Donnerstag, 25. März 2004
Ballschrank
19. Spieltag der Bundesliga
Dortmund: „Borussias Fans schließen Frieden auf Zeit“ (FAZ) –Bremen: „Signale der Unerschütterlichkeit“ (FAZ), „Meister-Mathematik“ (SZ) – Frankfurt: „die Auferstehung“ (FR), „Rache der vertriebenen Geister“ (SZ) – Schalke: „Regisseur gesucht, Assauers Transferoffensive genügt noch nicht“ (FAZ) – Kaiserslautern: „Hier kommt Kurt“ (taz) u.v.m.
Borussia Mönchengladbach – Werder Bremen 1:2
Christoph Biermann (SZ 9.2.): „Der gefühlsgesättigte Fußball und die kühle Mathematik gelten gemeinhin als kaum verknüpfbar, sieht man einmal davon ab, dass stets die Tore und Punkte zur Herstellung einer Tabelle addiert werden müssen. Es gibt jedoch eine Form von Fußballmathematik, die nach dem 2:1 den meisten Beobachtern sofort in den Sinn kam. Fast jeder am Bökelberg machte nämlich reflexhaft folgende Rechnung auf: Höchst mäßig spielen plus auf den besten Angreifer verzichten müssen (bzw. ihn grippekrank nur eine halbe Stunde lang spielen lassen können) plus 20 Minuten in Unterzahl spielen plus Spiel in der letzten Minute noch gewinnen ergibt: So wird man Meister. Der FC Bayern hat dem Publikum hierzulande diese Rechenweise über Jahrzehnte eingeprügelt. Und so gilt inzwischen eine Wahrnehmung, nach der nicht die beste Mannschaft Deutscher Meister wird, sondern jene, die auch ihre schlechten Spiele erfolgreich gestalten kann.“
Jörg Marwedel (SZ 9.2.): „Es ist nämlich so, dass die Indizien schon 15 Spieltage vor Saisonende derart erdrückend sind, dass die Fehlerquote dieser Prognose gegen Null tendiert. Schließlich bleiben selbst nach Abzug sämtlicher ewiger Fußballgesetze („Wer selbst so schwache Spiele wie in Gladbach gewinnt . . .“) genügend bedeutende Daten für diese Hochrechnung übrig. Die wichtigsten wurden soeben geliefert, denn sie handeln von derschwierigste Hürde der Bremer auf dem Weg zum Titel. Die ganze triste Winterpause über hat man ihnen einflüstern wollen, dass er sie wieder ereile, dieser Absturz in der Tabelle wie in den zwei Jahren zuvor. Eine schlimme Hypothek, die nur durch sofortige Siege abzutragen war. Es folgte ein 4:0 über Hertha BSC, der Einzug ins Halbfinale des DFB-Pokals und das 2:1 in Mönchengladbach. Die Bremer Profis haben ihre „Mind Card“, wie Psychologen die innere Programmierung nennen, umcodiert und alte Misserfolgserlebnisse aus den Köpfen getilgt. Und das kann den Lauf des Balles mehr beeinflussen als Wind, Wetter oder gar ein sperriger Gegner.“
Gerd Schneider (FAZ 9.2.): „Es gibt diese vibrierenden Momente, in denen Schicksale von Mannschaften aufscheinen und die deshalb in der Bilderflut des Bundesliga-Alltags überdauern. So wird man sich womöglich noch lange erinnern an diese eine Szene. Im Zentrum dieser Momentaufnahme steht Frank Baumann – ebenjener Baumann, dessen bloße Erwähnung bei eingefleischten Fans des 1. FC Nürnberg noch heute eine allergische Reaktion auslöst: Sie haben es ihm nicht vergessen, daß er im Mai 1999 am letzten Spieltag kurz vor dem Abpfiff von einem besonders schweren Anfall von Torschußpanik heimgesucht wurde und der Club absteigen mußte. Ähnlich wie damals fiel dem längst zur Führungskraft gereiften Würzburger nun der Ball im Torraum vor die Füße, wieder hatte er freie Bahn – nur machte er dieses Mal kurzen Prozeß. Könnte sein, daß sich Baumann damit abermals einen Platz im kollektiven Gedächtnis der Fans gesichert hat. Sein Tor war der krönende Abschluß einer aufregenden Fußballwoche, die in Bremen Träume weckt und die Konkurrenz einer Hoffnung beraubt hat (…) Überhaupt hat sich Werder in verblüffender Weise mit seinen eigenen Störgrößen arrangiert. Daß sich Ailton und Krstajic einem anderen Klub – dem FC Schalke 04 – verschrieben haben, minderte bislang die Qualität des Bremer Spiels genausowenig wie die Ansprüche, mit denen die Profis nun Kapital aus dem Aufschwung schlagen wollen. Hinter dem Fußball aus der schwarz-grünen Wundertüte steht eine Vereinspolitik der ruhigen Hand. Irgendwann zahlt es sich eben doch aus, wenn man auch in schlechteren Zeiten am Trainer festhält. Genauso gehört zu den Prinzipien des Bremer Stils, auch bei Hochkonjunktur die Maßstäbe nicht zu verlieren. Daß die Vereinsführung das Pokerspielchen des Ungarn Lisztes dieser Tage rasch beendete und ihm die kalte Schulter zeigte, auch das dürfen die Bremer in dieser Woche als Sieg verbuchen: ein Sieg der Vernunft.
Bayer Leverkusen – Eintracht Frankfurt 1:2
Ulrich Hartmann (SZ 9.2.): „Klaus Augenthaler stellt sich gerade eine hübsche Sammlung von Horrorvideos zusammen. Er muss sie immer wieder anschauen, beinahe manisch, als suche er darin eine innere Ruhe, die er aber nicht finden kann in diesen Tagen. Die Aufzeichnung des vor Wochenfrist verlorenen Spiels in Freiburg hat der Fußballtrainer von Bayer Leverkusen in der vergangenen Woche mehrfach analysiert, seinen Spielern hat er das Video aber nicht zeigen mögen, „dazu war es zu schlimm“, hat er gesagt, als habe er einen pädagogischen Auftrag. Sein neuestes Video ist wieder ein Schocker, einer von der ganz harten Sorte, in dem sich ein Freund plötzlich als Monster entpuppt, als habe er sich bei Vollmond in einen Werwolf verwandelt. Der Gruselfilm zeigt den Bayer-Angestellten Ingo Hertzsch im Torjubel, aber er trägt dabei das Trikot von Eintracht Frankfurt, und während die sonst so souveränen Leverkusener verstört über den Rasen torkeln wie über den Friedhof der toten Hoffnungen, gewinnen die Frankfurter und zelebrieren den Auswärtssieg wie ein fröhliches Vampirfest in der finsteren Tabellengruft. Das Video, das Augenthaler schlaflose Nächte bescheren wird, ist für Frankfurts Trainer Willi Reimann eine romantische Komödie. So unterschiedlich sind die Geschmäcker im Genre-Mix Bundesliga.“
Ralf Weitbrecht (FAZ 9.2.) gratuliert dem Mann des Tages: „Ausgerechnet Hertzsch also hat den Weg zum erstaunlichen Auswärtssieg seiner neuen Eintracht bei Bayer geebnet und damit gleichzeitig Hoffnungen geweckt. In Frankfurt glauben sie nun wieder an den Klassenverbleib, schließlich ist der Anschluß an die rettenden Plätze geschafft. Erste Liga – weil es bei Bayer Leverkusen für Hertzsch keine Möglichkeit mehr gab, sich spielend einen Namen zu machen, sah sich der ehemalige Nationalspieler zum Handeln gezwungen. Er suchte das Gespräch mit Bayer-Trainer Klaus Augenthaler, und man wurde sich schnell über ein Ausleihgeschäft mit der Eintracht einig. Erschwerend kam im Herbst eine Verletzung hinzu, die ihn in Leverkusen zu einer siebenwöchigen Pause zwang. Von Bayer ausgemustert, bei der Eintracht sofort zur geschätzten Führungsfigur aufgestiegen: Ich freue mich für Ingo, sagte Augenthaler nach der bitteren Heimniederlage. Das ist ein guter Junge. Der hat nie gemurrt, nie gemeckert. Sondern stets seine Arbeit getan. Als er anfing bei der Eintracht, sagte Hertzsch, daß ich nicht der Heilsbringer bin. Nur einer Mission fühle er sich verpflichtet: Die Eintracht vor dem Abstieg zu bewahren. Callenberg, Chemnitz, Hamburg, Leverkusen und nun Frankfurt. Im Herzen der Republik scheint Hertzsch im Zenit seiner Schaffenskraft genau den richtigen Klub gefunden zu haben.“
