohl man es offiziell schlecht schreiben kann – aber in der Tat ist es wohl so. Ciriaco Sforza versteht von diesem Spiel viel mehr als Weltmeister Brehme, einer Fachkraft ehrenhalber. Allerdings handelt es sich bei dem Spieler mit der Nummer 13 auf dem Trikot keinesfalls um die große Integrationsfigur für den in Cliquen und Grüppchen zerfallenen Mannschafts- Kader. Geschweige denn um einen, der die generellen Orientierungsprobleme des Traditionsklubs löst (…) Der eher introvertierte Eidgenosse hat sich noch nie groß um Klubpolitik gekümmert oder sich gar vor irgendeinen Karren spannen lassen – umgekehrt besitzt Sforza aber einen siebten Sinn für fußballerische Entwicklungen. Dieser Instinkt hat ihn am vergangenen Wochenende auch geleitet, als er die Offerten aus Kaiserslautern und Wolfsburg abwog. Dort die exklusive Konzeption des Weltkonzerns und der virtuelle Gang durch das VW-Stadion über die CD-Rom. Hier das Gefühl, dass er jeden Grashalm kennt und weiß, wie man das fanatischste Publikum Deutschlands und eine ganze Provinz dirigieren kann. Und in sich selbst das Ticken der Uhr, die auf den letzten Metern der Karriere schneller läuft und ihm immer deutlicher sagte, dass ihm nur noch ein letzter Versuch bleibt.“
Wolfgang Hettfleisch (FR 16.8.) über Stefan Effenberg, der vor einem Vertragsabschluss bei Austria Wien stehen soll. „Muss er sich das antun? Für einen Fußballer hat der schwierige Mann aus Hamburg-Barmbek fast alles erreicht. Geld hat er für zehn Leben genug verdient. Der Titel in der Champions League mit den Bayern 2001 war, das war an seiner Reaktion abzulesen, die Erfüllung seines sportlichen Traums. Was sollte danach noch kommen? Mal abgesehen von Schlagzeilen, für die Effenberg immer gut war – ob nun mit Stinkefinger, vermeintlichen Fußtritten gegen einen schnarchenden Trunkenbold vor der Garage, mit Ohrfeigen in der Nobeldisco, der Frau eines Ex-Kollegen an seiner Seite oder mit abenteuerlichen Einlassungen zum vorgeblich arbeitsscheuen Gesindel, zu dem er sich nun selbst zählen lassen muss. Hat er alles gehabt, alles ausgekostet bis zur Neige, hat nach Kräften ausgeteilt und eingesteckt. Und jetzt, nach Manchester, soll der alte Tiger wirklich noch die Beute Mödling hetzen? Na servus.“
Die Situation der beiden an der Tabellenspitze rangierenden Aufsteiger beleuchtet Michael Ashelm (FAZ 15.8.). „Nach den ersten magischen Momenten der Bundesligapremiere versuchen die überraschten Profiteure mit aller Macht dem Alltag seine Normalität zurückzugeben. Fast verlegen reagieren die Verantwortlichen des VfL Bochum dieser Tage auf allzu positive Begleitmusik wie die überschwängliche Umfrage eines lokalen Radiosenders, der seine Hörer befragte, mit welchem Resultat Neururers Mannschaft am Ende des Spieljahres abschneiden könnte. Also Meisterschaft? Oder Europapokalplatz wie vor ein paar Jahren? Für eine Nacht katapultierte sich sein Team an die Spitze der Liga. Einen Tag später übernahm Mitaufsteiger Arminia Bielefeld nach dem deutlichen 3:0 gegen Werder Bremen die Führungsposition. Schnell war so vom Zwergenaufstand die Rede, und viele freuten sich voller Schadenfreude, dass ausgerechnet in diesen Krisenzeiten die Kleinen aus der Fußballprovinz den Großen aus München, Dortmund, Berlin, Gelsenkirchen oder Leverkusen die Schau stehlen konnten. Dass dieser Zustand wohl nicht lange anhalten wird, darüber sind sich die Beteiligten im klaren. Gebetsmühlenartig wiederholen sie deshalb die branchenübliche Terminologie (…) Niemand, so scheint es, lässt sich vom ersten Hochgefühl verführen, Spekulanten haben keine Chance (…) Solange aber die ersten Sorgen noch nicht drücken und die Stimmung passt, wird – allerdings ohne großes Aufsehen – mitgenommen, was geht. Mit 4.000 bis 5.000 Zuschauern mehr rechnet der VfL Bochum zur Bundesliga-Heimpremiere. Nachdem am Freitag endlich ein neuer Trikotsponsor gefunden worden ist, verkaufen sich in diesen Tagen auch ein paar Vereinshemden mehr, was der leeren Vereinskasse etwas Geld einbringt. Die große Begeisterungswelle der Fans ist nach dem Anfangserfolg allerdings nicht ausgelöst worden. Wie in Bochum gilt der Verbleib in der höchsten Spielklasse auch in Bielefeld als höchstes Ziel. Wer mehr Potenzial sieht, gilt schnell als großmannssüchtig (…) Die Fußballfreunde in Bochum und Bielefeld verhalten sich derzeit eher wie Kleinaktionäre an der Börse, die nach den vielen Enttäuschungen der Vergangenheit nicht jedes Gebrüll überbewerten und hoffen, dass sich ihr Wertpapier erst einmal stabilisiert.“
Die taz (16.8.) berichtet von einem verzweifelten 1860-Präsidenten Wildmoser nach der 0:2-Heimniederlage gegen Hansa Rostock. „Schlaflose Nächte habe er, teilte er am Tresen in den Katakomben des Stadions mit. Nicht nur die sportliche Situation bereitet dem gewichtigen Münchner Sorgen, auch die Finanzsituation seines Vereins. Mit 6,5 Millionen Euro weniger als im Vorjahr muss der TSV 1860 auskommen. Dazu hat sich der Sponsor verabschiedet. Der jetzige Geldgeber, eine Motorenöl-Firma, dürfte weit weniger auf das 1860-Konto überweisen. Keinen großen Namen verpflichtet, für Hoffnungsträger Daniel Bierofka kein adäquater Ersatz und im UI-Cup kläglich gescheitert – 1860 ist auf bestem Wege, wieder einmal im Niemandsland der Bundesliga zu verschwinden.“
Raimund Witkop (FAZ 15.8.) meint. „Türkischer Fußball in Deutschland, das ist auch nach zwanzig Jahren noch ein Kampf um Selbstbewusstsein und Anerkennung, der mit hohen Einsätzen geführt wird – vor allem, wenn es um den Traum vom Profifußball geht. Der ist, als vielleicht naheliegendste Folge des dritten WM-Platzes der Türken, verbreiteter und drängender denn je (…) Warum die Späher aber in die höheren Amateurligen müssen, weil – abgesehen von der großen und einzigen Ausnahme Yildiray Bastürk – ihre Landsleute im deutschen Profifußball keine Rolle spielen: Das ist für Türken eine ernste und heikle Frage. „Ausländer werden nicht hochgeholt, sie bekommen keine echte Chance“, sagt Topcu und rattert Namen herunter, von denen die in Deutschland aufgewachsenen WM-Torschützen Mansiz und Davala nur die bekanntesten sind. Karrierechancen im Fußball als Abbild nationaler Ressentiments zu sehen, das ist sicher kein angenehmer Gedanke, hat aber doch viele Argumente für sich. Natürlich arbeitet Engin Topcu, der mit Anfang dreißig und wenig Training in der Landesliga gerade 35 Tore schoss, hier auch eigene Lebensgeschichte auf.“
Jürgen Ahäuser (FR 15.8.) kritisiert Strigels, des DFB-Schiedsrichterlehrwart, Ankündigung, seine Fernseh-Rubrik aufzugeben. „In der vergangenen Fußballsaison präsentierte das ZDF-Sportstudio dann einen Schiedsrichter, der so gar nicht dem Klischee des selbstherrlichen zu keiner Selbstkritik fähigen Pfeifenmannes entsprach. Mit Eugen Strigel hielt das Bildungsfernsehen in seiner besten Ausprägung, wenn auch nur für ein paar Minuten, Einzug in die Sportberichterstattung. Der Schwabe hatte etwas zu sagen. Ein Aufklärer, der den Kritikern auf ihrer Couch auch mal die unbekannte Seite des Regelwerkes erläuterte, komplizierte Situationen verständlich machte und sehr oft sowohl die Kameras als auch die Kommentatoren als die wahren Blinden überführte (…) Die lieben Kollegen schätzen die offene, ehrliche Art des Tuttlingers keineswegs. Die Zunft fühlt sich auf den Schlips getreten. Anders ist jedenfalls nicht zu erklären, warum Strigel nach einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Schiedsrichterausschusses, Volker Roth, zurückgepfiffen wurde. Damit haben die Schiedsrichter aber nur ein (Vor-)Urteil über sie selbst bestätigt: Pfeifen mit absolutistischem Gebaren, die keine Kritik vertragen können.“
Martin Pütter (NZZ 15.8.) wähnt Englands Vereinsfußball in „fremden Händen“. „Englands Fußball wird von ausländischen Managern beherrscht. Wenn die englische Fußballmeisterschaft dieses Wochenende beginnt, ist die Frage von Interesse, ob es endlich wieder einmal einem englischen Manager gelingt, mit seiner Mannschaft einen der drei Wettbewerbe zu gewinnen; in den letzten sechs Jahren hatten drei Schotten, zwei Franzosen, ein Nordire, ein Italiener und ein Holländer die Erfolge in der Premier League, im FA-Cup und im Ligacup erzielt (…) Es ist unwahrscheinlich, dass weder Doublegewinner Arsenal noch Liverpool oder Manchester United am Ende der Saison ganz oben stehen werden. Bis wieder ein englischer Manager eine nennenswerte Trophäe in England gewinnt, dürfte es wahrscheinlich noch etwas dauern.“
Vor dem Start der Premier League schreibt Thomas Dahlhaus (FAZ 16.8.). „Mit einem gehörigen finanziellen Vorsprung vor der europäischen Konkurrenz startet die englische Premier League an diesem Wochenende in die neue Saison. Ist der Saisonbeginn in Deutschland, Spanien und Italien von Sparzwang, Prämienkürzungen und Appellen zum Gehaltsverzicht geprägt, so schöpft das Oberhaus des englischen Fußballs vorerst weiter aus dem vollen. Umgerechnet rund 550 Millionen Euro kassieren die 20 Premier-League-Vereine für die kommende Spielzeit aus dem Fernsehdeal mit Rupert Murdochs Bezahlsender BSkyB – fast doppelt soviel wie Bundesliga, Serie A oder Primera Division (…) Krösus unter den vergleichsweise wohlsituierten Premier-League-Klubs (von Europas 20 umsatzstärksten Vereinen stammen allein sieben aus England) ist nach wie vor Manchester United. Die Konkurrenz aus Liverpool und Arsenal steht ähnlich gut da (…) Die eigentliche Kluft zwischen Arm und Reich im englischen Fußball besteht allerdings nicht so sehr innerhalb der Premier League, sondern zwischen Premier League und dem Unterbau aus erster, zweiter und dritter Division. Denn dort droht nach dem Zusammenbruch des Fernsehvertragspartners ITV Digital ohne einschneidende Ausgabenkürzungen der kollektive Bankrott.“
Hans-Joachim Waldbröl (FAZ 15.8.). „Leider ist der besagte 22. zwar eine Schnapszahl, aber doch nicht so hochprozentig wirksam wie der Elfte im Elften. Und eine Bundestagswahl ist kein Karnevalsauftakt; jedenfalls nicht dem ernsten Anspruch nach, mit dem die Prognosen aus Allensbach und anderswo den Ausgang der Volksabstimmung vorherzusagen versuchen. Darüber macht sich der organisierte Sport in seinen soeben veröffentlichten „Noten im Wahlkampf“ lustig. Oder meint der Deutsche Sportbund (DSB) seine Fleißkärtchen-Aktion für verdiente Angehörige von Regierung und Parlament ernst? Damit droht er sich lächerlich zu machen – vielleicht aber auch nur die Meinungsforschungsinstitute zu widerlegen, die der aktuellen Regierungskoalition für die nächste Zukunft Deutschlands keine Chance mehr geben. Doch der DSB ist, getreu seiner eigenen Kampagne, unerbittlich fair. Er gibt jedem eine Chance, verkneift sich auch noch den geringsten Tadel und zollt allen nur Lob. Streng nach Hierarchie allerdings und ohne Rücksicht darauf, dass allein die Regierung ihren Worten auch Taten folgen lassen konnte und die Opposition lediglich beim Widerwort zu nehmen war.“
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Stefan Effenberg
„Die Bundesliga also würde nun langweilig werden ohne einen Typen wie Stefan Effenberg? Das haben vor diesem Wochenende viele behauptet, weil nun einer weg sei, an dem man sich reiben konnte, was offenbar wichtig ist. Wird man also Stefan Effenberg vermissen? Den von früher vielleicht, den im Wolfsburger Trikot gewiß nicht. Und kaum wurde am Wochenende wieder gespielt, gab es viele Themen – nur der Abgang des stets eine Spur zu sehr von sich selbst überzeugten Effenberg war nicht darunter.“ Diesem Fazit der FAZ ist beizupflichten, denn der Fußball ist nicht von einzelnen Typen abhängig, um Erzählenswertes zu bieten.
Die Story des 27. Spieltags spielt (wieder mal) in Leverkusen. „Nicht alles, was in der Bundesliga geschieht, lässt sich mit mathematischer Logik erklären. Dass der neue Sportdirektor Jürgen Kohler im gebeutelten Leverkusen wie ein Messias begrüsst wurde, ist verständlich; dass die Bayer-Profis aber plötzlich um zwei Klassen besser spielen, ist sonderbar“, wundert sich die NZZaS über den dortigen Wandel beim 4:1 über Hertha Berlin. Die für Spekulationen ertragsreiche Fragestellung ist diejenige nach der Wirkungsgröße Kohler bzw. nach dem Einfluss des unsichtbaren und inzwischen als bundesligauntauglich abgestempelten Trainer Thomas Hörster. Nicht nur die FAS schätzt den Anteil Kohlers als sehr groß ein: „Es bedarf doch etwas mehr als eines überforderten Trainers aus der dritten Reihe, um ein aus dem Tritt geratenes Starensemble wieder auf Kurs zu bringen. Daß Leverkusen jetzt endlich sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen gewillt ist, kann kein Zufall sein.“ Auch der Tagesspiegel stellt fest: „Nahezu alle Beobachter führten das neue Leverkusener Selbstbewusstsein auf die Kurzzeit-Arbeit des früheren Dortmunder Abwehrspielers zurück.“ Folglich müsste man der FAS zustimmen, die angesichts dieser Ursachenzuschreibung titelte: „Hörsters Niederlage“. Der kicker prophezeit wie üblich in Stabreimform: „Mit Kohler aus dem Keller“, und Bild veranschaulicht: „Kohler hat Bayer wach geküsst.“ Welche Ungerechtigkeit! Wer wäre eigentlich für eine Niederlage verantwortlich gemacht worden?