Ingo Durstewitz Jörg Hanau (FR 9.2.): „Der Berg wankt. Die Augen sind gerötet, die Haut ist fleckig, Schweiß steht auf der Stirn. Reiner Calmund, Schwergewicht, japst nach Luft, die Lippen beben; ein bisschen sieht der Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen aus wie damals, als sein Lebenswerk vom Untergang bedroht war und der Dämon, den er verniedlichend Abstiegsgespenst nannte, ihn so übel zugerichtet hatte. Calmund feuert im Stakkato vernichtende Wortsalven auf seine Profifußballer, die vor einer halben Stunde bedröppelt vom Platz geschlichen sind, weil ihnen Eintracht Frankfurt die Lust am schönen Spiel geraubt und drei Punkte aus der BayArena entführt hat. Eine Unverschämtheit. Das war grausam, eine Zumutung. Wir haben gespielt wie ein Abstiegskandidat, bellt Calmund. Ohne Feuer, ohne Leidenschaft. Wer jetzt vom Titel redet, ist saublöd. Da haue ich gnadenlos dazwischen. Eine Niederlage wie diese schmerzt, zumal gegen die deutschlandweit belächelten, ach so minderbemittelten Berufsfußballer aus Frankfurt. Ein paar Meter weiter steigt eine Jubelorgie in Blütenweiß. Selbst Eintracht-Trainer Willi Reimann, der kühle Emotionsbändiger, wird von seinen Gefühlen übermannt, er ballt die Faust, reißt die Arme empor, hüpft wie ein Flummi auf und ab, herzt Ioannis Amanatidis, den Schützen des Siegtores, klatscht jeden seiner Spieler ab. Als er seine Gefühle wieder sicher verstaut hat, blitzt Stolz aus seinen Augen. Wer sieht, mit wie viel Leidenschaft die Jungs gefightet haben, der weiß: Wir sind bereit; bereit, in jedem Spiel alles zu geben. Das hier heute kann nur der Anfang gewesen sein. Reimann blickt entschlossen drein.“
VfL Wolfsburg – Borussia Dortmund 2:4
Javier Cáceres (SZ 9.2.): „Am Ende vermochte nicht einmal mehr das große, gelbe Plakat mit der roten Schrift das Idyll zu stören; es hing auch nach Schlusspfiff noch im Dortmund Fanblock. „Versager“, war darauf zu lesen, in Versalien, und die Schmähschrift hatten die Fans auch dann noch hängen lassen, als der Triumph nicht mehr abzuwenden war, jedenfalls nicht nach menschlichem Ermessen. Den Gescholtenen machte es nichts, nach Schichtende in die entsprechende Kurve zu laufen, sich an den Händen zu fassen und mit den rund 2000 Mitgereisten Wiedervereinigung zu feiern, in der sattsam bekannten Choreographie. War da was? Bereits vor der Partie war Protest angekündigt worden. Fünfzehn Minuten lang wollten die BVB-Gläubigen ihrem Block fernbleiben. Doch heraus kam nur eine Art Bummelstreik. Statt von der Tribüne verfolgten die schwarz-gelben Fans das Spiel vom Gang aus (und baten, wie der Chronist des Fanzines www.schwatzgelb.de vorwurfsvoll festhielt, Manager Michael Meier und Nationalverteidiger Christoph Metzelder, die zwecks Deeskalation in den Block geeilt waren, unsolidarisch um Autogramme).“
Marcus Bark (FTD 9.2.): “Matthias Sammer hat bisweilen merkwürdige Ansichten über Fußball. Er will häufig genau das Gegenteil von dem gesehen haben, was die Masse sah. Auch am Samstag sah er wieder einmal etwas, was niemand anderem aufgefallen war. „Die Schlüsselszene war für mich, wie Flavio Conceicao nach dem Elfmeter den Ball im Vollsprint aus dem Netz holte und zeigte: Hier geht noch was“, sagte der Trainer von Borussia Dortmund. Der Elfmeter war übrigens für Wolfsburg und sorgte in der 35. Minute dafür, dass Dortmund mal wieder zurücklag. Aber irgendwie, so wollte Sammer zu verstehen geben, habe er nach dem Tor von Martin Petrov gewusst, dass sich seine Mannschaft aus dem Sumpf zieht, in den sie schon wieder ein paar Zentimeter tiefer gesunken war. Es ist dann auch tatsächlich so gekommen. Allen voran war es Torsten Frings, der die Rettungsaktion einleitete. Eine Woche nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Schalke führte der genesene Mittelfeldspieler eine Mannschaft zum Sieg.“
Schalke 04 – 1860 München 0:0
Christian Zaschke (SZ 9.2.): „Als auch noch Danny Schwarz ausfiel, war klar, dass die Sechziger ohne eingespielte Verteidigung würden agieren müssen, was Götz zu der Äußerung bewog: „Wenn noch einer aus der Defensive ausgefallen wäre, hätte ich wohl Libero spielen müssen.“ Götz kann das, er hat diese Position zu seiner aktiven Zeit bisweilen eingenommen, doch es darf bezweifelt werden, dass der 41-jährige Trainer die Aufgabe so gut gelöst hätte, wie der 34-jährige Marco Kurz das tat. Seit Monaten wird der ehemalige Kapitän nur noch selten eingewechselt, still trainierte er, fleißig lernte er für den Trainerschein, bescheiden fand er sich mit seinem Schicksal ab. Nun die Schalke-Situation: Keine Innenverteidigung mehr da, und er, Kurz, der mit Schalke 1997 dem Uefa-Pokal gewann, motiviertester Mann auf dem Platz. Während der gesamten Partie spielte er hart und sicher, er riss die Mannschaft mit. „Viele reden über unsere jungen Spieler“, sagte Falko Götz, „aber man muss einmal sehen, was Marco Kurz hier geleistet hat, und was Gerhard Poschner mit seinen ruhigen Anweisungen bewirkt.“ Poschner ist ebenfalls 34 Jahre alt, und gemeinsam mit Kurz leitete er eine Mannschaft, welche Andreas Görlitz als „fast eine A-Jugend“ bezeichnete. Das mag ein wenig übertrieben sein, doch immerhin spielten: Lehmann (20), Baier (19), Lauth (22), Görlitz (22) und später noch Davids (18). Und sie spielten diszipliniert, sehr massiert in der Abwehr, sehr konzentriert. Die Mannschaft verschob in der Defensive so gekonnt, als habe sie ein Praktikum in der italienischen Serie A absolviert. Das ist nicht jedermanns Sache, „ultra-defensiv“ nannte Schalke-Trainer Jupp Heynckes diese Spielweise etwas säuerlich, und Rudi Assauer befand: „Gegen so ein Bollwerk hätte auch Zinedine Zidane nicht viel ausrichten können.“ Er meinte das nicht als Lob, aber bei den Sechzigern kam es so an.”
Richard Leipold (FAZ 9.2.): “Den Schalkern fehlt es an Witz und Verve, ein braves Verteidigungsbündnis auszuspielen oder wenigstens zu Fehlern zu verleiten. Wir müssen schneller, präziser, produktiver spielen, sagte Trainer Jupp Heynckes. Von Kopf bis Fuß, von der Nummer 1 bis zur Nummer 33 auf Abwehr eingestellt, verteidigten die Löwen das Remis. Und es schien ihnen nicht einmal schwerzufallen; die Westfalen wirkten so schwerfällig, daß Heynckes abermals vor Augen geführt bekam, was seiner Mannschaft am meisten fehlt: ein Spielgestalter, der zur rechten Zeit den Rhythmus ändert, das Tempo variiert und mit einem Paß Mitspieler wie Gegner dazu zwingt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen. So offensiv Assauer auf dem Transfermarkt zuletzt aufgetreten ist: die wichtigste Position in Schalkes Zukunftself ist noch vakant. Dieser neuralgische Punkt, bei der Konkurrenz längst bekannt, ermuntert gerade Teams von begrenzter Qualität, in der Arena so aufzutreten wie die Münchner, die vor den drei hintersten Abwehrspielern ein sechs Mann starkes Mittelfeld aufbauten und ihren einzigen Stürmer Benjamin Lauth damit betrauten, den Schein zu wahren. Je näher die Schalker dem gegnerischen Tor kamen, desto unangenehmer wurde ihnen zumute; in der Enge der Münchner Hälfte wirkten sie wie von Platzangst geschüttelt.“
Hamburger SV –VfL Bochum 1:1
Hans Trens (FAZ 9.2.): „Zum Abschied formulierte er markige Begrüßungsworte. In der Hamburger AOL-Arena, wo die Erfolgsserie seiner frechen Bochumer sich fortsetzte, warf sich Peter Neururer in gewohnte Positur und lieferte ein abermaliges Beispiel für seine bekannte Zungenfertigkeit. Herzlich willkommen, Bayern! So blickte der Trainer des VfL Bochum bereits auf das kommende Wochenende – und er versprach dem Rekordmeister im heimischen Ruhrstadion einen entsprechenden Empfang: Was Frankfurt und Aachen können, das schaffen wir auch. Da war er wieder, der Lautsprecher aus dem Revier, der schlagfertige Fußball-Lehrer, der neuerdings seinen großen Tönen nicht minder imposante Taten folgen läßt. Neururers oftmals als graue Mäuse verspottete Bochumer setzen jedenfalls augenblicklich die Farbtupfer im Fußball-Westen der Republik, wo der Dortmunder Glanz trotz des Achtungserfolgs in Wolfsburg verblaßt, wo Schalkes Königsblau längst nicht mehr erstrahlt und wo selbst die Leverkusener Titelaspiranten im neuen Jahr nicht die Kurve bekommen. Der VfL Bochum indes, wenn auch im Duell mit einem harmlosen HSV nicht gerade souverän wie so oft in dieser Serie, bleibt in der Erfolgsspur (…) Tristesse in der Hansestadt, die an die auslaufende Jara-Ära erinnerte. Das Zwischenhoch unter Toppmöller scheint verschwunden. Resignierendes Geständnis des Abwehrrecken Bastian Reinhardt: Die Tabelle sagt die Wahrheit. Wir sind einfach nicht besser, als es unser Tabellenplatz aussagt. Und dieser weist immer noch den nötigen Abstand zum ersehnten UEFA-Cup-Platz auf. Ob dieses Saisonziel noch realistisch ist, bleibt abzuwarten. Insgesamt verdüstern sich ob der erschreckenden spielerischen Armut, ob der mangelnden Leidenschaft und ob der beschränkten Qualität des Personals die Perspektiven für Toppmöller und den HSV wie der dunkelgraue Februar-Himmel über dem schmucken WM-Stadion. Daß angebliche Talente wie Stephan Kling, dem ein schwerer Stellungsfehler vor dem 0:1 unterlief, daß Nationalspieler wie Christian Rahn auf niedrigem Niveau verharren, ärgert Toppmöller dabei besonders. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Neururer muß der eigentlich fidele Rheinländer beunruhigt sein, weil sein Team eindeutig im Minus liegt.“
1. FC Kaiserslautern – 1. FC Köln 1:0
Rainer Seele (FAZ 9.2.): „Von einem Zehn-Stunden-Tag für Fußballprofis hält Kurt Jara nichts. Den habe ich abgeschafft, sagte er, nachdem seine neue Mannschaft mit dem 1:0 einen kleinen Damm gegen die Pfälzer Not errichtet hatte. Der Trainer Jara ging damit deutlich auf Distanz zu seinem Vorgänger Erik Gerets, der sein Team mit ungewöhnlichen Maßnahmen zu disziplinieren versucht hatte. Die gewünschte Wirkung, man weiß, blieb aus. Jara setzt, er hatte dies gleich zu Dienstbeginn klargemacht, auf die Eigenverantwortung der Spieler. Am Samstag zumindest sah der Österreicher sich bestätigt. Seiner Elf, die sich mit dem Sieg über die Kölner auf den 15. Tabellenplatz verbesserte, hielt er zugute, bereit zu sein, für den FCK alles zu geben. Das hatte man natürlich auch erwarten können in Anbetracht der bedrohlichen Situation der Pfälzer. Obwohl sich die Lage nun ein bißchen entspannt hat, herrscht weiterhin eine gewisse Skepsis auf dem Betzenberg. So räumte der Vorstandsvorsitzende Rene C. Jäggi ein: Ich möchte keine Prognose geben, in welche Richtung es läuft. Er gab sich fürs erste damit zufrieden, nach dem Wechsel von Gerets zu Jara sportlich wenigstens einen kleinen Fortschritt gemacht zu haben. Im Moment reicht das. Allzu begeistert war Jara auf dem Betzenberg nicht empfangen worden. Doch er versuchte, dies gelassen zu betrachten.“
Hansa Rostock – SC Freiburg 4:1
Matthias Wolf (FAZ 9.2.): “Auf den ersten Blick war es eine nette Geste. Als Rade Prica in der 69. Minute ausgewechselt wurde, ging er auf eine Art Ehrenrunde. Vor der Nordtribüne applaudierte er den Zuschauern. Die Fans riefen seinen Namen. So, wie Spieler sonst nach Toren gefeiert werden. Es war die blanke Häme, die beide Seiten in diesem Moment walten ließen. Denn zuvor hatte das Publikum den jungen Schweden ausgepfiffen, nach jeder vergebenen Chance und jedem verstolperten Ball. Parallel forderten sie die Einwechslung des beliebten Magnus Arvidsson. Pricas Landsmann kam dann auch und entschied die Partie. Der 30 Jahre alte Skandinavier erzielte nicht nur das entscheidende 2:1 für den FC Hansa Rostock gegen den Sport-Club Freiburg, sondern bereitete auch noch die Treffer von Gernot Plassnegger, ebenfalls eingewechselt, und von Razundara Tjikuzu vor. 4:1 siegte Hansa, und Trainer Juri Schlünz sagte, der Sieg habe auch bei Prica, der sofort in die Kabine gerannt war, noch Freude ausgelöst. Auch wenn ihm das keiner ansah, als er wortlos und mit finsterer Miene aus dem Ostseestadion lief. Arvidsson gab da gerade sein nächstes Interview. Schlünz gefiel dieser Kontrast überhaupt nicht. Er, der stets das Gesamte sieht, betonte, die Tore der Joker seien weder sein Verdienst noch Heldentaten einzelner. Sondern vielmehr ein Beweis dafür, daß jeder bei uns wichtig ist.“
morgen auf indirekter-freistoss: die Sonntagsspiele in München und Berlin
Europas Fußball vom Wochenende: Ergebnisse, Tabellen, Torschützen NZZ
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Portrait Matthias Sammer
Portrait von Matthias Sammer, der übermäßige verbissen wirkt, aber kein Showmann und kein Schaumschläger ist
„Seine Hingabe und seine Professionalität, sich auf das Eigentliche konzentrieren zu können, führen dazu,dass Matthias Sammer oft verkannt wird. Weil er seinen Beruf sehr ernst nimmt und weder Showmann noch Schaumschläger ist, wird ihm ein Übermaß an Verbissenheit nachgesagt. Dabei ist Sammer lediglich anspruchsvoll und gründlich und erfüllt damit die Voraussetzungen, auf Dauer zu den Großen seines neuen Berufs zu gehören.“
Felix Meininghaus (Tsp 03.05.02) zum selben Thema:
„Matthias Sammer leidet immer noch am vorzeitigen Ende seiner aktiven Karriere. „Ich würde alles Geld der Welt dafür geben, wenn ich noch einmal spielen könnte“, hat er nach dem nervenaufreibenden Rückspiel im Halbfinale des Uefa-Pokals in Mailand gesagt. Das vorschnelle Ende seiner Karriere verfolgt den begnadeten Libero bis heute. Man kann sich gut vorstellen, welchen Seelenschmerz es einem bereitet, sich hinzusetzen, zuzusehen – wenn er doch so gerne das täte, was er am besten beherrscht und was ihm am allermeisten Spaß macht: mit den anderen rennen, grätschen und schießen. Nur wer die Umstände berücksichtigt, unter denen er auf der Dortmunder Bank gelandet ist, kann den Trainer Matthias Sammer und sein Verhalten richtig einordnen.“ (Volltext)
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FIFA-Präsident Sepp Blatter
FIFA-Präsident Sepp Blatter forciert die Änderung des Reglements. Nun ist der amtierende Weltmeister nicht mehr automatisch für das nächste Turnier qualifiziert: eine politische Entscheidung.