Blickt man in die heutigen Sportseiten der überregionalen Blätter, sieht das Meinungsbild differenzierter aus. Die FAZ spricht von gelungener Arbeitsteilung zwischen Kohler und Hörster, der nicht nur die letzten 14 Tage ohne Ablenkung durch internationale Aufgaben zu intensiver und konzentrierter Trainingsarbeit genutzt zu haben scheint. Der vor Mikrofonen ungelenk agierende Coach profitierte zudem zweifellos davon, dass der ausgebuffte Ex-Internationale – und bereits seit einigen Jahren sich offenbar als Fußballintellektueller stilisierender – mit klugen Statements sämtliches öffentliches Interesse absorbierte. „Kohler kommt – und Hörster darf endlich im Abseits stehen“ (FAZ).
Oberhörster, Unterhörster, Unterkohler
Letztendlich ist die Sache nicht mit Sicherheit zu klären, warum auch? Doch die Debatte zeigt erneut die Diskussions- und Meinungsfreudigkeit sowie die Rollenverteilung des nationalen Fußballstammtisches. Das schöne daran: Zu widerlegen sind die Analysen sowohl der Schreihälse als auch der Bedächtigen ohnehin nicht. Halten wir es also mit dem Zwischenruf der taz: „Viertel nach fünf sah es für einen kurzen Moment so aus, als sei auch das letzte Rätsel ein für allemal gelöst: In diesem Augenblick war Fußballgott 186 Zentimeter groß, knapp 90 Kilo schwer, trug schütteres Haar sowie Brille und babbelte Sätze, die glatt der Lehre Buddhas entsprungen sein könnten. Nur lachende Menschen sind glückliche Menschen, hatte Jürgen Kohler jedenfalls vergangene Woche schon gesagt. Dann hat er sich auf die Bank gesetzt und Leverkusen das Lachen zurückgegeben.“ Oder noch besser, wie die Financial Times Deutschland, mit Nonsens: „Es gilt den Eindruck zu vermeiden, der gewesene Weltmeister sei gekommen als Oberhörster (wie der Kölner Stadt-Anzeiger so nett formulierte). Nein, es galt höchstens als Unterhörster aufzutreten, besser noch als sein eigener Unterkohler.“
Parallelen zu Rudi Völler
Jan Christian Müller (FR 7.4.) vergleicht. “Wir wissen nicht genau, warum Bayer 04 Leverkusen plötzlich so gut, so leidenschaftlich gespielt und so viele Tore geschossen hat. Gute-Laune-Kohler weiß es nach den paar Tagen seit seinem Amtsantritt nicht. Der griesgrämige Herr Hörster weiß es nicht. Niemand weiß es, und niemand wird es jemals erfahren. Aber es liegt natürlich nahe zu glauben, dass Kohlers Geist und seine ungezählten Tätscheleien während der Trainingseinheiten ihren gehörigen Teil dazu beigetragen haben müssen. So ähnlich, wir erinnern uns, war es auch damals. Damals, im Sommer 2000, als Rudi Völler plötzlich und unerwartet Teamchef ward, obwohl er noch nicht mal ein gültiges Zwischenzeugnis als angelernter Fußball-Lehrer in der Tasche hatte. Was vollkommen egal war, weil Völler – wie jetzt Kohler – mit Hingabe und skandalfrei Fußball gespielt hat und in der Szene geachtet war. Nicht unbedingt als genialer Rhetoriker oder strategischer Kopf, aber als Kumpel der Profis, der den richtigen Ton findet, zu ihnen hält, für Wohlfühl-Atmosphäre sorgt und den Fokus dank seiner Popularität auf seine Person lenkt.“
14 Tage lang mit der Mannschaft in Ruhe geübt
Jörg Stratmann (FAZ 7.4.) schließt nicht aus, dass Trainer Hörster zu dem Sieg etwas beigetragen hat. „Zwar hatte auch Calmund sich gegen die Behauptung gewehrt, einer wie Kohler komme einfach, sehe und rette. Der spielt nicht mit und kann keine Tore schießen, sagte er – und erwartete dennoch einen Schub für die Mannschaft. Sprach’s und genoß angesichts des folgenden Blitzlichtgewitters um Kohler sehr, einmal nicht im Scheinwerferlicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Diese Aufgabe erfüllte der neue Sportdirektor mit nicht nachlassener Geduld, was auch Hörster sichtlich entgegenkam. In dieser Arbeitsteilung darf sich der Trainer endlich auf das konzentrieren, was er nach Ansicht aller Beobachter glänzend beherrscht. Vierzehn Tage lang konnte er nun in Ruhe mit der Mannschaft üben, unbehelligt von lästigen Unterbrechungen durch die Champions League. Und was die Mannschaft im Training angedeutet habe, so faßte Hörster zufrieden zusammen, habe sie in Praxis sehr gut umgesetzt.“
Ein bißchen gute Laune reicht aus?
Peter Penders (FAZ 7.4.) bezweifelt den Kohler von vielen Seiten zugeschriebenen großen Einfluss. „Ein bißchen gute Laune im Training verbreitet, ein paar Einzelgespräche, und schon läuft es wieder – das klingt zu einfach, als daß man in Leverkusen nicht schon vorher hätte darauf kommen können. Kohler aber, haben alle Hobbypsychologen schnell herausgefunden, würden die Spieler eher glauben, weil er als Sportler eben schon alles erlebt habe. Stimmt wohl, darunter ist auch jene Schwalbe, mit der er in der vergangenen Saison einen Elfmeter für Dortmund schindete, was unter anderem ausgerechnet Leverkusen den Meistertitel kostete (…) So ein Job aber müßte doch auch etwas für Effenberg sein, denn über dieses Anforderungsprofil kann er doch wohl nur lachen. Alles erlebt im Fußball? Was hat Effenberg schließlich nicht mitgemacht in seiner Karriere, den WM-Titel von Kohler einmal ausgenommen? Dem könnte man doch vorbehaltlos alles glauben, schließlich war er nach eigenen Angaben immer geradlinig, was in seinem Fall aber auch bedeutete, daß er kein Fettnäpfchen ausließ, wenn es zufällig auf seinem Weg lag. Effe als Sportdirektor würde sogar noch mehr Fotografen als am Samstag in Leverkusen garantieren, auch wenn dies kaum noch denkbar scheint. Nur an einem müßte Effenberg vielleicht noch etwas feilen: Daß er auf Anhieb soviel gute Laune auslösen würde, ist schwer vorstellbar.”
Unerklärliche Kleinigkeiten, die im Fußball über Erfolg oder Niederlage entscheiden
Jörg Stratmann (FAZ 7.4.) über den Spieler des Spiels. „Sein Tagwerk hatte Oliver Neuville auf eine Weise erledigt, die man von dem bald 30 Jahre alten Angreifer von Bayer 04 Leverkusen lange nicht gesehen hat. Nach langen Wochen deprimierender Formschwäche war das auch endlich wieder in Ziffern zu belegen. Nach genau 768 Spielminuten ohne Fortüne waren dem schmalen Profi gleich zwei Tore gelungen. Neuville ließ sich die Erleichterung darüber kaum anmerken. Sein stets bekümmert wirkender Blick zeigte vielleicht eine Spur mehr Entschlossenheit. Doch sein erster Weg nach der Auswechslung belegte, was sich in den Reihen der Leverkusener in diesen Tagen verändert hat. Auf der Bank nahm Neuville neben dem neuen Sportdirektor Jürgen Kohler Platz. Denn für die wiedergefundene Spielstärke hatte wohl vor allem der Zuspruch des erfahrenen früheren Nationalverteidigers gesorgt. Und nun empfing der Spieler des Tages den aufmunternden Klaps des Managers wie eine Zusatzprämie. Na bitte, sagte Kohlers Geste: Es geht doch. Es sind zuweilen unerklärliche Kleinigkeiten, die im Fußball über Erfolg oder Niederlage entscheiden. Oder darüber, warum ein Dribbling mal in den Beinen des Gegenübers hängenbleibt oder aber gelingt.“
Gewinnspiel für Experten
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Die (neue) Stimmung auf Schalke
Christoph Biermann (SZ 4.4.) beschreibt die (neue) Stimmung auf Schalke. „Rudi Assauer kann man dieser Tage nach der Situation seines Klubs nicht befragen. „Aufgrund meines Hirnschadens habe ich nichts mitbekommen“, sagte der Manager von Schalke 04, der am vergangenen Samstag zu Hause die Treppe hinuntergestürzt war. Ein verbeultes Hirn hat Assauer dabei zwar nicht davongetragen, aber sein Kopf brummt immer noch, und er sieht aus wie nach einer Wirtshausschlägerei der wüsteren Sorte. Als „Rudi Ass-aua“ schreibt der Manager in Bild selbstironisch „Mein Veilchen-Tagebuch“, doch richtig spaßig scheint ihm derzeit nicht zumute zu sein. Für laut verkündete gute Nachrichten wirkt er jedenfalls nicht empfänglich. „Ob mit Spaß oder ohne Spaß, spielt keine Rolle“, sagte Assauer gestern etwas brummig, „am Ende zählt sowieso nur das Ergebnis.“ Das hätte man als Widerspruch zu den Ausführungen seines neuen Teamchefs Marc Wilmots verstehen können, der zuvor in einer Häufigkeit den Begriff „positiv“ benutzt hatte, als wäre eine Extraprämie dafür ausgelobt worden. Aber vielleicht wollte Assauer nur den Eindruck etwas ausbalancieren, den der Belgier hinterlassen hatte. Denn ohne Zweifel hat Wilmots in seinen ersten Tagen als Coach vor allem auf einen Stimmungswechsel im Team gesetzt. Zu dem Zweck schwang er sich gern zum Überbringer einfachster Botschaften auf. „Fußball ist mitunter gar nicht so schwierig“, sagte er und berichtete von lockerer Atmosphäre und guten Trainingsleistungen. Wie er das bewerkstelligt hatte, wollte Wilmots nicht näher erklären. „Ich will eine positive Einstellung sehen, negative Leute will ich nicht haben“, postulierte er nur. Das klingt, als ob er sich die Welt so zurechtdrehen würde, wie er sie gerne hätte.“
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Jammervoll zurückgefallene Elitetruppe
Freddie Röckenhaus (SZ7.4.) beleuchtet Dortmunder Perspektiven. „Spätestens mit der ersten Heimniederlage nach 24 Spielen nämlich beugt sich die Rückrunde des entthronten Meisters zu einer einzigen spielerischen Blamage. Zur bereits akzeptierten Auswärtsschwäche kommt nun der Verlust des Heimnimbus. Noch am Donnerstag hat BVB-Präsident Gerd Niebaum den Rest der Saison zur „Qualifikationsrunde für die Champions League“ erklärt. Doch der Präsident hatte unvorsichtigerweise auch gesagt, man könne „die Saison abhaken“. Nicht ganz zufällig trat die Mannschaft beim Spiel gegen Werder Bremen so leidenschafts- und ideenlos wie selten auf (…) Fabian Ernst und Dortmunds Ersatztorwart Roman Weidenfeller machten das Unglück des BVB perfekt. Als Weidenfeller wieder einmal etwas übereifrig sehr weit aus seinem Tor gegrätscht kam, lupfte Ernst fast von der Mittellinie aus den Ball triumphierend ins leere Dortmunder Tor. „Man muss sich das trauen“, sagte Ernst, „und dann braucht man Glück.“ – „Ein Sonntagsschuss“, fand Matthias Sammer. Weidenfeller wollte Kritik an seinem nicht wirklich notwendigen Herauslaufen nicht gelten lassen: „Ich habe gesehen, dass der Ball in die Gasse kommt und habe reagiert – mehr war nicht.“ Schon zu früheren Anlässen hatte Weidenfeller durch unbeirrbares Selbstbewusstsein mehr geglänzt als durch auffällige Leistung. Bei seiner ersten Vertretung für den damals Gelb-gesperrten Nationaltorwart Jens Lehmann etwa trumpfte er nach dem Spiel auf: „Man wird sehen, wer nächste Woche spielt. Das muss nun der Trainer entscheiden.“ Am Samstag jedenfalls agierte Weidenfeller allzu oft zu weit vor seinem Tor – inklusive einer Einlage, als er im Stile eines Kung-Fu-Kämpfers am trudelnden Ball vorbeimetzelte. Selbsterkenntnis ist eben die schwierigste aller Erkenntnisse. Damit tut sich Dortmunds in der Rückrunde so jammervoll zurückgefallene Elitetruppe schwer. Nach dem Verlust der Großziele Titelverteidigung und Champions League fällt es den meisten sichtlich schwer, in den Alltag zurück zu finden – und Gegner wie Bremen zumindest nieder zu kämpfen, wenn schon die spielerischen Mittel nicht mobilisiert werden können.“
Überforderungsprobleme
Raimund Witkop (FAZ 7.4.) resümiert die bisherige Laufbahn des Torschützen des Tages. „Wer sich im landesweiten Schwärmen über den großen Moment des Fabian Ernst als Nörgler hervortun will, könnte so argumentieren: Vielleicht führt ihn dieser Kunstschuß auf den falschen Weg zurück. Denn Thomas Schaaf, sein Trainer in Bremen, versucht seit langem auf ihn einzuwirken, doch lieber das Einfache und Natürliche zu tun als das Riskante und Spektakuläre. Die noch junge Karriere des 23 Jahre alten Spielers enthält schon eine lange Geschichte von Anspruch und Wirklichkeit, die in der Jugend von Hannover 96 begann. Fabian Ernst durchlief eine Musterkarriere in den Jugend-Auswahlmannschaften des DFB und wurde stets als eines der größten Talente seiner Generation gehandelt. Daß er nach beinahe fünf Erstligajahren – zwei weniger erfreuliche beim Hamburger SV, dann mit aufsteigender Tendenz in Bremen – kein Talent mehr sei, muß Ernst in Gesprächen immer noch regelmäßig beteuern. So bedrückend ist offenbar das Gefühl, für den Beobachter wie für ihn selbst, da müsse noch mehr kommen bei einer so gefeierten Begabung. Die sichtbare Folge war oft genug, wie Ernst sich vor lauter Ambitionen verhaspelte oder mit Führungsansprüchen selbst überforderte (…) Ein perfekter Systemspieler, laut Werder-Manager Klaus Allofs taktisch sogar besser als Torsten Frings. Dieser stets präsente Vergleich hat Fabian Ernst die Aufgabe seiner sportlichen Reifung übrigens nicht leichter gemacht. Der stilistisch verwandte Frings hat in Bremen, jetzt in Dortmund und in der Nationalmannschaft genau jene Entwicklung genommen, von der auch Ernst geträumt hat. Allein Frings‘ Rolle in Bremen ausfüllen zu wollen war dann ein Teil des Überforderungsproblems.“
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Bundesliga
Werder Bremen im Glück dank Ailton, „ein Held aus einem Western“ (SZ) – Miroslav Klose hat sich wie ein guter Gast benommen – Borussia Dortmund auf dem Weg zurück nach oben – Torsten Frings, Straßenfußballer – „VfL Bochum auf den Spuren der Stuttgarter“ (NZZ) u.v.m.