Als politische Entscheidung mit fragwürdigem Stil interpretieren die Autoren Berries Bossmann (Welt 05.12.), Andreas Burkert (SZ 01./02.12.), Wolfgang Hettfleisch (FR 01.12.) und Roland Zorn (FAZ 01.12.) die „historische Entscheidung“ (Blatter) der FIFA-Exekutive, das Qualifikationsprivileg des amtierenden Weltmeisters zu streichen. Erstens irritiere die Vorgehensweise des „wendigen und mit allen Wassern gewaschenen Machtmenschen Blatter“. Dieser habe „die Tagesordnung souverän missachtend“ (Hettfleisch) die Agenda ohne Vorankündigung um diese Fragestellung erweitert und somit seine Kollegen im Regierungsorgan überrumpelt. Zweitens seien die primären Gründe für diese Entscheidung kaschiert worden. Tatsächlich kann nämlich der FIFA-Generalsekretär nunmehr sein Versprechen einlösen, wonach er Asien vor langer Zeit einen zusätzlichen – sprich vierten – Startplatz garantiert hatte. Statt dessen präsentiere sich Blatter als „Mann des Ausgleichs“, der den Modus an zeitgemäße Anforderungen anpassen wolle. Bei Kontinentalmeisterschaften in Europa und Südamerika schließlich muss sich der Titelverteidiger für das nächste Turnier qualifizieren.
Die getroffene Entscheidung werde den Walliser „selbst am meisten freuen“ (Burkert). Momentan dominieren nämlich Mutmaßungen, „dass die Wiederwahl Blatters als FIFA-Präsident auf dem nächsten ordentlichen Kongress in Seoul unmittelbar vor Beginn der WM 2002 noch nicht gesichert sei“ (Zorn). Im „Kampf um seine zweite Amtsperiode“ (Burkert) zähle folglich jede Stimme. Europas Gunst drohe verloren zu gehen, kritisieren seine Vertreter doch immer wieder Führungsstil und Finanzpolitik Blatters. Zu deren Besänftigung wird die Entscheidung sicherlich nicht beitragen, profitierten bisher vom automatischen Startrecht des Weltmeisters de facto Europäer und Südamerikaner. Hingegen sieht man es in „Asien und Afrika […] naturgemäß gern, wenn den Europäern und Südamerikanern ein Privileg gestrichen wird“ (Hettfleisch).
In einem so genannten Kommentar vermeidet Rainer Holzschuh (kicker 03.12.) – wohlgemerkt Herausgeber – sowohl die Namensnennung Blatters als auch jedes kritische Wort über die Angelegenheit. Zwar sieht er darin eine „politische Entscheidung“, doch bezeichnet er die Arbeit der „FIFA-Weisen(!)“ als „fleißig(!)“. Wahlkampfkalkül hat er offensichtlich nicht ausgemacht. Dabei lasse der Auftritt des profilierungssüchtigen Südkoreaner Chung Mong Joon im Rahmen der Auslosung nach Meinung vieler Autoren Ambitionen auf das höchste Amt in der Welt der Fußballfunktionäre erkennen. Dieser habe Blatter öffentlich düpiert, indem er ihn beim vorabendlichen Dinner bat, „eine Begrüßungsrede zu halten, worauf er jedoch von den Gastgebern nicht vorbereitet war“ (Bossmann). Als einer der Gastgeber der WM werden sich Chung demnächst eine Reihe von prestigewirksamen Möglichkeiten bieten. Übrigens kursiert weiterhin der Name des Bild-Kolumnisten Franz Beckenbauer als möglicher Konkurrent. Dieser verneine zwar seine sportpolitischen Ambitionen, „doch wollte er auch nie Trainer und Präsident beim FC Bayern oder DFB-Teamchef werden“ (Bossmann).
Gewinnspiel für Experten
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CL: Sieg, Remis und Niederlage für Dortmund, München und Leverkusen
Die zweite Runde der Champions League: aus deutscher Sicht ein Sieg (Dortmund), ein Remis (München), eine Niederlage (Leverkusen) – weiter Spiele aus Spanien, England, Italien und Israel – neues von der Fifa-Spitze u.v.m. (mehr …)
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Versöhnung
Versöhnung zwischen den – inzwischen – einsichtigen Verantwortlichen des FC Bayern und seinen kritischen Fans – FAZ-Interview mit Klaus Topmöller über Michael Ballack und Schönheit im Fußball – sehr lesenswertes Spiegel-Essay über die Krankheitsfälle Deisler und Simak sowie den Leistungsdruck im Profifußball u.v.m.
Wie wenig die Verantwortlichen des FC Bayern über ihre Fans wussten!
Eine im Lokalteil (fast) versteckte Meldung über das vermutliche Ende des Streits – mit ungleichen Mitteln – zwischen dem FC Bayern München und seinen kritischen und letztlich bestraften Fans: Markus Schäflein (SZ 3.12.) berichtet das Eingestehen der Bayern-Führung: „Es war ein schlimmer Sommer für Andi Brück. Er ist seit 1986 Fan des FC Bayern, seit 1990 hat er so gut wie alle Bundesliga-Spiele des Vereins besucht. Dass es so weit kommen würde, hatte er nicht geahnt. „Es war eine meiner schwärzesten Zeiten“, sagt er, „emotional war es sehr hart. So etwas darf nie wieder eintreten.“ Der FC Bayern München hatte einigen hundert Fans, anfangs wegen angeblichen „vereinsschädigenden Verhaltens“, später begleitet von öffentlichen Diffamierungen, die Dauerkarten entzogen. Inzwischen hat sich der Verein mehrmals entschuldigt, zuletzt haben Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge auf der Jahreshauptversammlung und Manager Uli Hoeneß bei einem Treffen des damals ausgeschlossenen Fanklubs Club Nr. 12 versöhnliche Reden gehalten. Es scheint, als hätten die Verantwortlichen des FC Bayern im Umgang mit den Fans dazugelernt. Sie haben Andi Brück als hauptberuflichen Mitarbeiter der Fanbetreuung angestellt. Jetzt ist auch der harte Kern der Fans im Verein repräsentiert, die so genannte Szene, die mit ihren vielen Strömungen und ihrem teilweise aggressiv wirkenden Verhalten von den Vereinschefs oft missverstanden wird – nicht nur beim FC Bayern. Außerdem wurde ein Fanrat gegründet, in dem auch die im Sommer ausgeschlossenen Fanklubs vertreten sind. Er soll sich vierteljährlich mit der Vereinsführung treffen. Im Fanrat sitzt auch der Südkurven-Trompeter Manfred Rögelein. Beim ersten Heimspiel der Saison wollten ihn die Verantwortlichen des FC Bayern noch in eine Blaskapelle einbauen, der harte Kern der Anhänger reagierte wütend. Die Blaskapelle kam nie wieder, mittlerweile kann Brück über die Geschichte schon lachen. Sie ist das beste Beispiel dafür, wie wenig die Verantwortlichen des FC Bayern über ihre Fans wussten. Der FC Bayern hat die Kritiker aus den eigenen Reihen nicht durch falsche Anschuldigungen loswerden können; nun versucht er, sie zu integrieren. Das ist der bessere Weg.“
Presse-Stimmen (Juli 2003) zur Diskussion um die Sanktionen des FC Bayern gegenüber ihren Fans
of Wie kommentieren eigentlich die Kettenhunde von Hoeneß, Rummenigge und Beckenbauer von der Sport-Bild diese neue Harmonie und die Entschuldigungen seitens der Bayern-Klubführung? Zur Erinnerung: damals warnten sie vor „Terror aus dem Fan-Block“!
Ballack würde glücklich, wenn er seine Position spielen könnte
FAZ-Interview mit Klaus Toppmöller über Bayern München, Michael Ballack und Schönheit im Fußball
Die Stimmung beim FC Bayern München ist angespannt. Nach dem enttäuschenden 2:2 gegen den 1. FC Köln ließ Manager Uli Hoeneß seinem Ärger in der Kabine freien Lauf, Präsident Franz Beckenbauer kritisiert die Mannschaft heftig. Im Mittelpunkt der sportlichen Kritik stand zuletzt immer wieder Nationalspieler Michael Ballack – der Lieblingsschüler von HSV-Trainer Klaus Toppmöller während der gemeinsamen erfolgreichen Zeit bei Bayer Leverkusen.
FAZ: Die Bayern haben aus Leverkusen Michael Ballack und Zé Roberto geholt, um den attraktiven Fußball von Bayer zu den Bayern zu importieren. Warum klappt das nicht?
KT: Die Bayern haben eine sehr gute Mannschaft, sie spielen erfolgsorientiert. Aber Ballack hat am liebsten zwei Spitzen und einen offensiven Mittelfeldspieler dahinter. Das wäre zwar risikoreicher als ihr jetziges Spiel – aber auch schöner.
FAZ: Schöner Fußball – Ihr Lieblingsthema.
KT: Ich bin da ein bißchen anders gepolt. Ich sehe die Zuschauer als Kunden. Die meisten gehen nur alle zwei Wochen ins Stadion und wollen ein schönes Spiel sehen. Da kann ich als Trainer nicht hingehen und neun oder zehn defensive Leute aufstellen. Das geht gegen meine Philosophie von Fußball. Ich will Fußball spielen, nicht Fußball verteidigen. Ich war zuletzt auch ziemlich überrascht, daß die Fernsehzuschauer in der Champions League lieber Stuttgart sehen wollten – und die mit 70 Prozent vor den Bayern lagen –, obwohl die Bayern Nummer eins in Deutschland sind und die meisten Fans haben. Das bestätigt mich in meiner Meinung, daß die Leute ins Stadion gehen und sich vor den Fernseher setzen, weil sie ein Topspiel sehen wollen.
FAZ: Die kennen sich doch so lange, also müssen sie zusammen spielen können. Aber sie laufen nicht, sie stehen nur herum, ich sehe keine Aufwand, kein Bemühen, keinerlei Bewegung, sagt Franz Beckenbauer jetzt über seine Bayern. Wollen Sie ihm widersprechen?
KT: Daß die Bayern auch super Fußball spielen können, haben sie auch schon gezeigt. Das ist gar nicht so lange her: Im letzten Jahr hat man vom weißen Ballett gesprochen. Die Bayern haben also bewiesen, daß sie es können.
FAZ: Ballack steht bei den Bayern am meisten in der Kritik – warum wird er in München nicht glücklich?
KT: Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Aber ich kenne ihn sehr gut. Ich glaube, daß er nur glücklich würde, wenn er seine Position spielen könnte. Ein Beispiel: Wenn man als Journalist über ein tolles Spiel schreiben kann, wird daraus ein super Artikel. Das ist doch etwas anderes als über ein trockenes Thema wie Fernsehverträge zu berichten – und das ist bei Fußballern genauso. Ich kann jedenfalls nur sagen, wie es mit Ballack damals bei mir war: Da hat er seine Topspiele gemacht. Jetzt kann ich das nur aus der Ferne beurteilen: Bei den Bayern hat er sein Top-Level in dieser Saison noch nicht erreicht – und auch Zé Roberto nicht. Er wurde schon vergangene Saison in Frage gestellt.
FAZ: Ballack müßte also offensiver spielen?
KT: Ja, dann wäre er meiner Meinung nach glücklicher.
Wie unmenschlich ist der Leistungsdruck im Profibetrieb?
Sehr lesenswert! Maik Großekathöfer Michael Wulzinger (Spiegel 1.12.) recherchieren die Hintergründe um die Krankheitsfälle Simak und Deisler: „Macht die Bundesliga die Seele krank? Wie schwer ist die Last, vor 80 000 Zuschauern auf dem Rasen funktionieren zu müssen; von Kritikern abgeurteilt zu werden; Rechenschaft abzulegen über verschossene Elfmeter, unterlaufene Flanken, den Wechsel der Lebenspartnerin oder Kneipenbesuche nach 22 Uhr? Mit dem Fall Simak kam in diesem Herbst – quasi als Kontrastprogramm zu den wilden, tatkräftigen und erfolgreichen Eleven des VfB Stuttgart – ein Thema hoch, das älter ist als die Bundesliga, aber nie wirklich aufgegriffen wurde. Denn dass bekannte Fußballer psychisch erkranken, ist kein neues Phänomen. Jupp Posipal etwa, einer der sagenumwobenen Helden von Bern, begab sich in den späten Jahren seiner Karriere wegen Depressionen in Therapie, was eingeweihte Weggefährten wie ein Staatsgeheimnis behandelten. Schließlich galt es bis in jüngster Zeit in der Leistungsgesellschaft des Fußballs als Unding, an etwas anderem als Zerrungen oder Knochenbrüchen zu laborieren. Seit vorvergangenem Freitag wird die Debatte, wie gravierend seelische Konflikte für Kicker sein können, mit nie erlebter Verve und Offenheit geführt (…) Es gibt verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen Sebastian Deisler und Jan Simak, die beide als technisch hochbegabte Kreativspieler geschätzt werden. In ihren Mannschaften galten sie, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, als isoliert. Aus dem seelischen Gleichgewicht gerieten sie ausgerechnet in einer Phase, in der sportlich alles bestens lief. Dennoch trennt die beiden sensiblen Kicker mehr, als sie eint (…): Kompliziert wurde das Leben für Simak, als er voriges Jahr zu Bayer Leverkusen ging. Dieser Wechsel gilt als traumatischer Karriereknick. Erstmals war Simak nicht automatisch der beste Mann seines Teams. Für die neuen Kollegen, fast durchweg Nationalspieler, war Simak nur ein lauffauler, defensivschwacher Zweitliga-Kicker, den sie im Training zuweilen übel foulten. Für diesen böhmischen Zuhälter, wütete ein deutscher Nationalspieler schon nach wenigen Wochen, laufe ich mir nicht die Füße platt. Trainer Klaus Toppmöller registrierte die Feindseligkeiten. Wiederholt bat er den Tschechen zu sich in die Kabine. Doch kaum war Jan in meinem Büro, hatte er einen Fuß schon wieder über der Türschwelle, erinnert sich der Coach. Mit seinen Augen hat er mich angeschaut, doch mit seinen Ohren hat er weggehört. Bevor sich Simak einem Problem stelle, bestätigt sein Berater Leutrum, haut er lieber ab (…) In der laufenden Debatte wird gern darüber räsoniert, wie unmenschlich der Leistungsdruck im Profibetrieb sei. Andererseits betonen fast alle Trainer, ein Kader von über 25 Spielern funktioniere nur über Druck. Doch welchen Druck hatte Sebastian Deisler eigentlich im Star-Ensemble des FC Bayern? Er musste 15 Verletzungen in fünf Jahren verarbeiten, die Trennung seiner Eltern, die mit Komplikationen behaftete Schwangerschaft seiner Freundin. Aber Druck, den der Arbeitgeber entwickelte, muss sich der FC Bayern kaum vorwerfen. Allenfalls die Einsilbigkeit, mit der Deisler um das Trainingszentrum schlich, wagten die Bayern-Bosse im Sommer kritisch anzusprechen. Sebastian glaubt, monierte Club-Chef Karl-Heinz Rummenigge, dass es reicht, wenn er trainiert und samstags spielt. Aber beim FC Bayern ist das nicht genug. Eine besondere Kostprobe seines Verständnisses von Öffentlichkeitsarbeit lieferte Deisler, der in drei Jahren zweimal den Berater austauschte, nach dem 0:0 der Nationalelf auf Island. Alles in Schwarz zu schreiben ist blöd, spielte er den blamablen Auftritt herunter. Und überhaupt: Morgen ist ein anderer Tag, und am Mittwoch ist ein anderes Spiel, und da werden wir es allen zeigen. Auf Nachfrage sagte er den Satz ein zweites Mal – den Journalisten kam es vor, als säße da ein Sprechautomat der Telekom auf der Bühne. Indes: Verstehen kann den introvertierten Ballkünstler nicht mal, wer täglich mit ihm arbeitet. Zu Kollegen pflegt er kaum Beziehungen. Leverkusens Manager Calmund wähnt in den Fällen Deisler und Simak die Spitze eines Eisbergs. Was aber zu tun ist, darüber herrscht in der Liga Ratlosigkeit. Es gibt Fälle wie den des ehemaligen Stürmers Guido Erhard. Als er beim VfL Wolfsburg 1996 ausgemustert wurde, fiel Erhard in eine erste Depression. Beim Zweitliga-Club Mainz 05 gewann er die Lust am Fußballspielen zurück, doch seine Krankheit wurde er nicht mehr los. Im Februar 2002 warf sich der Fußballer im Offenbacher Hauptbahnhof vor einen Zug.“
Jörg Marwedel (SZ 3.12.) berichtet von der Jahreshauptversammlung beim Hamburger SV: „Es ist schwer, Visionen zu vermitteln, wenn die Gegenwart so trist ist wie der derzeitige zwölfte Tabellenplatz des HSV in der Bundesliga. Vereinschef Bernd Hoffmanns Vision ist ein europäischer Spitzenklub, der seinen Mitgliedern gleichwohl das Gefühl einer „Heimat“ vermitteln soll. Und ein Weg dahin sei die Ausgliederung der Lizenzspielerabteilung in den nächsten zwei Jahren, „um einmal richtig Geld auf dem Kapitalmarkt zu bekommen und auf Augenhöhe mit den Topklubs zu arbeiten“. „Wie Eintracht Frankfurt?“ wandte einer aus dem Auditorium spöttisch ein. Überzeugt hat er erst Wenige im konservativen Krawattenklub. Nicht einmal sein Hinweis, der HSV sei einer der letzten fünf Eingetragenen Vereine unter den 18 Erstligaklubs, schien die Traditionalisten zu beeindrucken. Eher schon die Rede des früheren Präsidenten Peter Krohn, der den Aufsichtsratsvorsitzenden Udo Bandow wegen fehlender Kontrolle attackierte. „Die Verluste“, rief Krohn und hob erregt die Stimme, „sind echte Substanzverluste, die Werte sind weg.“ Er erhielt den größten Beifall des Abends.“
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Optimismus der europäischen Klubs
Helmut Schümann (Tagesspiegel 14.12.) fragt allerdings, ob der Optimismus der europäischen Klubs gerechtfertigt sei. Zuschauerschwund im Stadion und am Bildschirm belegten die Übersättigung. „Wie haben wir in der freien Marktwirtschaft gelernt: Die Nachfrage bestimmt das Angebot.“ Demzufolge käme man auf lange Sicht nicht um eine Redimensionierung der Champions League herum.