Werder Bremen – 1. FC Kaiserslautern 1:0
Ein Held aus einem Western
Jörg Marwedel (SZ 17.2.) beobachtet Ailton beim Elfmeter: „kalt, konzentriert, unbeeindruckt wie ein Held aus einem Western. Er hat gewusst, dass er damit wohl die Deutsche Meisterschaft 2004 vorzeitig entschieden hat. Neun Punkte Vorsprung sind nicht leicht zu verspielen angesichts der weiter schwächelnden Konkurrenz aus München und Stuttgart. Im Grunde haben sich am Sonntagabend 93 Minuten Fußball auf diesen einen, entscheidenden Moment reduziert. Und dieser eine Moment hatte ein aus Bremer Sicht missratenes Spiel gegen einen überraschend gefährlichen Gegner noch zum Fest gemacht, zu einem Meilenstein auf dem Weg zum großen Ziel (…) Die Frage aber, ob Kirchers Entscheidung überhaupt korrekt war, ließ sich erst später klären, und sie erhöhte den Respekt vor dem Unparteiischen noch, der sofort erkannt hatte, was viele Beobachter erst nach Studium der Fernsehbilder realisierten: Knavs hatte Ailton getreten. Als Torwart Wiese – der wegen seiner Beleidigungen vom DFB am Dienstag mit einer Strafe von 15 000 Euro belegt wurde – die Szene noch einmal auf dem TV-Schirm gesehen hatte, räumte er kleinlaut ein: „Bitter. Ich dachte, es war eine Schwalbe.“ Für die Legende vom geschenkten Elfmeter blieb kein Platz. Nur Kaiserslauterns neuer Trainer Kurt Jara mochte sich mit dem Ende nicht abfinden. „Ein halbes Foul“ hatte er nur gesehen. Außerdem eins von der Sorte, bei dem man „zehn Sekunden vor Schluss nicht mehr pfeift“. Als zählten die letzten Momente nicht mehr zum Spiel. Die Bremer erinnerten sich derweil an einen anderen historischen Elfmeter. Er liegt bald 17 Jahre zurück und kostete Werder damals die sicher geglaubte Meisterschaft. Michael Kutzop hätte mit einem Schuss gegen den FC Bayern den Titel perfekt machen können. Doch statt ins Netz flog der Ball in der Schlussminute des 33. Spieltags gegen den Außenpfosten des von Jean-Marie Pfaff gehüteten Tors. Das Geräusch verfolgt Kutzop noch immer. „Bis heute“, sagte der inzwischen 48 Jahre alte Elfmeterspezialist kürzlich, „kann ich es nicht glauben oder gar erklären.“ Manches im Fußball bleibt eben für immer ein Mysterium. Doch Ailton Goncales da Silva wird das gewiss nicht interessieren. Schon gar nicht als Deutscher Meister.“
Frank Heike (FAZ 17.2.) schildert Bremer Glück und Freude: „Manfred Müllers Strahlen füllte den ganzen Presseraum aus. Glücklich ging der Geschäftsführer Marketing von Tisch zu Tisch und drückte Hand um Hand, um jedem seinen Plan mitzuteilen, wie Werder Bremen denn nun tatsächlich deutscher Fußballmeister werden könne: Wir schlagen zu, wenn der Gegner sich nicht mehr wehren kann. Dreimal hat dieses siegbringende Bremer Modell nun prächtig funktioniert, daraus meinte Müller frei nach Kant aus der Maxime seines Willens ein allgemeines Gesetz ableiten zu können. Im Sinne von: Wer so oft in letzter Sekunde gewinnt, der wird Meister. Nach dem spät, aber nicht zu spät sichergestellten Sieg im Pokal bei Greuther Fürth, dem dreifachen Last-minute-Punktgewinn in Gladbach folgte das 1:0, mit dem nun wirklich keiner mehr gerechnet hatte. Ob das Kant-Jahr auch zum Werder-Jahr wird? Neun Punkte Vorsprung auf den ärgsten Verfolger Bayern München sind mehr als ein gutes Polster. Mehr noch als dieses sanfte Ruhekissen dürfte die Bremer aber gefreut haben, daß der Trend für sie spricht. Zum dritten Mal nacheinander haben sich die Bremer Profis nun gegen einen starken Gegner abgemüht. Sie haben sich nicht hängen lassen, haben gegen alle Widerstände unbedingten Siegeswillen gezeigt (vor allem Valérien Ismael) und neunzig Minuten lang die taktischen Vorgaben von Trainer Thomas Schaaf eingehalten, ja, sogar 92 Minuten lang. Das lobte der Fußball-Lehrer später auch: Wir haben bis zur letzten Sekunde gezeigt, daß wir alles wollen. Für diesen Einsatz sind wir belohnt worden. Es war beileibe nicht nur Glück, das den Bremern das 1:0 gegen die von Trainer Kurt Jara hervorragend eingestellte Mannschaft bescherte. Sicher, in der spielentscheidenden Situation hätte nicht jeder Schiedsrichter Elfmeter gegeben, wiewohl der Strafstoß berechtigt war: Die Fernsehbilder zeigten, daß Aleksander Knavs den Bremer Ailton sehr wohl getroffen hatte. Die anschließenden Proteste der Lauterer waren mehr Frust.“
Man will sehen, wie gut er ist, aber er soll kein Tor machen
Jörg Marwedel (SZ 17.2.) stellt fest, dass Miroslav Klose sich als guter Gast benommen hat: „Es muss ein merkwürdiges Gefühl sein, als Gegner in seine mutmaßliche neue Heimat zu kommen. Miroslav Klose hat gar nicht zu leugnen versucht, dass sein Auftritt „kein Spiel wie jedes andere“ für ihn war. Jeder weiß inzwischen, dass der Wechsel des Nationalstürmers nur noch an Werders Finanzierungsmodell hängt, und er sich längst entschieden hat. „Es sieht gut aus“, hat er sich in Bremen entlocken lassen. Schließlich hat ihm sogar Rudi Völler zu jenem Klub geraten, bei dem der DFB-Teamchef einst selbst seine Weltkarriere startete. Auch Kloses Berater Michael Becker bestätigte: „Die Bremer bewegen sich.“ Und Werders Sportdirektor Klaus Allofs bekräftigte: „Wir sammeln noch das Geld.“ Zu den Ideen, mit denen man das Klose-Paket (17 Millionen Euro für vier Jahre inklusive fünf Millionen Ablöse abzüglich des Gehaltes für den nach Schalke wechselnden Ailton von insgesamt knapp acht Millionen) finanzieren will, soll der Verkauf so genannter Genussscheine sowie eine Streckung des Finanzierungsplans zählen. Kloses Auftritt im Weserstadion war durchaus dazu angetan, bei den Bremern Vorfreude auf künftige Genüsse zu entwickeln, denn er erfüllte alle Wünsche, die Klaus Allofs an dieses Spiel hatte: „Man will sehen, wie gut er ist, aber er soll kein Tor machen.“ Genau so kam es. Aggressiv, engagiert und laufstark hat Klose sich für sein altes Team ins Zeug gelegt. Gleich dreimal aber scheiterte er freistehend vor dem Werder-Tor – zweimal an Torwart Andreas Reinke, einmal mit einem prächtigen Kopfball, den Valerien Ismael auf wundersame Weise noch von der Linie bugsierte. Es war, als habe ihm das Unterbewusstsein befohlen, den Bremern nicht hineinzupfuschen auf dem Weg Richtung Titel.“
1860 München – Borussia Dortmund 0:2
Christian Zaschke (SZ 17.2.) sieht Dortmund auf dem Weg nach oben: „Bei Borussia Dortmund haben sich die Maßstäbe erstaunlich schnell verschoben. So weit, dass sich Trainer Matthias Sammer nach dem so glanzlosen wie souveränen Sieg bemüßigt fühlte, sich für das wenig attraktive Spiel zu entschuldigen. Andere Trainer wären vielleicht froh, dass ihre Elf sich allmählich aus der Krise bewegt und würden darauf verweisen, dass in solchen Phasen allein Punkte zählen. Sammer jedoch sagte: „Von der Attraktivität her war mehr möglich.“ Es ist nicht genau zu unterscheiden, ob dieser Wunsch nach attraktivem Spiel so kurz nach dem Tief der Hybris entspringt oder einem genesenen Selbstbewusstsein. Der Grat ist schmal. Es spricht jedoch manches dafür, dass die Dortmunder mit dem Sieg in München den Glauben an sich erneuert haben. Sammer sagte mehr, als er nicht sprach. Der sonst häufig recht hitzköpfige Trainer wirkte gelassen wie selten. Als sein Gegenüber Falko Götz über das Spiel sprach, lächelte er. Geduldig beantwortete Sammer Fragen, er analysierte die Partie sachlich. Nach Niederlagen hatte er bisweilen Fernsehjournalisten in einer Weise angeblafft, dass es beinahe einer Mutprobe gleichkam, ihm eine Frage zu stellen, sei sie auch noch so Harmlos. Nach zwei Siegen hintereinander von einem Lauf zu sprechen, mag etwas übertrieben erscheinen, doch was den Dortmundern so gute Laune bereitete, war das Personal, mit dem der Sieg vollbracht wurde. Allmählich sind die vielen verletzten Spieler zurück, Torsten Frings, der wegen eines Kreuzbandrisses die gesamte Hinrunde hatte aussetzen müssen, lenkte das Spiel des Teams solide aus der zentralen Mittelfeldposition. Es ist erstaunlich, wie schnell Frings zu alter Form gefunden hat. Er spielte so gut, dass umgehend Spekulationen auftauchten, er könne zum kriselnden FC Bayern wechseln.“
Richard Leipold (FAS 15.2.) porträtiert Torsten Frings: “In den Augen des Dortmunder Cheftrainers Matthias Sammer ist Frings ein richtiger Straßenfußballer. Der Mittelfeldspieler fühlt sich am wohlsten, wenn er kicken kann, ohne sich allzuviel mit den Begleitumständen seines Tuns beschäftigen zu müssen. Um so schmerzlicher war das vergangene halbe Jahr für ihn – und für seine Trainer, die ihn schmerzlich vermißt haben. Frings laborierte an einem Kreuzbandriß, den er im Ligapokalspiel gegen Bochum erlitten hatte. Der Siebenundzwanzigjährige gehört zu den Favoriten Sammers und steht auch in der Gunst Rudi Völlers weit oben. Knapp drei Wochen nachdem Frings in den Bundesligabetrieb zurückgekehrt ist, berief ihn der Teamchef des DFBs ins Aufgebot für das Länderspiel in Kroatien. Für Frings ein Vertrauensbeweis, der guttut nach so langer Leidenszeit. Im Gegenzug ist er gefordert, das Vertrauen seiner Förderer rasch zu rechtfertigen. Der Straßenfußballspieler kommt in die Phase seines sportlichen Schaffens, wo es Zeit wird, erwachsen zu werden, Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen, wie Sammer fordert, dem eine sportlich-mentale Wesensverwandtschaft zu Frings nachgesagt wird (…) Selbst ein Starspieler wie Tomas Rosicky bekommt die ungebremste Tatkraft des Torsten Frings zu spüren. Kritiker rechnen zu Recht vor, wie gut die Borussia ohne den tschechischen Genius war: Von zwölf Spielen mit Rosicky gewann Dortmund in dieser Bundesligasaison nur drei, von den sieben Partien ohne ihn gingen fünf zugunsten des BVB aus. Diese Statistik spricht gegen Rosicky; der optische Eindruck für Frings. Genug Stoff für einen Konflikt im Mittelfeld. Der stille Stratege aus Tschechien trägt die Spielführerbinde, Frings trägt das Herz auf der Zunge, zumindest auf dem Fußballplatz. Dem Zweikampf mit großen Namen ist er schon als junger Profi nicht aus dem Weg gegangen. Vom Zweitligaklub Alemannia Aachen nach Bremen gekommen, legte er sich dort alsbald mit dem damaligen Werder-Kapitän an. Als Andreas Herzog, der Dirigent, ihn im Training zurechtwies, kultivierte Frings die Sprache des Straßenfußballers: Was willst du denn, du Lutscher?“.“
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Ein richtiger Familienbetrieb mit glänzendem Betriebsklima
Martin Hägele (NZZ 17.2.) erklärt das Erfolgsmodell VfL Bochum: „Früher hätte an solch einem Wochenende in Bochum der Bär getanzt, und am Montag hätte ein Mann mit seinen Sprüchen die ganze Bundesliga beherrscht: Peter Neururer alias „Peter der Grosse“. Erstaunlicherweise musste das Deutsche Sportfernsehen am Sonntag keinen Extradienst herausgeben mit Sprüchen oder Zitaten nach dem Auftritt des einst egomanischen Fussball-Lehrers. Vom spektakulären Triumph gegen den FC Bayern München blieb nur die nette Episode übrig, wie sich Neururer beim Materialwart für die richtige Taktik bedankt hatte. Der hatte schon vor Wochen empfohlen, gegen den Rekordmeister so zu spielen, „wie wir das im Ruhrstadion immer tun. Bloss keine Extras, und sich nach der Taktik der Bayern richten.“ Das mediale Schmankerl sollte einem Zweck dienen: Schaut her, Leute, der VfL Bochum ist halt doch ein richtiger Familienbetrieb mit einem glänzenden Betriebsklima. Für einen Klub, der jahrzehntelang mit dem Image einer grauen Maus lebte, ist es nicht ganz einfach, sich seinen natürlichen und bescheidenen Charme zu bewahren – wenn plötzlich das geballte Interesse auf einen gelenkt wird. Durch Siege gegen die wirtschaftlich übermächtigen Nachbarn Dortmund und Schalke, spätestens mit dem Erfolg gegen Meister Bayern, wurden die Bochumer zu den Lieblingen des Monats. Das Fussballpublikum goutiert es, von Mannschaften fasziniert zu werden, die vorführen, dass man auch mit kleinen Etats grossen Sport liefern kann. In diesem Sinn lösten Neururer und Co. jetzt den VfB Stuttgart ab, nachdem aus den „Jungen Wilden“ die „jungen Müden“ geworden und die Protagonisten der Talentwelle mit Millionenverträgen abgesichert worden waren. Solche Fussballidylle war schon immer von begrenzter Haltbarkeit, und auch die Verantwortlichen an der Castroper Strasse 145 wissen, dass man von diesen Sympathiewerten nicht lange leben kann.“
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Dieses Finale hinterließ keinen schönen Geruch
Das Schlimmste war zu befürchten, trat aber nicht ein. Nachdem das italienische Finale der Champions League (der AC Mailand bezwang Juventus Turin mit 3:2 nach Elfmeterschießen) nach atemraubender erster Halbzeit, durchschnittlichem zweiten Durchgang sowie einer undramatischen Verlängerung letztendlich torlos endete, musste man mit bissigen Klagen über italienisches Defensivprimat rechnen. Schließlich „wird Italien“, stellt die SZ fest „in Europa traditionell reflexhaft belächelt.“ Das „Haben wir es nicht schon immer gesagt?!“ der schreibenden Zunft blieb jedoch weitgehend aus. Abgesehen von der spanischen Presse (“Gebt den Pott zurück!”), die in Sachen internationaler Fußballberichterstattung indes nicht ernst zu nehmen ist, dominieren zwar sehr kritische, immerhin jedoch hauptsächlich unvoreingenommene Urteile über ein Finale, das man durchaus zu den besseren zählen kann.