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Drei Zentner Elend
Jan Christian Müller (FR 12.5.) fasst Leverkusener Reaktionen zusammen. “Schließlich schaffte es Premiere-Reporter Rolf Fuhrmann, unter Mithilfe von Sportdirektor Jürgen Kohler Nationalspieler Ramelow vors Mikrofon zu bekommen. Ramelow sah aus, als habe er soeben eine Karaffe Zitronensaft auf Ex herunterspülen müssen, stammelte was von absolute Katastrophe, an eigene Nase fassen, fasste sich dabei ans Ohr und sah bald zu, dass er Land gewann. Später kam sogar noch Reiner Calmund, dicke Schweißperlen auf der Stirn, rote Ränder um die Augen und die Hände in den Anzugsärmeln vergraben. Drei Zentner Elend. Calli präsentierte sich ungewohnt kurz angebunden. 40 Punkte sind noch realistisch, sagte Calmund zwei TV-Sendern und einer Radiostation. Dann torkelte er wie benommen von dannen (…) Hörster kann so schön traurig gucken wie ein Hush Puppie, den Frauchen allein zu Hause gelassen hat, und an diesem sonnigen Samstag hatte Hörster allen Grund zur Griesgrämigkeit. Aber er hat trotzdem versucht, nett zu sein und hat in einem seiner immer wiederkehrenden Anflügen von Naivität zum Beispiel gesagt, er habe in dieser Situation mit sich selbst am meisten zu tun, ganz ehrlich, denn: So sind wir nicht erstligareif. Nach dieser Leistung habe ich die Hoffnung eigentlich aufgegeben. Kein Wunder, dass es nach dieser Kapitulationserklärung am Sonntag eine Krisensitzung in Leverkusen gab. Ergebnis: Hörster behält die Verantwortung für die Aufstellung, Kohler führt Einzelgespräche und redet mehr mit denn je. Man darf das getrost als Misstrauensvotum gegen den heillos überforderten Übungsleiter interpretieren. Jürgen Kohler vermied es, Hörsters Aussagen zu kommentieren, doch man sah ihm an, was er davon hielt: wenig bis nichts. Kohler will sich an den Strohhalm klammern, solange der noch da ist. Aus Leverkusen verlautet, kein Scherz, der eilig vom DFB nach Leverkusen versetzte Haudegen berate sich unter anderem mit den Herren Udo Lattek, Klaus Schlappner und Berti Vogts.“
siehe auch Lage der Liga
Jörg Marwedel (SZ 12.5.) kritisiert die Außendarstellung von Bayer 04. „Man hat es mal wieder dem Aushilfstrainer Thomas Hörster überlassen, den Kopf hinzuhalten für alles, was sich in Leverkusen am Ende dieser Saison an Missständen angehäuft hat. Und auch diesmal hatte niemand Hörster geraten, wie man in so einer Situation zumindest verbal das richtige Maß findet zwischen Realismus und letztem Aufbäumen. Also sprach er gnadenlos ehrliche Sätze, die wie der Ruf nach Ablösung klangen: „Das war eine Vorführung. Nach der Leistung von heute habe ich aufgegeben.“ Oder, auf die Frage, ob er versucht habe, die Spieler aufzumuntern: „Was gibt es da aufzumuntern? Ich habe mit mir selbst am meisten zu tun, das zu verarbeiten.“ Ein Trainer darf so nicht reden, er muss auch Schauspieler sein. Es müssten Worte haften bleiben, die Hörster auch gesagt hat, die aber untergingen in seinen allgemeinen Widersprüchen. Zum Beispiel über seine Hoffnung, „dass wir immer zurückgekommen sind“ nach solchen Nackenschlägen, was ja stimmt und deshalb Therapie-tauglich wäre. Dass es der Mannschaft „an allen Ecken und Kanten fehlte“, wie Hörster zutreffend zu Protokoll gab, dafür kann der Coach indes nur bedingt etwas. Haben sein Vorgänger Klaus Toppmöller und die Führungsriege um Calmund doch zugesehen, wie das Team während der vergangenen Monate in seine Einzelteile zerfiel – in eine brasilianische Fraktion, in eine der deutschen Vize- Weltmeister und in jene der Jungprofis wie Simak, Balitsch oder Berbatov, schwankend zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln. Hörster kann auch nichts dafür, dass das Team den für den verletzten Jens Nowotny eingesprungenen Ramelow nicht als Führungsfigur akzeptiert, oder dass Schneider und Neuville bei Abstieg ablösefrei gehen können, während Ramelows Treuebekenntnisse wohl vor allem mit seinem Vertrag zu tun haben, der ihm selbst in der Zweiten Liga viel mehr garantiert, als ihm ein anderer Klub noch zahlen würde. So sahen 51.623 Augenzeugen in Hamburg das Sinnbild eines Zerfalls. Abwehrspieler wie Ojigwe, Juan und Placente, die ihren Gegenspielern jeden Raum für Tore und Vorlagen gestatteten; Stürmer wie Berbatov und Bierofka, die an Harmlosigkeit nicht zu überbieten waren; einen Weltmeister Lucio, der wirkte, als kämpfe er allein den Kampf des Don Quichotte.“
Pure Verzweiflung
Zur misslichen Lage des Werksklubs liestman bei Frank Heike (FAZ 12.5.). „Und dann steckten sie auch noch im Stau fest. Nur fort von hier war die Devise der Fußballprofis von Bayer 04 Leverkusen nach dem schlimmen 1:4 beim Hamburger SV. Schon um kurz nach sechs am frühen Samstag abend rollte der Bus mit den getönten Scheiben aus dem Keller der AOL-Arena. Doch die Flucht endete nach 500 Metern. Feststeckend im zähen Fluß der abreisenden Fans, stand der Bayer-Bus auf Höhe der Müllverbrennungsanlage Stellingen, das Stadion im Rücken, als ein auf der Überholspur vorbeifahrendes Auto mit HSV-Fans hielt. Das Fenster wurde runtergekurbelt und ein Laken ausgebreitet: Kopf hoch, Bayer, in der 2. Liga reicht auch Platz zwei. Erst langsam löste sich der Stau auf, das Gefährt rollte auf die Autobahnauffahrt, heim nach Leverkusen. Doch im Gepäck waren nicht nur der Spott der Hamburger Fans und die Tränen der eigenen Anhänger, sondern auch berechtigte Zweifel daran, ob das kleinste verbleibende Ziel eines Klubs, der im Vorjahr mit seinem Fußball begeistert und dreimal Zweiter geworden war, der Klassenverbleib nämlich, überhaupt noch zu erreichen sei. Wenn wir uns so präsentieren, werden wir es nicht schaffen, sagte Carsten Ramelow. Gesichtsausdruck und Körpersprache des Nationalspielers (einer von elfen aus sechs Ländern in der Startformation) deckten sich mit denen seines Trainers Thomas Hörster. Ratlos, hilflos, aber leider auch hoffnungslos zeigte sich Hörster nach dem Spiel. Wo Aufmunterung und Kampfeslust vor den letzten beiden entscheidenden Spielen gegen keinesfalls übermächtige Gegner – München 1860 und 1. FC Nürnberg – hätten stehen müssen, bot der Coach seinen Profis nur pure Verzweiflung an: Nach dieser Leistung habe ich die Hoffnung aufgegeben. Es fehlte an allem.“
Er hat sich dem dahinwabernden Verbal-Mainstream der Fußball-Bundesliga noch nicht angepasst