„Je länger die vom deutschen Schiedsrichter Markus Merk souverän geleitete Partie dauerte, desto „italienischer“ ging es auf dem Rasen zu“, heißt es im Berliner Tagesspiegel. Die FAZ erkennt einen „Triumph der Sachlichkeit“, die NZZ schreibt über „Verteidigungsarbeit mit artistischen Zügen“. Alle anderen Tageszeitungen hierzulande teilen sich einen Korrespondenten; ein Indiz für mangelndes Interesse, restriktive Medienpolitik seitens der Veranstalter oder schlicht die Medienkrise? Dass der renommierte Fußballautor Ronald Reng (unterwegs für SZ, taz, BLZ, FR und FTD) nicht viel vom italienischen Fußball hält, hat er im Vorfeld gestanden. So schrieb er in der SZ vom Dienstag: „Italienischer Fußball ist fantastisch anzusehen. Man darf bloß nicht aufs Spielfeld schauen. Einen meiner besten Nachmittage im Fußballstadion hatte ich vor einigen Jahren beim Spiel AS Rom gegen AC Mailand: Was für ein Spektakel, was für eine Leidenschaft – auf den Rängen. Nirgendwo wird Fußball so farbenfroh, so fanatisch zelebriert wie in italienischen Fankurven, ich sah den Zuschauern 90 Spielminuten zu. Aber noch heute, einige Jahre später, bin ich ratlos, wen oder was die italienischen Fans in der Serie A eigentlich feiern: Sich selber? Dass der Eisverkäufer vorbeikommt? Oder tatsächlich, dass ihr Team nach fünf Quer- und drei Rückwärtspässen einen Einwurf an der Mittellinie erkämpft hat?“ Folglich war für Reng „weit und breit kein Gewinner zu sehen“, bevor er resigniert die Champions-League-Saison bilanziert: „Am Ende wird sie mehr für ihre Verlierer als für ihre Gewinner in Erinnerung bleiben.“ Die markanteste Szene des Abends beschreibt er folgendermaßen: „Hey, duschst du gar nicht?, schrie jemand Milans Ersatztorwart Christian Abbiati zu, als er, noch in Torwartkluft aus dem Stadion ging. Duschen? Morgen!, sagte Abbiati und lachte. Nein, dieses Finale hinterließ keinen schönen Geruch.“
Ein Bravo an das überwiegend italienische Publikum
In der italienischen Presse fällt die Freude nicht ganz so explosiv aus wie üblich. Das mag jedoch daran liegen, dass Berlusconis AC Mailand in Italien nicht über eine (gute) Presse verfügt. Denn der Corriere della Sera gehört wie Juventus dem Agnelli-Clan, und der Besitzer von La Repubblica ist pikanterweise Carlo De Benedetti, der erbitterte Gegenpart des Regierungschefs nicht nur im SME-Prozess, bei dem Berlusconi wegen Richterbestechung angeklagt ist und in dessen Verlauf kürzlich Berlusconis engster Vertrauter Cesare Previti zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Dennoch wird dem AC Mailand Respekt gezollt. Im Corriere della Sera heißt es: „Der König der europäischen Krone verdrängt die Königin der Scudetti nach einem Spiel, das zwar mit 0:0 endete, aber nicht schlecht war. Objektiv hat Milan mehr für den Sieg getan, besonders in der ersten Hälfte.“ Gianni Mura von La Repubblica hingegen lobt das Publikum: „Ein Bravo an das überwiegend italienische Publikum, das seine Spieler an diesem Abend auf englische Art unterstützt hat: ohne Gewalt, Rauchbomben, Raketen, Invasionen des Spielfeldes. Es ist also möglich.“ Er schlägt vor, den nächsten Scudetto in England stattfinden zu lassen.
Außer dem AC Milan und den begeisterten Tifosi gibt es noch weitere Sieger: die Sportjournalisten Italiens, zumindest in Sachen Geschwindigkeit. Bereits am Himmelfahrtsmorgen konnte man an Bahnhofsbuchhandlungen in der deutschen Provinz Tageszeitungen kaufen, die auf der Titelseite mit den Jubelmeldungen „Milan König von Europa“ – „Juve durch Elfmeter bezwungen“ aufwarteten. Auch in den Innenteilen waren bis zu acht Seiten ausführlicher, brandaktueller Berichterstattung zum „italienischen Derby“ zu finden.
Nichts und niemand, der zu Träumen von einer glorreichen Zukunft verführt hätte
Zu den Ursachen mangelnder Spieldramatik lesen wir von Michael Horeni (FAZ 30.5.). “Die Furcht vor dem wiedererwachten Gespenst Catenaccio, das in Europa sein Unwesen treibe, hat das Finale der Champions League nicht ganz vertreiben können. Daß der Defensivfußball made in Italy nach seiner Renaissance in dieser Spielzeit eine neue Ära begründen könnte – diese Sorgen müssen sich die Fußballfans jenseits des Apennin jedoch kaum machen. Das Endspiel zeigte zwei Stunden lang, woran es einer bruchlosen italienischen Erfolgsgeschichte für die Zukunft gebricht: Dem neuen Champion AC Mailand fehlt es ebenso wie Verlierer Juventus Turin, trotz aller kollektiven Qualität, an Starappeal. Schon während der Halbfinalbegegnungen im Stadtderby gegen Inter mangelte es Milan erkennbar an einer Führungskraft, die dem starren taktischen Konzept spielerische Kraft verliehen hätte. Auch im Endspiel gab es nichts und niemanden, der zu Träumen von einer glorreichen Zukunft verführt hätte.“
Saison ohne Innovation
Ronald Reng (BLZ 30.5.) ist vom Spiel wie von der gesamten Saison enttäuscht. “Nach Endspielen sehen Sieger immer gleich aus, überdreht und kindisch – sogar an einem Abend wie diesem, an dem weit und breit kein Gewinner zu sehen war. Für das, was zwischen Juventus Turin und Mailand geschah, nachdem Milan in den ersten 30 Spielminuten mit exzellentem Direktpass-Spiel Großes erahnen ließ, gibt es wenig Vergleiche. So arm an Torgelegenheiten war seit der WM 1994, als sich Italien und Brasilien langweilten, kein internationales Finale mehr. Der ganze Abend ging schief, es war schlimm, sagte Juventus Trainer Marcello Lippi – und redete nur von seiner Elf, die in 120 Minuten eine Torchance zu Stande gebracht und beim 2:3 im Elfmeterschießen mehr Strafstöße verschossen als verwandelt hatte. Es ist nach solch einer Partie einfach zu sagen, ein Champions-League-Endspiel hätte Real Madrid verdient gehabt oder wenigstens irgendeine andere schwungvolle Elf. Die traurige Wahrheit aber ist, dass sich niemand mehr als Milan und Juventus die Finalteilnahme verdient hatten. Klasse, gut dosiert, reichte in dieser Europacup-Saison. Milan ächzte und stöhnte nach einem fliegenden Start ab Februar nur noch Richtung Manchester, Juventus zeigte nur ein wirklich außergewöhnliches Spiel, im Halbfinale gegen Real Madrid. Doch Madrid etwa hatte auch nicht viel mehr riesige Auftritte als den im Viertelfinale gegen Manchester. Juventus, gerade zum 27. Mal italienischer Meister geworden, schien in einer Saison, in der Pragmatismus Eleganz übertrumpfte, der logische Gewinner. Aber dass sie das Finale verloren, ist schließlich auch bezeichnend für diese Saison ohne Innovation.“
Verteidigung zur Kunstform erhoben
Flurin Clalüna (NZZ 30.5.) bilanziert. „Man musste schon etwas genauer hinsehen, damit sich einem die Vorzüge der italienischen Spielart im Bruderduell erschlossen. Die erste Halbzeit spielte sich so ab, wie es die Regieanweisungen für „Milan Paradiso“ vorgesehen hatte: ein dynamischer „Diavolo“ mit Seedorf und Rui Costa in der Doppelrolle als Maestro, Chancen durch Inzaghi und einem Offsidetor Schewtschenkos. Daneben wurde vor allem die Verteidigung zur Kunstform erhoben. Die Artisten Maldini – in seinem sechsten europäischen Finalspiel – und Nesta bewiesen, dass auch Abwehrarbeit zelebriert werden kann. Derweil war die Juve unwillentlich ihrem Spitznamen gerecht geworden. Der Übername „vecchia signora“ lebte in den fünfziger Jahren auf, als sich die zu grossen Trikots mit Luft füllten und deshalb der Eindruck einer „gobba“, eines Buckels, entstanden war: Abgesehen von vereinzelten Farbtupfern Davids‘ oder Zambrottas krankte die Offensive der Turiner an Lähmungserscheinungen. Die Abwehr um Ciro Ferrara hingegen – ein Gütesiegel erster Klasse mit Torhüter Buffon als Magier – spielte praktisch fehlerfrei.“
Michael Horeni (FAZ 30.5.) berichtet. „Als zwei Stunden Fußball ohne Tore vorbei waren, suchte Marcello Lippi auf dem Platz das Gespräch mit seinen Spielern. Es ging darum, fünf Mutige für die einfachste Methode zu gewinnen, endlich ein Tor zu erzielen: Elfmeterschießen. Willst du? Fühlst du dich gut? Bist du bereit? Solche Fragen machten bei den am Boden liegenden und von Helfern versorgten Profis von Juventus Turin die Runde, nachdem ein am Ende immer ermüdenderes italienisches Finale der Champions League nach 120 Minuten zur Entscheidung reifte. Doch der Trainer erntete bei seinen Gesprächen nur Kopfschütteln. Vier oder fünf Spieler haben abgelehnt, einen Elfmeter zu schießen. Dann wird es schwierig, sagte Lippi später, als das für Juventus traurige Resultat der Verweigerungshaltung auch im Ergebnis feststand. Und als Verlierer fügte er resignierend und vorwurfsvoll hinzu: Und kein Elfmeter wird von einem Trainer geschossen. (…) Von Juves spielerischer Klasse war nur für Minuten und von entschiedenem Willen, ein Tor zu erzielen, ebenfalls kaum etwas zu spüren. Juves Triumph im Halbfinale gegen Real Madrid, es war wie ein Ereignis aus einer anderen Turiner Fußballwelt. Der ganze Abend lief schlecht, von Anfang an, sagte Lippi, er stand unter keinem guten Stern. In der ersten halben Stunde lag es allein am AC Mailand, daß kalte Turiner Berechnung das Endspiel im Theater der Träume von Old Trafford nicht von der ersten Minute an beherrschte. Milan bemühte sich zumindest, Tore erzielen zu wollen und dabei den zweifelhaften spielerischen Ruf des italienischen Klubfußballs vor aller Augen aufzubessern. Doch Gegner Juventus verweigerte seinen Beitrag.“
In der NZZ (30.5.) heißt es. „Vielleicht war es nur Zufall, dass das Schicksal Trainer Ancelotti im Moment der unendlichen Erleichterung den Weg in die Arme von Seedorf gewiesen hatte. Aber den Holländer und den Ausbildner der Rossoneri verband in diesem Augenblick, als sich das Blitzlichtgewitter über dem Old Trafford entlud, das unsichtbare Band der Geschichte. Als erstem Spieler war es dem gebürtigen Surinamer gelungen, den Titel der Champions League mit drei verschiedenen Vereinen zu gewinnen. 1995 hatte er das Ajax-Dress getragen, drei Jahre später das weisse Trikot von Real Madrid. Der Pathos mag klebrig wirken, doch dem 27-Jährigen verschlug es vor den laufenden Fernsehkameras die Sprache, Tränen verhinderten ein nüchternes Statement. Derweil muss Carlo Ancelotti, der in Turin den hohen Anforderungen an einen Ausbildner nicht genügt hatte, seine historischen Meriten mit drei anderen Grössen (Miguel Muñoz, Giovanni Trapattoni und Johan Cruyff) des internationalen Fussballs teilen: Sie alle hatten sowohl als Spieler wie als Trainer auf dem Thron der Königsklasse gesessen. Bereits als Mittelfeldakteur hatte Ancelotti mit der AC Milan 1989 und 1990 den Meistercup gewonnen, jetzt wird ihm als Coach die gleiche Ehre in der Champions League zuteil.“
RTL hat auf große Momente verzichtet
Christopher Keil (SZ 30.5.) geht mit RTL hart ins Gericht. „Man sitzt da also zunächst neunzig Minuten. Tore werden nicht geschossen, was die Übertragung ja nicht grundsätzlich abwertet. Doch dann, nach dem Schlusspfiff, in diesen zehn, fünfzehn Minuten, in denen so viel passiert vor der Verlängerung, terrorisiert RTL seine eigene Sendung. Mit Werbung. Vor allem mit sehr viel Waschmittel-Werbung. Mit schrecklicher Waschmittelwerbung. Und während schnarrende Stimmen ein dämliches Sauberkeitspulver anpreisen (Wer kennt den Namen der Dose?), schreiten die Trainer scheinbar beherrscht über den Rasen. Sie umarmen den einen oder anderen, lachen beiläufig. Ihre Assistenten fangen an, auf Zetteln Namen zu sortieren. Namen, die eine halbe Stunde später beim Elfmeterschießen Glück oder Unglück über die Clubs von Juventus Turin und des AC Mailand bringen werden.Die meisten Kicker liegen auf dem Rasen und lassen sich massieren. Oft von Kollegen, die nicht mehr zum Einsatz kommen oder ausgewechselt wurden. Gefüllte Wasserflaschen fliegen von einer Hand zur nächsten. Man blickt dank des Kameramannes in die Gesichter, und die körperliche Anstrengung hat dort mehr angerichtet als beide Teams auf dem Rasen. Der Fernsehsport hat seine größten Momente, wenn er den Athleten ganz nahe ist, bevor sich alles entscheidet. Oder danach. Kein Wort kann da Hoffnung, Verzweiflung, Freude besser beschreiben als das Bild. RTL hat Mittwochabend auf große Momente verzichtet.“
Jörg Hanau (FR 30.5.) begrüßt die Reduzierung des Wettbewerbs in der nächsten Saison. „Die längst schon auf den Weg gebrachte Reform der Königsklasse kommt angesichts solch eines finalen Spiels zur rechten Zeit. In der neuen Saison bleibt der Hälfte der qualifizierten 32 europäischen Topteams einiges erspart. Genau vier Spiele nämlich. Die Champions League speckt ab, unterzieht sich einer Schlankheitskur. Statt bislang 16 Spiele sind es künftig nur noch deren zwölf bis zum Finale im kommenden Jahr in der Arena AufSchalke. Die auf Grund ungebremster Expansion eingeführte Zwischenrunde ist von der Europäischen Fußball-Union (Uefa) ersatzlos gestrichen worden. Nach der ersten Gruppenphase geht es fortan im Achtelfinale bereits um alles oder nichts. Eine weise Entscheidung der europäischen Fußball-Funktionäre, sollte das neue Spielsystem doch für sportliche Attraktivität sorgen. Es trifft ja nicht immer Juve auf Milan. Die Fußballer sind zufrieden. Jetzt gilt es nur noch, die TV-Sender vom neuen Format zu überzeugen. Schließlich sind sie es, die den Ball in der Zasterliga mit ihren Millionen am rollen halten.“
Internationale Pressestimmen FR
Italienische Reaktionen Tsp
(28.5.)
Von Fallenstellern, Schachspielern und Bleigiessern halten die Mancunians nicht viel
Die NZZ(28.5.) berichtet die Atmosphäre im Finalort “Wärmendes Heimatgefühl hat sich in Manchester noch nicht breit gemacht. Vereinzelt sind auffällig gekleidete Repräsentanten jener gut 60 freiwilligen Helfer zu erblicken, die der Stadtrat durch einen Crash-Kurs für eine sprachliche Schnellbleiche in Italienisch gejagt hat. Noch setzt der Ansturm der erwarteten 50.000 Tifosi aber erst behutsam und tröpfchenweise ein. Nicht zu vergleichen jedenfalls mit der Invasion der alten Römer, die im 1.Jahrhundert auf der Insel eingefallen waren und den Aussenposten „Mancunium“ gegründet hatten. Anders als zwischen Mailänder Dom und Turiner Fiat-Werken, wo sich über eine Million Anhänger beider Vereine um Tickets für das Spiel des Jahres bemüht hatten, ist die Stimmung der gastgebenden Engländer reserviert und zurückhaltend – very british halt. Ein Augenschein im ausladenden Fan-Shop bestätigt den Eindruck: Einzig die ManU-Trikots gehen wie die sprichwörtlichen warmen Brötchen über den Ladentisch. Auf die Frage, wo sich denn die Juventus-Shirts befinden, die ernüchternde Antwort – „Wo zum Teufel hängen die Zebras?“, ruft der übel gelaunte Verkäufer ins Magazin. Nichts ahnend hatte er sich als Kenner des italienischen Calcio geoutet: Diavolo und Zebra, die Symbole der beiden Finalgegner, in einem Atemzug zu nennen, verdient Respekt. Es wird am Mittwochabend noch einiges an Überzeugungsarbeit brauchen, ehe sich die 20.000 Engländer im ausverkauften Stadion (62.295 Zuschauer) für die italienische Sache einnehmen lassen. Von Fallenstellern, Schachspielern und Bleigiessern halten die Mancunians nicht viel. Die Werbetrommel für den zuletzt so erfolglosen wie unverhofft auferstandenen Calcio zu rühren und um Verständnis für die italienische Spielart zu werben, haben sich deshalb wohl beide Mannschaften auf ihre Fahnen geschrieben. Oder wie es Juve-Stürmer David Trézéguet umschrieben hat: „Ich hoffe, das angekratzte Image des italienischen Fussballs wird nach dem Final aufgewertet.“ Old Trafford hat ein feines Gespür dafür, ob es sich hierbei nur um einen flapsigen Flirt oder eine veritable Wiedergeburt handelt.“
Ronald Reng (FTD 28.5.) kann sich über ein italienisches Endspiel nicht richtig freuen. “Als Marcello Lippi 1994 Trainer von Italiens erfolgreichstem Fußballklub Juventus Turin wurde, wusste er, wo er zuerst hin musste: auf den Friedhof. Sein Vater verdiente eine Erklärung. Lippi setzte sich an das Grab und sprach mit dem Toten. Sein Vater war ein überzeugter Gewerkschafter gewesen, Juventus das Privatspielzeug des – mittlerweile auch verstorbenen – Fiat-Chefs Gianni Agnelli. „Ich weiß, dass dir diese Mannschaft nicht gefällt, weil sie für dich ein verhasstes Symbol der Macht ist, Papa. Aber sie wird dir gefallen.“ (…) Dass Juventus dieses Jahr das beste Team in Europa ist, lässt sich schon vor dem Anpfiff mit einigem Recht behaupten, nach beeindruckenden Resultaten, etwa im Halbfinale gegen Madrid oder zuvor gegen Dynamo Kiew, sowie dem Gewinn ihrer 27. italienischen Meisterschaft. Aber was würde Vater Lippi sagen? Gefallen tut La Juve immer noch nicht. Das erste inneritalienische Finale in der Geschichte der Champions League wird im restlichen Europa weniger mit Vorfreude als mit Skepsis erwartet, und auch wenn man den Neid und die übliche Schlaumeierei abzieht, so bleibt doch ein berechtigter Missmut. Denn nur in Ausnahmen haben Juventus und Milan in dieser Saison angedeutet, dass mit ihnen die größte Partie der Spielzeit auch eine große Sache werden könnte. Zwar haben die beiden Kontrahenten alles, was man braucht, um erfolgreich Fußball zu spielen – exzellente taktische Disziplin, technisch großartige Profis. Aber ihnen fehlt, was Fußball faszinierend macht: der Drang, spielen zu wollen. Nach Zeiten, in denen offensive Teams wie Real Madrid oder Manchester United die Champions League auf ein neues Niveau hoben, ist dies das Jahr des Stillstands. Die Spielweise von Milan und Juventus hat nichts Außergewöhnliches, nichts Innovatives. Pragmatisch, solide.“
Schießt ihr ruhig eure Tore, wir machen eben ein paar mehr
Matti Lieske (taz 28.5.) rückt Vorurteile zurecht. „Manchmal scheint es, als hätten die Italiener Defensivfußball und Offensivfußball gleichermaßen erfunden. Das Inter Mailand der 60er-Jahre machte den Catenaccio seines Trainers Helenio Herrera für alle Zeiten zum geflügelten Wort, der AC Mailand von Arrigo Sacchi beendete in den 80ern die tumbe Schreckensherrschaft der Briten und schwang sich zum Synonym für bildschönen Angriffsfußball auf. Aber natürlich gab es beide Varianten schon lange vorher. So verfuhr das grandiose Real Madrid in den 50ern nach der Devise: Schießt ihr ruhig eure Tore, wir machen eben ein paar mehr. Und der Österreicher Karl Rappan hatte bereits 1938 als Trainer der Schweiz den Deutschen im Achtelfinale mit seinem berühmten Riegel das früheste Aus ihrer WM-Geschichte beschert. Die Schweizer vergaßen jedoch auch das Toreschießen nicht, denn sie wussten, dass große Defensive erst dann wirklich erfolgreich ist, wenn sie die Basis für ebenso große Offensive darstellt. Das galt auch für das klassische Inter Mailand, welches fünf Mal in Folge mindestens das Halbfinale des Europacups der Landesmeister erreichte, den es 1964 und 1965 gewann. Inters Fußball war längst nicht so öde, wie es der Begriff Catenaccio suggeriert. Geprägt von Offensivkünstlern wie Mazzola, Suárez, Jair oder Corso lieferte sich die Mannschaft zum Beispiel 1964 zwei atemberaubende Matches mit Borussia Dortmund (…) Gute Verteidigung ist an sich nichts Böses. Vor allem in Spanien, wo man in den letzten Jahren daran gewöhnt war, Europas Fußball zu dominieren, und den Verlust dieser Position an Italien nur schwer verkraftet, sieht man dies derzeit anders. Aus allen Postillen wird gegen den vermeintlichen italienischen Mauerfußball gewettert, und man vergisst gern, dass Real Madrid letztes Jahr mit drei Abwehrschlachten gegen Barcelona und Leverkusen am Ende die Champions League gewann. Von Übel ist die Priorität der Defensive lediglich dann, wenn ihr nur minimales Offensivbemühen zur Seite steht. So wie bei Liverpool und Nottingham in den 70er- und 80er-Jahren; wie bei den Münchner Bayern und dem FC Valencia im europäischen Finale vor zwei Jahren, wo beide Teams von Anbeginn dem Elfmeterschießen entgegenverteidigten; wie bei Italiens Nationalmannschaft unter Trapattoni; wie beim aktuellen Team von Inter Mailand. Trotz der unzweifelhaften Betonung solider Defensive boten die Spitzenspiele der italienischen Liga aber auch in der abgelaufenen Saison häufig rasanten Fußball auf hohem Niveau. Außer bei Inter sind Rückpässe zum Torwart oder Querpässe in der eigenen Hälfte, wie man sie in der Bundesliga zum Teil minutenlang betrachten kann, eine absolute Rarität.“
zur Debatte über den italiensichen Fußball siehe auch hier
Verteidigen als produktive Kunst
Dirk Schümer (FAZ 28.5.) porträtiert Paolo Maldini. „Mit nicht einmal siebzehn stand er bereits in der Serie A auf dem Feld. Lange Zeit mußte er sich gegen den neckischen Vorwurf durchsetzen, er habe mit seinem berühmten Vater und dem jeweils aktuellen Trainer gleich zwei Übungsleiter. Als Vater Cesare dann nach 1996 tatsächlich Italiens Nationaltrainer wurde, war sein berühmterer Sohn längst jenseits aller neidischer Nachrede. Eigentlich hatte der kleine Paolo Stürmer werden wollen und dabei ausgerechnet Roberto Bettega von Juventus Turin, dem heutigen Endspielgegner, nachgeeifert. Den Vorwärtsdrang merkt man seiner eleganten und zweckdienlichen Weise zu verteidigen stets an: Mit immensem taktischen Geschick, kluger Raumaufteilung und nützlichen Pässen nach vorne prägt Maldini immer auch das Aufbauspiel. Die abgeklärte, antizipierende Spielweise, die ihm auch schwere Verletzungen ersparte, machte Maldini zum Erzvater einer ganzen Generation italienischer Verteidiger von Weltklasse. Ihm eifern Alessandro Nesta, der heute neben Maldini die Innenverteidigung bildet, wie Mark Iuliano oder Gianluca Pessotto nach, die für den Gegner Juve mit Eleganz vorwärtsverteidigen. Diese erheblich jüngeren Spieler haben sich bei Maldini die Kunst abgeschaut, nicht nur Angriffe zu zerstören, sondern das Verteidigen als produktive Kunst zu betreiben. Doch nicht nur Maldinis Ballbehandlung, auch der Spieler selbst ist stets eine Augenweide. Bei Umfragen unter weiblichen Fans wurde der hochgewachsene Mann mit tiefblauen Augen, dunkler Lockenmähne und griechischem Profil bei internationalen Turnieren gleich zweimal zum Spieler mit dem größten Sex-Appeal gewählt; bei Modenschauen für Armani und Versace stand er als Dressman auf dem Laufsteg.“
Birgit Schönau (SZ 28.5.) porträtiert Alessandro del Piero. „Er war Pinturicchio. Seine Tore erschienen dem kunstsinnigen Avvocato hingemalt wie die Fresken des Hofmalers von Pius II. Als sie ausblieben, nannte der Alte den Spieler ironisch Godot. Dann, abschätzig-sarkastisch: Mammas Liebling. In den letzten Jahren hatten sie wieder zueinander gefunden. Morgens um sieben Uhr rief der Industrielle seinen Lieblingsfußballer an. Er wollte nur fünf Minuten über Fußball reden, um seinen Tag besser zu beginnen. Oft weckte er den Spieler, aber der hat lange gebraucht, das seinem Padrone zu gestehen. Der Patriarch und sein Juwel – Gianni Agnelli und Alessandro Del Piero. Nun ist der Avvocato tot, und im Champions-League-Halbfinale Juve – Real Madrid erinnerte ein Banner über der Fankurve an ihn: „Wir haben einen Stern am Firmament, der weist uns den Weg.“ So sentimental können sie werden im grauen Turin. Aber Juves Star beim Finale in Manchester ist Del Piero, und wenn er den Pokal erheben würde, könnte er zum Kometen des calcio italiano aufsteigen. Eine Karriere mit Höhen, vor allem aber großen Tiefen und vielen Mühen hat er hinter sich, per aspera ad astra. Immer bei Juventus. Seit zehn Jahren spielt der 28-Jährige aus Conegliano in Venetien für den Turiner Klub. Damit ist er, wie Paolo Maldini vom AC Mailand und Francesco Totti vom AS Rom, eine der letzten, treuen Identifikationsfiguren unter lauter Fußball-Nomaden. Tore macht er auch, seine Tore. „La mattonella“ heißt die Nummer, in der ein links angeschnittener Ball von ganz oben in die rechte Ecke des Kastens fällt, wie ein Ziegelstein. Zuletzt traf es Real Madrid.“
Vincenzo Delle Donne (Tsp 28.5.) vergleicht die beiden Trainer. “Carlo Ancelotti bringt so schnell nichts aus der Fassung. Er reagiert gewöhnlich ruhig und besonnen. Selbst in den hektischen Phasen eines Fußballspiels fällt der gemütliche Trainer kaum einmal aus der Rolle. Ganz anders dagegen Marcello Lippi. Der Mann aus der Toskana ist aufbrausend, seinen Spielern tritt er als unerbittlicher Schleifer gegenüber, Autorität geht ihm über alles. Unterschiedlicher können die Charaktere der beiden Trainer nicht sein. Ancelotti, der Trainer vom AC Mailand, 44 Jahre alt, kündigt vor dem Spiel im Old Trafford das an, was er selbst vorlebt. „Ich werde meinen Spielern Gelassenheit predigen.“ Sein Berufskollege Lippi, Trainer von Juventus Turin, 55 Jahre alt, hält dagegen, indem er seine Lebensauffassung den Spielern vermitteln: Er bläut ihnen eiserne Disziplin ein. Der Verzicht auf Bewährtes kommt für Lippi nicht in Frage: Vom 4-4-2-System will er nicht abrücken. Die beruflichen Lebenswege von Marcello Lippi und Carlo Ancelotti haben sich als Trainer bei Juventus gekreuzt. Wobei Lippi einen Vorteil davontrug. Es ist fast Ironie des Schicksals, dass Ancelotti erst Lippis Nachfolger war und dann zwei Jahre später als Lippis Vorgänger abtrat. Ancelotti war es, den die Juventus-Chefetage 1999 verpflichtete, als Lippi nach drei Meistertiteln, einem Champions-League- und einem Weltpokalsieg Ermüdungserscheinungen zeigte und entlassen wurde – wegen Erfolgslosigkeit. Lippi war es dann wiederum, der Ancelotti beerbte. Das Vereinstriumvirat Roberto Bettega, Luciano Moggi und Antonio Giraudo hatte nach eineinhalb Jahren Ancelottis vorzeitige Entlassung beschlossen. Grund: „Juve“ hatte in Italiens Meisterschaft nur Platz zwei belegt – zu wenig für diesen Klub. Ancelotti leidet auch jetzt: Wenn seine Elf das Finale nicht gewinnt, dann dürften seine Tage als Cheftrainer beim AC Milan gezählt sein.“
Zwei Liebende, die sich gefunden haben
Christian Zaschke (SZ 28.5.) ist die Vorfreude auf das Spiel anzumerken. „Jetzt, da in Manchester sich der AC Mailand und Juventus Turin zum ersten italienischen Champions-League-Finale gegenüberstehen, wird offenbar, dass die beiden wie gemacht sind füreinander: die englische Stadt und der italienische Fußball. Denn in beiden wohnt das Wissen um die eigene Hässlichkeit, das sie nach außen so trotzig macht. Normalerweise gibt es in der Stadt den spektakulären Fußball von Manchester United, doch auf gewisse Weise passt der nicht dorthin, in seiner Schönheit wirkt er wie ein Gegenentwurf, er verhöhnt die Stadt. In Italien ist es gerade umgekehrt, in herrlichen Städten und schönen Stadien wird von blendend frisierten Männern bei tollstem Wetter so sehr gemauert und so wenig Fußball gespielt, dass das Gekicke wie eine Mahnung anmutet: So herrlich habt ihr es hier, bedenket, dass es das Hässliche gibt. Denn auch im Hässlichen wohnt ein Zauber. Man denke an den stillen Genuss eines perfekt gespielten 0:0, keine Torchancen, nur diese Ruhe. Man denke an graue Fassaden im Regen, keine Menschen, alles Beton. Manchester und der italienische Fußball: zwei Liebende, die sich nun dank der Macht des Zufalls und der Uefa gefunden haben.“