Andreas Lesch (BLZ 12.5.) zeigt Mitleid mit Leverkusens Coach. „Er hätte lügen können. Hätte sagen können, dass er die Leistung seiner Mannschaft so schlecht gar nicht fand. Er hätte sich hinter Floskeln verstecken können: Über den Kampf müsse man wieder zum Spiel finden, es sei nun wichtig, die Leidenschaft bei den Spielern neu zu entfachen und aufgeben dürfe man sowieso schon mal gar nicht. Doch was sagte Thomas Hörster, der Trainer von Bayer Leverkusen, nach dem desaströsen 1:4? Erstens: Nach dieser Leistung, muss ich sagen, habe ich aufgegeben. Und zweitens: Ich hab mit mir selbst am meisten zu tun – das zu verarbeiten . Hörster ist noch nicht lange im Geschäft, er hat sich dem dahinwabernden Verbal-Mainstream der Fußball-Bundesliga noch nicht angepasst, und so erschreckt er die Branche Woche für Woche mit einer Ehrlichkeit, die so entlarvend ist wie naiv. Hörsters Aussagen gewähren tiefe Einblicke ins Seelenleben seines Vereins. Das gestaltet sich zurzeit, freundlich ausgedrückt, ein bisschen kompliziert. Die Leverkusener haben immer noch eine realistische Chance, den Abstiegskampf freudvoll zu beenden. Für ihre verbleibenden Gegner, den TSV 1860 München und den 1. FC Nürnberg, geht es um nichts mehr in dieser Spielzeit. Aber tapfer wehren sie sich, an diese Chance zu glauben und vergraben sich lieber in der eigenen Resignation.“
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Die Auswahl von Rudi Völler
Michael Horeni (FAZ 12.6.) zum Spiel D-K (2:0). „Die Auswahl von Rudi Völler hat dagegen wenige Stunden nach dem französischen Abschied ein klassisches Meisterstück deutscher Willens- und Kampfkraft abgeliefert. Der Lohn für zehn nimmermüde Kämpferlein nach einem Platzverweis für Abwehrchef Ramelow in der ersten Halbzeit ließ am Ende einen Schlussstand in der Gruppe E aufleuchten, der imponierend auf die Konkurrenten wirken dürfte, die danach kommen können: zwei Siege, sieben Punkte, elf Treffer (…) Die individuelle Klasse der deutschen Kämpfertypen reichte zwar gegen Saudi-Arabien zu einem famosen Erfolg, aber sowohl gegen Iren als auch Kameruner waren spielerische Grenzen deutlich spürbar. Imponierend ist jedoch, wie beherzt die Mannschaft an die Herausforderung WM trotz aller Rückschläge herangeht. Der späte Ausgleich gegen Irland zeigte seine Wirkung, Kamerun dominierte bis zum Platzverweis von Ramelow. Aber an Aufgabe denkt diese Auswahl nicht – als spürte sie, was mit der Kraft, die aus der Vergangenheit kommt, zu erreichen ist.“
Philipp Selldorf (SZ 12.6.) zum selben Thema. „Zur Pause der Begegnung mit Kamerun war die Lage für Deutschlands Nationalmannschaft nicht schlecht. Sie war katastrophal. Ein zunehmend zerfallendes Ensemble voller Angst und Unsicherheit erwartete – nach Ramelows Hinausstellung – in Unterzahl einen Gegner auf dem Vormarsch. Mancher Reporter formulierte schon seine Abschiedsgrüße an Team und Trainertandem (…) Es war übrigens ein hitziges, aber keineswegs unfaires Spiel, das mit Shakehands und Trikottausch endete.“
Peter Heß (FAZ 12.6.) feiert die Renaissance deutscher Tugenden. „Der gute alte deutsche Fußball lebt! Das 2:0 über Kamerun, mit dem die Mannschaft von Teamchef Rudi Völler am Dienstag Abend den Einzug in das Achtelfinale der Weltmeisterschaft vollzogen hat, kann den Vergleich aufnehmen mit den meisten der großen Taten der Vergangenheit. Wie 1982 und 1986, als der Weg jeweils ins WM-Finale führte, sträubte sich eine Gemeinschaft von Fußballkämpfern dagegen, ihre Defizite zur Kenntnis zu nehmen, und entschied sich statt dessen dafür, ihre kleine Chance auf Erfolg beherzt zu suchen und zu nutzen (…) Alle für einen, einer für alle – wie die Musketiere standen die Spieler für den Erfolg ein. Aber längst sind nicht alle gleich. So langsam muss man sich an den Gedanken gewöhnen, dass nicht nur Torwart Oliver Kahn aus der Mannschaft herausragt. Die Art und Weise, wie Miroslav Klose das 1:0 vorbereitete und das 2:0 erzielte, sollte die letzten Zweifler – und zu denen zählt der seit vergangenen Sonntag 24 Jahre alte Kaiserslauterer sich selbst – bekehren: Die deutsche Nationalelf darf auf ihrem weiteren Weg auf die Unterstützung eines Weltklassestürmers setzen.“
Ludger Schulze (SZ 12.6.) über Teamchef Rudi Völler. „Für Rudi Völler ist dieser kleine Erfolg ein großer Schritt in seiner persönlichen Karriere als Teamchef. Sie wäre nämlich bei einem Misserfolg aller Voraussicht nach zum Stillstand gekommen. Mit dem Sieg von Shizuoka gegen Kamerun hat sich Rudi Völler die Arbeitserlaubnis für die nächsten vier Jahre abgeholt – und den Beweis erbracht, dass er auch in kritischen Situationen als Trainer bestehen kann.“
Martin Hägele (NZZ 12.6.) über dessen Taktik. „Völler muss sich schon den Vorwurf gefallen lassen, für seine Dickköpfigkeit im Falle Jancker ums Haar bestraft worden zu sein. Es kann wohl kaum der Sinn eines WM-Turniers sein, der ganzen Welt beweisen zu wollen, dass sich der zweite Ersatzstürmer des FC Bayern durch ständiges Üben im Nationaldress jenes Selbstbewusstsein und vor allem die Form aneignen kann, die auf diesem Level eigentlich Grundvoraussetzung sein sollten. Des Weiteren war es unverständlich, weshalb sich Ramelow so leichtfertig eine gelbe Karte einhandelte, nachdem sich schon in den ersten Minuten abgezeichnet hatte, dass Señor Nieto Lopez die Absicht hatte, eine Bestmarke mit gelben und roten Karten aufzustellen. Mit 16 Verwarnungen ist ihm das gelungen: Wahrscheinlich sieht der Facharbeiter mit den Hobbys Korbball, Musik und Lesen schon bald seine Gattin in Malaga wieder. Warum sich dieser in der Champions League erfahrene Unparteiische so schnell von Hektik und schwachem Niveau anstecken ließ, blieb ein Rätsel (…) Von Winfried Schäfer waren hinterher nur Konjunktive zu hören und vor allem viele Wenn. Auch an seinen früheren Arbeitsstätten, ob in Karlsruhe, Stuttgart oder bei Tennis Berlin, war der Fußballlehrer mit der Altrocker-Frisur genial im Erfinden von Ausreden.“
Jan Christian Müller (FR 12.6.) sieht das ähnlich. „Mitunter ist es ja so, dass Menschen zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Zum Beispiel im Fall Rudi Völler. In einer schwer nachvollziehbaren Nibelungentreue hatte der Teamchef der DFB-Auswahl auch gegen Kamerun an Mittelstürmer Carsten Jancker festgehalten. Kaum jemand unter den anwesenden Sportjournalisten konnte das verstehen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Carsten Ramelow nicht kurz vor der Halbzeit die gelb-rote Karte gesehen hätte? Womöglich hätte die DFB-Elf taktisch so weiter gewurstelt wie vor dem Wechsel. So aber taten Völler und Bundestrainer Michael Skibbe das einzig Richtige: Sie nahmen Jancker vom Feld, den sie durch Marco Bode ersetzten, und lösten die Dreier-Abwehrkette auf, die ja in Wirklichkeit ein altmodischer Fünferverbund in der Defensive war. Und plötzlich, aber bestimmt nicht zufällig, kamen die Mittelfeldspieler viel besser in die Zweikämpfe.“