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Blamagen für Hamburg und Berlin – „Trainerdämmerung“
of Hertha BSC Berlin, der Hamburger SV und der 1. FC Kaiserslautern, gestern noch Klubs mit Ziel und Anspruch, scheiden in der ersten Runde des Uefa-Cups gegen osteuropäische „Dorfvereine“ (FAZ) aus; die Tageszeitungen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Die FAZ sorgt sich um die Qualität des deutschen Vereinsfußballs: „die Zeichen für den zu lange im Freizeitpark Deutschland gespielten Profifußball weisen nach unten.“
DieSZ hänselt die Hamburger: „die größte Hamburger Blamage seit Ronald Schills Versuch einer Rede vor dem Bundestag“ und tadelt Berliner Großmannssucht: „Ziel war die Champions League, richtig abgehen sollte es demnächst, wenn das Olympiastadion fertig umgebaut ist: 76 000 Zuschauer passen dann rein, 5000 lukrative Business-Seats und 99 Vip-Logen können vermietet werden, und der Klub setzte die Vermarktungserlöse im Stadion ab 2004/05 frohgemut mit zwölf Millionen Euro pro Saison an. Das nennt man dicke Backen machen und ist eine geläufige Übung unter den Hauptstädtern. Wenn nun ganz gegen den Plan weder ManU kommt noch Real, wird aus der kühnen Hochrechnung die nächste Berliner Luftbuchung.“ Die Berliner Zeitung hat das Saisonmagazin Wir Herthaner, keine drei Monate alt, aus dem Regal geholt und liest genüsslich Sprüche daraus vor: „‚Diese Saison wird etwas Schönes passieren’ (Pal Dardai, stellvertretender Kapitän), ‚Die Champions League ist das große Ziel’ (Josip Simunic), ‚Es ist schön, wieder zu Hause zu sein’ (Niko Kovac, Führungs- und Ersatzspieler, von München nach Berlin zurückgekehrt).“ Die FR ergänzt: „Wer vor der Serie offen die Champions League als Ziel deklariert, von möglichst vier Runden Uefa-Cup (Hoeneß) redet und zusätzlich insgeheim endlich den DFB-Pokal gewinnen will, hat kaum noch Argumente.“
Die Trainer Kurt Jara (HSV) und Huub Stevens (Hertha BSC Berlin) haben ein schweres Leben – „Trainerdämmerung“, malt die Financial Times Deutschland in der Überschrift, und der eifrigeTagesspiegel stellt Kandidaten für Stevens´ Nachfolge vor: Klaus Toppmöller, „der inoffizielle erste Anwärter“, Christian Gross aus Basel, Guss Hiddink, „genau der Trainer, der den Ansprüchen Herthas gerecht würde“, Amateurtrainer Andreas Thom, „Retter aus den eigenen Reihen“ und noch viele andere. Werner Lorant schließt die Redaktion des Tagesspiegels aus.
Dem Ansehen der Bundesliga erheblichen Schaden zugefügt
Roland Zorn (FAZ 17.10.) blickt auf den deutschen Fußball und legt die Stirn in Falten: „Zum dritten Mal in dieser immer noch recht jungen Saison müssen deutsche Fußballfans beim Blick auf die europäischen Lockerungsübungen renommierter Bundesliga-Mannschaften ganz tapfer sein. Werder Bremen mag beim Ausscheiden aus dem UI-Cup-Wettbewerb, während der 0:4-Niederlage bei der Landpartie in Pasching, noch im Sommerloch gesteckt haben; Borussia Dortmund, am FC Brügge in der Qualifikation zur Champions League gescheitert, bekommt die empfindliche Strafe jetzt in der UEFA-Pokalkonkurrenz sogar im Erfolgsfall zu spüren. Entscheidende Siege wie am Mittwoch über einen Gegner wie Austria Wien sind beileibe nicht soviel wert wie ein Punktspielgewinn ohne Weiterkommgarantie in einem Vorrundenduell der Meisterklasse; der HSV und die Hertha haben sich selbst und dem Ansehen der in Europa noch immer zur erweiterten Spitze gezählten Bundesliga einen erheblichen Schaden zugefügt. Nur wenige Tage nachdem sich die Nationalmannschaft der Männer mit einem auf den letzten Metern zumindest leidenschaftlich erspielten und hingebungsvoll erkämpften 3:0 über Island für die Europameisterschaft 2004 qualifiziert hat und die deutschen Fußballfrauen mit Glanz und Gloria Weltmeister geworden sind, gerieten die ersten Auslandsreisen der über zwei Wochen in Ruhe gelassenen Bundesliga-Klubs zu Schockerlebnissen: Verloren und schreckhaft, als wären sie ohne Paß und Koffer in Grodzisk und Dnjepropetrowsk angekommen, wirkten die daheim umsorgten und mit Millionen für ihr kurzes Tagwerk entschädigten Berufsspieler ohne Berufsethos.“
Yes, I’m on my way
Javier Cacéres (SZ 17.10.) fasst die Reaktionen auf die Berliner Blamage zusammen: „Soll man den Verantwortlichen des ruhmreichen Klubs Sportowy Groclin Dyskobolia aus der polnischen 15 000-Einwohner-Stadt Grodzisk-Wielkopolski, nahe Posen gelegen, einen Hang zum Zynismus unterstellen, zur Ironie, zur Häme? Als Huub Stevens, der Trainer des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC Berlin, am Mittwochabend aus dem Kabinentrakt des Dyskobolia-Stadions heraustrat (einer architektonisch interessanten, in jedem Fall originellen Bühne: halb Wimbledon, halb Western-Ranch), dudelten sie die Cover-Version einer alten Lionel-Richie-Schnulze. „Yes, I’m on my way.“ Vor wenigen Wochen hatte Stevens gesagt: „Ich gehe meinen Weg weiter.“ (…) Rund 250 Fans lauerten den Spielern gestern am Trainingsplatz auf und hängten Plakate über die Werbebanden, „Versager!!!“ stand auf einem, „Eure Leistung purer Hohn, euer Charakter eine Schande“ auf einem anderen, „Seid ihr es wert, unser Trikot zu tragen?“, auf einem dritten. Keines gegen Stevens. Dafür senkte gestern der Berliner Boulevard endgültig den Daumen, warf Stevens eine „Hose-voll-Taktik“ (Bild) vor, weil er zu defensiv aufstellte, und befand abschließend: „Stevens muss weg.“ Die BZ fragte sich, ob Stevens von sich aus den Bettel hinschmeißt („ich will kämpfen, auch für die Spieler“, entgegnete gestern Stevens) und wollte überdies vertraulich erfahren haben, dass mindestens ein Trainer, Klaus Toppmöller, von Hertha bereits kontaktiert wurde. „Das ist hochinteressant“, sagte Hoeneß voll bitterer Ironie und vermutete dahinter die übliche Masche, „mich zu einem Zitat zu bewegen, der Klassiker“. Sogar der eher maßvolle Tagesspiegel überschrieb seinen Bericht aus der polnischen Provinz mit einer Zeile, die Raum für Interpretationen bot: „Die Null fliegt raus.“ Und die Berliner Morgenpost stellte fest, dass mancher Hertha-Sympathisant eine Niederlage gegen Leverkusen (Samstag im Olympiastadion) erfleht: „Damit sich vielleicht endlich etwas ändert.“ Hertha-Präsident Bernd Schiphorst fand, dass ein Sieg besser wäre und sagte: „Wir führen keine Diskussion über den Trainer, aber wir prüfen kontinuierlich, ob wir richtig aufgestellt sind“. Zusammengefasst: Ja, es brennt in Berlin.“
Ralf Wiegand (SZ 17.10.) befasst sich mit Hamburger Wut und Kummer: „Kurt Jara war ja schon vor der Abreise in die Ukraine auf das Schlimmste gefasst gewesen. Stundenlange schikanöse Grenz-Formalitäten prophezeite der Trainer des Hamburger SV seinen Spielern, gezielten Lärmterror vor dem Hotel der Hanseaten hielt er für wahrscheinlich, um deren Nachtruhe zu stören, kurz: „Das wird die Hölle.“ Nun durfte Jara zwar erfahren, dass Glasnost sogar bis in die mittlere Ukraine gewirkt hat, die Zollformalitäten in Minuten abgewickelt waren und vor dem Grand Hotel bloß eine Handvoll Autogrammsammler die Stars aus dem Westen empfingen – schnurstracks in die Hölle geriet der HSV trotzdem. Und er wird dort wohl auch noch eine ganze Weile auf kleiner Flamme geschmort werden, woran weder finstere Grenzer noch randalierende Klassenfeinde schuld tragen, sondern ganz allein „Jaras Angsthasen“ (Morgenpost). Denn die verloren 0:3 bei den Zungenbrechern von Dnjepr Dnjepropetrowsk und rührten dadurch die wohl explosivste Mischung im Profifußball überhaupt an: Sowohl das Geld des Vereins als auch die Geduld der Fans gehen auf bedrohliche Weise gleichzeitig zur Neige. Nach dem Gewinn des Liga-Pokals im heißen Sommer sogar als Anwärter auf den Ehrentitel „Bayern-Jäger“ in die Bundesliga gestartet, müssen die HSV-Bosse nun über sich lesen: „Der HSV blamiert Deutschland“ (Morgenpost). Jara fügte sich der Depression und sprach geknickt von der größten Enttäuschung seiner Karriere. Die Befindlichkeiten des schwer in die Kritik geratenen Österreichers sind allerdings nur das eine. Das andere ist die finanzielle Schieflage des ambitionierten Klubs, der sich schon vergangene Saison ein Rekorddefizit von rund 14,5 Millionen Euro geleistet hatte und nun weitere Einnahme-Ausfälle verzeichnen muss, die fatalerweise fest im Budget vorgesehen waren. Geblendet offenbar vom Erfolg der Sommerpause plante der Kassenwart frohgemut gleich die Erträge aus drei Runden Europapokal ein. Seriöses hanseatisches Kaufmannsgebaren sieht jedenfalls ganz anders aus.“
Ulrich Hesse-Lichtenberger (taz17.10.) ist im Westfalenstadion fast eingeschlafen: „Man kann über die Champions League geteilter Meinung sein und durchaus auf dem Standpunkt stehen, dass deren Betonung von Glamour, Geld und Gruppenspielen dem Europapokal seinen ursprünglichen Charakter genommen hat. Eines aber muss man ihr zugute halten: Sie verhindert Spiele wie das am Mittwochabend zwischen Borussia Dortmund und Austria Wien. An einem Tag, an dem bereits zwei Bundesligisten auf mehr oder minder verdrießliche Weise gleich in der ersten Runde des Uefa-Cups gescheitert waren, trösteten sich Zuschauer wie Medienvertreter im Westfalenstadion ausschließlich damit, dass der 1:0-Sieg des BVB wenigstens einen deutschen Klub ohne großes Nervenflattern im Wettbewerb gehalten hatte. Das Spiel selbst bot hingegen keinerlei Anlass zu irgendeiner Gemütsregung. Die weit gereisten Wiener Fans entschlossen sich gar im Verlaufe der erlebnisarmen ersten Halbzeit, recht unvermittelt ihre Geografiekenntnisse anzubringen, indem sie das Heimpublikum als Ruhrpott-Kanaken beschimpften, woraufhin die Südtribüne mit einem ebenso deplatzierten Tod und Hass dem S 04 antwortete.“
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Wundermann mit Geheimwissenschaft
Roland Zorn (FAZ 25.6.) über Guus Hiddink. „Die anfangs zahlreichen Kritiker, die argwöhnisch den europäischen Fremdling in ihm sahen, sind längst glühende Bewunderer geworden. Musste erst Hiddink kommen, um den Koreanern beizubringen, dass ihnen mehr Selbstvertrauen, ein nicht gar so hierarchiegläubiges Denken, mehr Selbständigkeit und eine neue Entscheidungssicherheit nicht schadeten? Früher hätten sie, ob gewonnen oder verloren, immer mit demselben gleichmütigen Gesichtsausdruck in der Kabine gesessen. Welch ein Unterschied zu heute, da die Koreaner den alten Mächten des Fußballs nicht mehr mit der Demut von gestern begegnen.“
Über hohe Wertschätzung der südkoreanischen Öffentlichkeit darf sich Nationaltrainer Guus Hiddink freuen. Christoph Biermann (SZ 12.6.) dazu. „Die Hiddink-Mania hat alle Bereiche des öffentlichen Lebens erreicht. Als der Coach in der vergangenen Woche zu einer Spielbeobachtung reiste, liefen am Flughafen die Menschen zusammen, um den Wundermann hinter dem Erfolg des koreanischen Teams zu berühren (…) Die Bewunderung für den holländischen Trainer hat damit zu tun, dass es in Korea kaum hochqualifizierte Trainer gibt, und die Öffentlichkeit hinter den Methoden des Trainers eine Geheimwissenschaft vermutet. Wissenschaftliche Trainingsarbeit gilt als so revolutionär wie bemannte Expeditionen zum Mars. Allerdings wecken die Prinzipien von Hiddinks Arbeit auch deshalb so viel Interesse, weil sie im Gegensatz zu den in der koreanischen Gesellschaft üblichen stehen. Besonders dasPrinzip der „Seniorität“, wie Hiddink es selbst nennt, hat er in den letzten anderthalb Jahren immer wieder bekämpft. Erfahrungen und Verdienste werden nämlich in Politik und Wirtschaft häufig über Leistungsfähigkeit gestellt (…) Um die Möglichkeiten seiner Mannschaft voll auszuschöpfen, hat er die Altershierarchie zerbrochen. Vorher saßen alte und junge Spieler nicht gemeinsam am Tisch und schauten einander nicht einmal an.“
Ralf Itzel (FR 4.6.). „Guus Hiddink würden Koreas Frauen sofort vor den Altar zerren. Eine Abstimmung unter Teilnehmerinnen der Miss-Korea-Wahl weist den Trainer der Fußball-Nationalmannschaft als bevorzugten Ehemann aus. Auch andere Rollen werden ihm angetragen. Wir sollten die Verfassung überarbeiten, damit naturalisierte Koreaner Präsident werden können, forderte ein Radiomoderator, und Hiddink sollte den Pass als Erster beantragen. Wie die Stimmung umschlagen kann. Vor ein paar Monaten diente der Niederländer noch als Prügelknabe.“
Martin Hägele (taz 24.5.) beschreibt sportliche Entwicklungshilfe in Asien. „Für Dr. Mong Joon Chung, Absolvent einer amerikanischen Elite-Uni, war Fußball nicht nur Hobby, sondern auch Vehikel einer Karriere, die ihn einmal zum ersten Präsidenten des wiedervereinigten Koreas machen soll. Diesen Traum hatte schon sein Vater geträumt und in diesem Zusammenhang die Olympischen Spiele 1988 nach Seoul geholt. Um die Gunst der Funktionäre zu gewinnen, hatte Chung Senior damals ein halbes Bordell zum Kongress nach Baden-Baden einfliegen lassen, die Vorfreude der älteren Herrschaften auf noch mehr Massagen und erotische Nächte im Tigerstaat offenbarte sich dann beim deutlichen Sieg des Außenseiters über Favorit Nagoya. Der junge Chung zeigt auf diesem Gebiet noch weniger Skrupel als sein alter Herr. Journalisten, die den Aufstieg des jungen koreanischen Fußballchefs zum Fifa-Vizepräsidenten Asiens wohlwollend begleiteten, erfreuten sich nicht nur fernöstlicher Büffets und Banketts, die Tischdamen leisteten üblicherweise auch im Bett Gesellschaft.“
Mit den Methoden ihres holländischen Nationaltrainers Guus Hiddink zeigen sich Südkoreas Kulturkritiker überfordert, erfahren wir von Martin Hägele (NZZ 18.5.): „Der Fremde habe Koreas Fußball verraten, seine Tradition und Kultur, monieren die Kritiker. Sie stoßen sich beispielsweise daran, dass Hiddink eine neue Tischordnung einführte und damit die Distanz zwischen jungen und alten Spielern reduzierte, die aus der in Asien sehr wichtigen Verehrung der älteren Generation gewachsen ist. Diese von konfuzianischem Einfluss stark bestimmte Denkweise fördert indessen den Fußballnachwuchs ebenso wenig wie das Schulsystem, das im bildungshungrigen Land ungemein hohe Ziele vorgibt.“
Martin Hägele (SZ 16.05.02) beschreibt das Verhältnis zwischen dem politisch ambitionierten südkoreanischen Fußball-Präsidenten Chung und dem ehemaligen Nationaltrainer Cha (ehemals Profi bei Eintracht Frankfurt und Bayer Leverkusen): „Wer auf diesem Kontinent herrschen will, darf nicht verlieren. Weshalb auch die Freundschaft zwischen dem ehrgeizigen Sportführer und Fußballstar Cha endete. Chung hatte geglaubt, der junge Cha, den er zum Nationaltrainer gemacht hatte, könnte seiner Nation 1998 endlich den ersten Sieg bei einer WM abliefern; einen Erfolg, auf den Südkorea seit 1954 und schon fünf Turniere lang wartet. Doch das 1:3 gegen Mexiko und das 0:5 gegen Holland war für Chung und sein Gefolge eine olche Schmach, dass sie ihren berühmtesten Fußballer nach dem zweiten Gruppen-Spiel in Frankreich feuerten. Als Cha auch noch einen Korruptionsskandal aus dem Jugendfußball aufdeckte, wurde er endgültig zur persona non grata. Man entzog ihm die Arbeitserlaubnis als Trainer (…) Von dem Mann, der einst in der Bundesliga Nächstenliebe predigte und selbst denen verzieh, die dem fixen Stürmer die Knochen polierten, ist bislang kein bitterer Kommentar über seine Exil zu hören gewesen. Cha würde auch niemals Kritik an seinem Nachfolger äußern. Diesen Posten hat in Guus Hiddink ausgerechnet jener Trainer bekommen, der mit der niederländischen Elf für Chas Rauswurf verantwortlich war. Hiddink hatte Chung damals imponiert, später bereitete er dem Coach offenbar ein Angebot, das man nicht ablehnen kann.“
Portugal
Thomas Klemm (FAS 2.6.) über den spirtus rector der Portugiesen. „Figo ist nicht nur jener geniale Vorbereiter und Freistoßschütze, als den ihn die Fußballwelt seit seinem eindrucksvollen EM-Auftritt vor zwei Jahren feiert. In gleichem Maße stellt er sich unermüdlich in den Dienst der Mannschaft, ist für Europas Fußballer des Jahres 2000 doch die Anerkennung seiner Mitspieler „die größte Auszeichnung überhaupt“. Daher leistet er auch jene Arbeit, vor der sich andere Ballkünstler gerne drücken, grätscht am eigenen Strafraum Bälle ab, mitunter auch Gegner – Platzverweise nicht ausgeschlossen.“
USA
Am 24.6. hatte der konservative Pulitzer-Preistraeger William Safire in seiner Kolumne in der New York Times die Vorteile des US-Ausscheidens kulturell, politisch und diplomatisch begründet. Umberto Eco habe 1978 festgestellt, internationale Sportveranstaltungen bildeten ein massenpsychologisches Gegengewicht zu Krieg und Terrorismus. Ein Fußball-Sieg der Weltmacht USA hätte dem Rest der Welt die letzten Reste an Selbstbewusstsein auch noch ausgetrieben. Die Lokomotive des Weltmarkts und „Hyperpoer“ USA müsse ja nicht jeden Wettbewerb für sich entscheiden, so dass aus dem „kicking game“ ruhig die brüllenden Massen einer andere Nation ihren „kick“ bekommen solle.
Gay Kamiya (salon.com 22.6.) notiert dazu: „Fans in Buenos Aires und Paris und Berlin und Sao Paulo, die schon unter der Sisyphus-Last von Britney-CDs und den Pax-Americana-Erklaerungen von (US-Verteidigungsminister) Rumsfeld zu leiden haben, finden die Vorstellung unerträglich, dass der Big Bully USA ausgerechnet in einem Sport triumphiert, für den er sich nicht die Bohne interessiert. Die Aussicht auf den ungebremsten Hass von 2 Billionen nationalistischen, Testosteron spuckenden Männern auf die USA? Dagegen ist Osama bin Laden ein netter pensionierter Sonntagsschullehrer.“ Er malt sich weiter aus, was passierten wird, wenn die USA irgendwann doch die WM gewinnt. Wenn die USA bis dahin etwas gelernt hätte, dann dies: Mit dem Sieg nicht ihre gottgewollte Hegemonie über alle anderen Nationen dieser Welt zu zelebrieren, sondern ihre Normalität.
Ralf Wiegand (SZ 21.6.) portraitiert Bruce Arena, Trainer der USA. „Arena ist so amerikanisch wie nötig, um die Mentalität der Spieler zu begreifen. US-Teams funktionieren über Teamgeist, über Spaß, über Selbstbestimmung. „Er verlangt nichts, was wir nicht können, und er ist offen für unsere Meinungen“, sagt der Spieler Landon Donovan. Wenn Arena einen Spieler beschreibt, dann lobt er nicht nur seine Fähigkeiten auf dem Platz. Er sagt über den Torwart Friedel zum Beispiel auch: „Er hat einen guten Humor.“ Arena ist dabei so europäisch wie möglich, damit Fußball als ernsthafte Sache betrieben werden kann. Die Amerikaner brillieren bei dieser WM nicht mit Zauberfußball, sondern mit einer zweckdienlichen Spielweise, die sich streng am Gegner orientiert. „Fußball ist ein Geschäft des Ergebnisses, nicht der Unterhaltung fürs Publikum“, sagt Bruce Arena streng.“
Über Soccer schreibt Wolfgang Koydl (SZ 20.6.). „Was der World Cup 1994 in den USA nicht geschafft hat, bewirkt nun auf wundersame Weise die Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea: Amerika entdeckt einen Sport, der bisher meist verspottet wurde. „Warum schafft ihr denn nicht endlich den Torwart ab, damit mehr Tore fallen“, fragte unlängst stellvertretend für viele der Polit-Kolumnist Bob Novak. „Gibt es eigentlich einen Grund, weshalb die ihre Hände nicht benutzen“, wunderte sich der Tankwart und Baseballfan Don Jackson und fügte vernichtend hinzu: „Soccer, das ist Fußhockey ohne Schläger.“ Sogar das Wort Soccer war eine bizarre Neuschöpfung des späten 19. Jahrhunderts: Aus dem Begriff Association Football wurden einfach die drei Buchstaben S, O und C herausoperiert und mit der Endung -CER garniert.“
Thomas Kilchenstein (FR 14.6.) über das Team USA. „Die amerikanische Fußball-Nationalmannschaft bezieht ihre Stärke nicht so sehr durch individuelle Fähigkeiten, sie sind stark im Kollektiv. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Diese Mannschaft besitzt eine bemerkenswerte Physis, eine Stärke, mit der sie in den ersten 30 Minuten die Portugiesen förmlich über den Haufen rannten (…) Spielerisch ist die Elf sicherlich entwicklungsfähig.“
Steven Geyer (Die Zeit 13.6.) weiß, warum sich die Amerikaner selbst während der Weltmeisterschaft nicht sonderlich für Fußball erwärmen. „Dieses Spiel passt irgendwie nicht ihnen: Zu viele Kopfbälle, zu wenig Körpereinsatz und kaum Chancen, als Sieger vom Platz zu gehen. (…) Fußball gilt in Amerika als Intellektuellen-Sport. Zuviel mitdenken, zu wenig draufhauen – keine Chance gegen American Football oder Schwergewichts-Boxen. Außerdem fallen so gut wie keine Tore (wie dem Gras beim Wachsen zuzusehen sei das, schreibt ein Sportkolumnist). Ja, okay, Fußball ist der populärste Sport der Welt. (…) Und Reis ist das populärste Essen der Welt – na und? Vermutlich könne sich der Rest der Welt bloß keine anständige Football- oder Baseball-Liga leisten. (…) Der Fußball hingegen ist bekanntlich rund wie die Welt – also irgendwie suspekt. Die Aussage, Fußball sei der einzige Sport, in dem alle Nationen konkurrieren können, ist ein amerikanisches Abwinken, das an das Verhalten gegenüber der UNO erinnert: Wir spielen lieber unser eigenes Spiel, ehe wir nur eine Mannschaft unter vielen sind.“
Zu den überraschenden Reaktionen der US-amerikanischen Medien nach dem 3:2-Sieg gegen Portugal bemerkt Jürgen Kalwa (FAZ 7.6.). „Die amerikanischen Fußballer haben sich mit ihrem Sieg über Portugal eine Aufmerksamkeit erspielt, die weit über das übliche Maß hinausgeht. Die Mannschaft von Bruce Arena, die nach dem schlechten Abschneiden vor vier Jahren in Frankreich ohne nennenswerte öffentliche Anteilnahme zur Weltmeisterschaft nach Südkorea gereist war, produzierte am Mittwoch Nationalstolz pur, der zu Hause sogleich in großen Schlagzeilen verarbeitet wurde. Auch die Vokabeln klangen groß. Die New York Times, die führende Tageszeitung der Vereinigten Staaten, lobte die Fußball-Delegation des Landes nach nur neunzig Minuten bereits zum „schlafenden Giganten“ hoch, der für „Aufruhr in der Fußball-Welt“ sorge. Die New York Post sah in dem Resultat einen der größten Außenseiter-Erfolge in der WM-Geschichte. Die Daily News in Los Angeles schwärmte: „Es war unvergesslich.“ Die ansonsten eher sachliche Washington Post schrieb gar von einem Schocker und wunderte sich: „Wer sind diese Jungs?““
Über das Team USA berichter Ralf Wiegand (SZ 4.6.). „Ohne den enormen Sicherheitsaufwand gäbe es allerdings kaum etwas zu berichten über das US-Team, das mit größeren Hoffnungen als Chancen nach Seoul gereist ist, wo es am Mittwoch auf Portugal trifft. Die Zeiten, da die ganze Welt gespannt darauf wartete, dass der Riese Amerika endlich das Fußballspielen lernen und dann die Welt das Fürchten lehren würde, sind vorbei. Trotz großen Aufwands wie der Ausrichtung der WM 1994 oder der Installation der Profiliga MLS Major League Soccer) stagniert das Niveau der Auswahl.“
Über die historischen Ursachen mangelnder Bedeutung des Fußballsports in den Vereinigten Staaten bemerkt Erik Eggers (FR 28.5.).“Fußball in den USA haftet immer noch etwas Exotisches an, auch wenn dort bereits anno 1894 eine professionelle Fußball-Liga etabliert werden sollte. Im nordöstlichen Teil der Vereinigten Staaten glaubten findige Sportmanager, die mit Baseball enorme Summen umsetzten, fest an ein glänzendes Geschäft mit dem so genannten Soccer. Aber obwohl Spitzenspieler aus England verpflichtet wurden, kamen kaum Zuschauer, und so starb denn dieser frühe Importversuch einen schnellen Tod. Warum die Verpflanzung des Lieblingssports der Insulaner fehlschlug? Auch weil seinerzeit in den Vereinigten Staaten die Abneigung gegen alles Britische kulminierte – und neben Kricket verkörperte vor allem Fußball die verhasste britische Kultur.“
Amerikanische Fußballexperten und -freunde sind rar. Der Soziologe Andrei S. Markovits ist beides. Letzte Woche hat er in Berlin sein Buch „Offside. Soccer American Exceptionalism“ vorgestellt (im Herbst auch auf deutsch). Arno Orzessek (SZ 18.5.) war dabei: „Warum haben die Amerikaner ausgerechnet die Weltsportart Nummer Eins links liegen lassen, obwohl sie sonst alles in petto haben, was Pop ist und globale Vermarktung verspricht? (…) Jede Öffentlichkeit oder jeder Kulturraum hat nur ein begrenztes Aufnahmevermögen für Sport, und die Amerikaner haben laut Markovits ihren Raum in der entscheidenden Zeit, nämlich während der Industrialisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, an die „großen dreieinhalb Sportarten“ verteilt und diese wiederum den Jahreszeiten zugeordnet: Baseball (Frühling und Sommer), Football (Herbst) und Basketball (Winter), dazu als halber Riese Eishockey (Winter). Football war vom Rugby und vom englischen Fußball geprägt, bildete aber bald eigenes Profil aus. Für Soccer war einfach kein Platz mehr.“
Ausgerechnet die Frauen-Nationalmannschaft hat in den USA eine exponierte Stellung. Ob diese in der Lage dazu ist, Soccer eine breite Öffentlichkeit zu verschaffen, fragte bei dieser Gelegenheit Robert Ide (Tsp 18.5.). „Markovits winkt ab. Frauen könnten zwar die sportliche Kultur beeinflussen (die Kür der Eiskunstläuferinnen war in Amerika der olympische Quotenrenner), doch sie werden wohl niemals willens sein, so viel Zeit in Sport und Statistik und Drama zu investieren wie Männer. Erst wenn die US-Männer in ein wichtiges Halbfinale einziehen oder in einem Endspiel heroisch scheitern, werden sie aus dem Abseits herauskommen.“
Rod Ackermann (NZZ 14.5.) über die Aussichten des Teams und die öffentliche Resonanz in Übersee. „Obwohl zum vierten Mal nacheinander ine Vertretung der Vereinigten Staaten an einer WM-Endrunde teilnimmt (eine Leistung, die nur neun anderen Ländern gelang), interessiert das in Nordamerika auch heuer allein die üblichen Verdächtigen. Jene unverbesserlichen Optimisten also, die im Vierjahresturnus den Durchbruch des Fußballs im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten erhoffen (…) Das Argument, wonach Soccer in den USA auf immer und ewig der Sport der Zukunft bleiben werde oder allenfalls etwas für Frauen sei, wird allemal weggewischt (…) Inzwischen befürchten die wenigen Sachverständigen unter den Fans, dass angesichts der WM-Gegner in der Gruppe D (Portugal, Polen und Co-Gastgeber Südkorea) das US-Team nach drei Matches wieder die Heimreise antreten müsse. Mit abgesägten Hosen wie 1998, aber zweifellos nicht verlegen um den Hinweis auf bevorstehende, bessere Zeiten.“
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Ballschrank
Mit dem Team Ruanda beschäftigen sich die Journalisten aller Welt – Kamerun und Winfried Schäfer: ein Erfolgsgespann (taz) u.a.
Oke Göttlich (taz 26.1.) befasst sich mit dem Team Ruandas: „Als das heliumgefüllte Schiff mit der Aufschrift Lets Go Africa abhob, war der Übergang zwischen der Eröffnungszeremonie des 24. Afrika-Cups und dem ersten Spiel des Turniers geschaffen. Gastgeber Tunesien traf mit Ruanda auf einen Gegner, der die hoffnungsbeladene Botschaft, die langsam im tunesischen Abendhimmel verschwand, bereits am 6. Juli des vergangenen Jahres empfangen hatte. Da sicherte sich Ruanda als kleinstes Land seit Mauritius vor 30 Jahren die Teilnahme mit einem 1:0-Erfolg gegen die große afrikanische Fußballnation Ghana. 9 Jahre, nachdem 1994 die damalige Hutu-Regierung innerhalb von 100 Tagen 800.000 Tutsi ermorden ließ, feierten erstmals Hutu und Tutsi gemeinsam ein Freudenfest. Ein Erfolg, der das Renommee des Präsidenten und ersten Fußballförderers Ruandas, Paul Kagame, steigerte und dazu beitrug, dass dieser, einen Monat nach dem entscheidenden Tor von Jimmy Gatete, die ersten freien Präsidentschaftswahlen des Landes seit dem Genozid mit großer Mehrheit gewinnen konnte. Die Regierung unterstützt das Team finanziell, um Reisen und Vorbereitungsturniere zu ermöglichen. Nun reise ich durch Afrika und werde auf unseren Fußball angesprochen und nicht mehr nur auf die politischen Probleme Ruandas, erklärte Kagame dem englischen Fußballmagazin FourFourTwo.“
Daniel Theweleit (SZ 26.1.) fügt hinzu: „Ruanda hat sich zum ersten Mal überhaupt für ein großes Turnier qualifiziert. In dem Staat tobte noch vor zehn Jahren ein blutiger Bürgerkrieg. Die damalige Hutu-Regierung ließ in nur hundert Tagen 800 000 Tutsi, die kleinere Volksgruppe des Landes, ermorden, und dazu noch 200 000 Hutu, die sich weigerten, bei dem Morden mitzumachen. Nun spielen Tutsi und Hutu gemeinsam Fußball. Die Teilnahme an Afrikas größtem Sportereignis ist eine Sensation für das kleinste Land, das sich seit 30 Jahren qualifiziert hat. Man hat plötzlich Zutritt zu einer Welt, die einst weit entfernt erschien. Nur ein paar Meter neben Kamanzi, der hauptberuflich beim Hauptsponsor der SG Betzdorf arbeitet, einem Versandhandel für Büroartikel, stand Tunesiens Star Hatem Trabelsi von Ajax Amsterdam. Er erzählte einer Traube gebannt lauschender Reporter von millionenschweren Vorverträgen mit Chelsea und Arsenal London. Eine gewaltige Kluft. Den Ruandis geht es um andere Dinge. Eine vielleicht noch gewaltigere Kluft als jene zwischen Champions League und Verbandsliga soll geschlossen werden. Der Star der Mannschaft, Olivier Karekezi, sagte einmal, „das ist ein Team von Tätern und Opfern“. Aber davon will Kamanzi nichts mehr wissen. „Der Bürgerkrieg ist vorbei, das ist Geschichte, und im Sport gibt es so was sowieso nicht“, sagt der 29-Jährige. Und auf die Frage, ob er Tutsi oder Hutu sei, antwortete er mit festem Blick: „Ich bin Ruandi. Wichtig ist, dass alle Leute wie ein Volk empfinden.“ Es ist ein kleines Wunder, dass dieses Land, in dem es angeblich nur einen einzigen brauchbaren Rasenplatz gibt, in der ersten Partie des Turniers durchaus mit Gastgeber Tunesiern mithalten konnte.“
Bei ihm dürfen sie wild sein und gefährlich und unzähmbar
Frank Ketterer (taz 24.1.) besucht die Mannschaft Kameruns und ihren deutschen Trainer Winfried Schäfer im Trainingslager: „Fußball muss Spaß machen, sagt Mohammadou Idrissou, ein langer, schlaksiger Kerl, der sein Geld bei Hannover 96 in der Bundesliga verdient, und grinst übers ganze Gesicht. Das ist ein ziemlich einfacher Satz, wahrscheinlich war er sogar einmal wahr. Aber wo ist das heute noch so in einem Metier, in dem es zuallererst um Geld geht, um viel Geld, und natürlich ums Gewinnen, egal wie? Oder, anders gefragt: Wo singen die Spieler noch auf der Fahrt zu Training oder Spiel? In welcher Mannschaft scherzen und lachen sie, während sie ihre mühsam antrainierten Muskeln dehnen? Und wo tanzen sie anschließend, nach all dem Training, noch ausgelassen und natürlich wieder lachend durch die Hotellobby und schwenken dazu ihre Hüften so lasziv und elegant, dass sich all die feinen Damen dort nach ihnen umdrehen? In Kameruns Nationalmannschaft ist all das der Fall. Wenn sich die Kicker für ein paar Tage zur Vorbereitung treffen, so wie jetzt im vornehmen Hotel Quinta in Marbella, gerät ihnen das Trainingslager immer auch zu einer Art Familientreff. Wir sind nicht nur eine Mannschaft, wir sind Freunde, sagt Mohammadou Idrissou. Die meisten kennen sich von Kindesbeinen an und haben schon in der Heimat zusammen Fußball gespielt, bevor sie ausgeströmt sind in die Ligen der Welt, um dort jenes Geld zu verdienen, das es in Kamerun nicht zu verdienen gibt. Wenn sie nun wieder zusammenkommen, um sich für den Afrika-Cup zu präparieren haben sie viel zu erzählen. Und dabei sprechen sie ihre Sprache, singen ihre Lieder, tanzen ihre Tänze – und spielen ihren Fußball (…) Warum aber klappt es so gut zwischen dem deutschen Trainer, dessen Dienste zu Hause nicht mehr gefragt waren, und diesen wilden Löwen? Warum darf er bei der WM ausscheiden – und doch ihr Trainer bleiben? Er macht eine gute Arbeit und die Ergebnisse sind gut. Also ist er ein guter Trainer – und der richtige für uns, sagt Rigobert Song. Außerdem, so der Kapitän, lasse er den Spielern im Einzelnen sowie der Mannschaft im Allgemeinen ihre Freiheit. Wie die aussieht, kann man im Training sehen: Schäfer lässt die Löwen vor allem eines: spielen. Den Rest machen sie mehr oder weniger unter sich aus: Joue, joue, joue – spiel, spiel, spiel –, raunzt Kapitän Song dann den Kollegen an, wenn der ihm den Ball zu langsam durch die Reihen laufen lässt; foult ein Löwe den anderen, was selten vorkommt und höchstens aus Versehen, heult gleich das ganze Rudel auf – und der Bösewicht schleicht sich. Die Mannschaft, so der Eindruck, ist sich selbst ihr größtes Korrektiv, der Trainer greift nur selten ein, um via Dolmetscher seine Anweisungen zu geben. Lieber geht Schäfer, zu Hennes Weisweilers Zeiten Mittelfeldrenner in Gladbachs berühmter Fohlenelf, seinem eigenen Spieltrieb nach – und kickt einfach mit. Es ist unglaublich, dass ein europäischer Trainer eine afrikanische Mannschaft so trainiert, sagt Mohammadou Idrissou. Der Spiegel hat das schon nach Schäfers erstem Sieg beim Afrika-Cup so formuliert: Vielleicht macht er in Kamerun nicht besonders viel richtig, ziemlich sicher macht er jedoch ganz wenig falsch. Die Löwen wollen Spaß, Schäfer lässt sie gewähren, und vielleicht ist dies das größte Geheimnis seines Erfolgs mit Kamerun: Er will sie nicht bändigen und schon gar nicht domestizieren. Bei ihm dürfen sie wild sein und gefährlich und unzähmbar.“
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Die Woche im Rückblick
of Was ist in dieser Fußball-Woche auf dem grünen Rasen passiert? In der zweiten Runde des DFB-Pokals siegten oft die Außenseiter aus der Zweiten und Dritten Liga gegen Bundesliga-Teams. Vor zwei Jahren hätte die Presse den Profis aus Hannover, Frankfurt und München vorgeworfen, die Ehre des traditionsreichen Wettbewerbs nicht zu achten. Doch inzwischen messen auch die großen Klubs dem DFB-Pokal aus gutem Anlass mehr Bedeutung bei; die NZZ begründet: „Die Zeiten, in denen angesichts von Börsen- und Europacup-Millionen der Cupvernachlässigt worden war, sind vorbei.“ Die FAZ führt das Ausscheiden der Favoriten auf sportliche Angleichung zurück – und nicht auf deren leichte Schulter: „Nur 9 von 18 Teams erster Klasse sind im Achtelfinale noch dabei. Die Fünfzigprozentquote hat – anders als in der Vergangenheit – nichts mehr mit einer Geringschätzung der ungeliebten Pokalkonkurrenz zu tun. Von oben herab haben sich nur die Bayern erlaubt, ihren Gegner 1. FC Nürnberg lange ungestört gewähren zu lassen.“
Eigentlich muss man Hertha BSC Berlin auf die Schulter klopfen, da sie den Pokal besonders ernst nimmt. In Berlin freut man sich darüber, dass Trainer Huub Stevens sein „Ultimatum“ – nahezu alle Schreiber vergessen bei diesem aufgeblasenen Wort aus der Weltpolitik die Gänsefüßchen – erfüllt hat: zwei Siege, und sei es im Elfmeterschießen. Die Berliner Diplomaten um Manager Dieter Hoeneß lassen sich derzeit gut durch den Kakao schleppen und schleifen. Hoeneß hatte nach dem Sieg Stevens’ in Rostock Napoleon zitiert: „Ein General muss auch Fortune haben“; die FAZ legt Stevens seine Feldherrenhand auf die Brust: „General Stevens siegt im Geiste Napoleons.“
Was tut sich (sonst noch) zwischenmenschliches? Kölns Manager Andreas Rettig entlässt Trainer Friedhelm Funkel zu einem Zeitpunkt, der Fans und Reporter die Augen aufreißt: vor ein paar Wochen hatten sie Funkels Rauswurf gefordert; demnächst hätten sie diesen Wunsch wiederholt. Diese Atempause hat der kühle Rettig genutzt, seinen Ruf als freier Entscheider zu festigen. Jetzt halten ihm nur wenige vor, auf Verlangen der Fans und Drängen der Revolverblätter zu handeln. Die FTD traut sich ganz leise: „Die Entlassung einen von den Medien gesteuerten Volksentscheid zu nennen, wäre gewiss nicht ganz falsch“. Die NZZ hält gute Kopfnoten für angebracht: „Der 1.FC Köln hat ein Beispiel gegeben, wie sich auch in kritischen Fussballzeiten eine schwierige Personalentscheidung mit Anstand lösen lässt.“
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