Frank Ketterer (taz 12.6.). „Es sah nicht gut aus für die fußballernden Burschen von Rudi Völler im letzten und entscheidenden Spiel der Gruppe E. Mehr noch: Es sah nach Heimreise aus, es roch nach dem Aus, dem schändlichen Aus bei dieser WM schon nach der Vorrunde, genau eine Halbzeit und fünf weitere Minuten lang. So lange hatte Kamerun nach einer zehnminütigen Eingewöhnungszeit das Spiel bestimmt und auch den Gegner, hatte die deutsche Abwehr schwindelig gespielt und sich ein paar Chancen erarbeitet.“
Alexander Steudel (Die Welt 12.6.). „45 Minuten lang bot die deutsche Nationalmannschaft gestern ein Bild des Schreckens. Die Abwehr stand sich permanent selbst im Weg, das Mittelfeld hatte seinen freien Tag, und im Sturm lief nichts. Man fühlte sich erinnert an das dritte Vorrundenspiel der vergangenen Europameisterschaft, als die Portugiesen mit einer B-Auswahl 3:0 gewannen und das DFB-Team heimschickten.“
Ronald Reng (SZ/FR 12.6.). „Es wäre Unsinn zu behaupten, Keane fehle der Mannschaft nicht; selbst gegen die geradezu zweikampfängstlichen Saudi-Arabier konnten die zentralen Mittelfeldspieler Matt Holland und Mark Kinsella die Dynamik, die Keane dort versprüht hat, nur zart andeuten. Doch es geht, irgendwie, auch so. Saudi-Arabien war die eigentlich leichteste Aufgabe der Vorrunde, aber bei Irland sieht jede Partie wie eine harte Prüfung aus.“
Peter B. Birrer (NZZ 12.6.). „Die große Kunst mit dem runden Ball ist in diesen Sphären nicht gefragt, sie würde auch nicht den Namen dieser Spieler, ihrer Reputation und ihrer Herkunft entsprechen. Die meisten arbeiten in Vereinen, die nicht zu den ersten Adressen der Premier League gehören, zum Teil sind sie dort, wie etwa Robbie Keane in Leeds, derzeit nicht einmal erste Wahl. Es werden kleinere Brötchen gebacken, und deswegen ist der Sprung unter die letzten sechzehn des Turniers auch als großer Erfolg zu werten.“
Der Guardian (London) titelt: „Die Deutschen spielen ihre Karten richtig.“ Paul McInnes berichtet in seinem Artikel – für englische Verhältnisse weiterhin überraschend wohlgesonnen: „Rudi Völlers Deutsche kamen mit einer Leistung in die zweite Runde, die alle Tugenden des deutschen Fußballs aufzeigte, von der Kunst, mit allen erlaubten Tricks zu gewinnen sowie Robustheit. Aber trotz ihrer besten Leistung und dem fünften Tor von Miroslav Klose, stahl ihnen der Schiedsrichter Lopez Nieto die Show, nachdem dieser einen neuen WM-Rekord von 16 gelben Karten in 90 Minuten aufstellte. Lopez hatte schlicht vergessen, dass Fußball ein Spiel mit Körperkontakt ist.“
Die kroatische Zeitung Vecernji List urteilt. „Die Deutschen waren nur ein Schatten der Mannschaft, die gegen Saudi Arabien acht Treffer erzielte. Immerhin war es die deutsche Tugend Hartnäckigkeit, die der Elf einen weiteren Sieg einbrachte. In einem äußerst spannenden Match reihten die Kameruner die Chancen aneinander, der Schiedsrichter Nieto hingegen Verwarnungen. Die Deutschen müssen sicherlich mehr zeigen, wenn sie auf diesem Turnier eine glänzendere Spur hinterlassen wollen.“
Die Irish Times kommentiert den deutschen Sieg ähnlich unspektakulär, wie es das Spiel selbst war: „Ein sauberer Abschluss von Marco Bode und ein unausweichlicher Kopfball von Miroslav Klose ermöglichten Deutschland ein 2:0 über Kamerun, das den dreimaligen Weltmeister in die zweite Runde des World Cup bringt.“ Da das Match auf einem solch hitzigen Niveau stattfand, hatte sicherlich nichts mit den schlechten Platzverhältnissen zu tun.“Aber Deutschland hatte auch sehr gute Momente. Klose zeigte sich als Vorbereiter, als er einen punktgenauen Pass auf Bode spielte, der seit der Halbzeit für den schlechten Carsten Jancker spielte und dieser den Ball flach an Torwart Boukar Alioum ins lange Eck schob.“
Guerric Poncet (Le Monde) über die Schiedsrichterleistung. „Der Schiedsrichter Lopez Nieto hat eine sehr gute Leistung gezeigt. Es ist ihm gelungen, seine Autorität unter äußerst schweren Umständen zu wahren.“
Zur Leistung des Schiedsrichters des bis dato kartenreichsten WM-Spiel urteilt die senegalesische Tageszeitung Le soleil. „Der Schiedsrichter, der schneller verwarnt als sein Schatten.“
Das Ausscheiden Frankreichs bewegt die Gemüter der Italiener ungleich mehr als der Sieg Deutschlands über Kamerun, der angesichts der alles andere als klammheimlichen Freude über den Misserfolg der „Coq de France“ weit auf die hinteren Sportseiten der Tageszeitungen rückt. „Mit den Torbrüdern Ballack und Klose fliegt Deutschland ins Achtelfinale“ heißt es im Corriere della Sera und: „Klose und Ballack spielen zwar nicht im selben Verein, sie haben aber eine Eigenschaft, die sie miteinander verbindet und vom Rest der Mannschaft unterscheidet: Sie verfügen über Fußballbewusstsein und Intelligenz, die sie in den Dienst des Kollektivs stellen.“ Unter der Überschrift „Deutschland unerbittlich – vorwärts mit Bode und Klose“ heißt es in La Repubblica: „Es ist immer eine Frage des Kopfes. Entweder man hat einen oder man hat keinen. Miroslav Klose zum Beispiel hat einen, und er hat mit ihm fünf der Tore geschossen, die aus ihm den Torschützenkönig der WM machen. (…) Kamerun dagegen hat schnelle Beine, kräftige Körper und bewegliche Füße, aber keinen Kopf.“ Ein paar Absätze später präzisiert der Korrespondent: „Um die Wahrheit zu sagen, Klose benutzt den Kopf nicht nur als Hammer: der Beweis dafür sind zwei erstklassige Torvorlagen für Ballack und Bode.“ Ansonsten spiele Deutschland wieder sehr deutsch: „solide, tetragonal, weise. Nicht brillant.“
„Vor diesen Kamerunern muss sich die deutsche Fußball-Nationalelf nicht fürchten“, schreibt Peter Heß (FAZ 7.6.) nach dem deren dürftigem 1:0-Sieg gegen Saudi-Arabien. „In einem Boxkampf hätten sich die beiden Mannschaften nie gegenübergestanden – unterschiedliche Gewichtsklassen. Ihre überlegene Physis verführte die Kameruner zu Einzelaktionen und zu Lässigkeiten. Die Stürmer waren oft zu träge, sich aus dem Abseits zu bewegen, die Verteidiger rückten im Schleichtempo aus dem eigenen Strafraum, wenn der Ball abgewehrt war. Trainer Schäfer lebte dagegen am Spielfeldrand Einsatzbereitschaft vor. Sein Kopf glühte vor Anstrengung und Anteilnahme.“
Ob kamerunischer Stärken ist auch Martin Hägele (SZ 7.6.) äußerst skeptisch. „Interessant wird sein, was die Begegnung für Schäfer bringt, den Mann, der sich auf dem Umweg über den schwarzen Kontinent in seiner Heimat wieder ins Gespräch gebracht hat. Möglicherweise verliert er am Dienstag seinen Zauber. Denn von Ordnung und einer klaren Struktur, wie sie für gehobene internationale Ansprüche unabdingbar ist, ließ sich im Spiel von Afrikas Champions gegen Saudi-Arabien wenig erkennen.“
Über die gelungene Rehabilitation der Saudis urteilt Peter B. Birrer (NZZ 7.6.). „Diese Entzauberung, dieses auf seine Weise denkwürdige 0:8 gegen Deutschland im Sapporo- Dom muss eine Majestätsbeleidigung sondergleichen gewesen sein. Die Fußballer des 18-Millionen-Wüstenstaats Saudi-Arabien entschuldigten sich auch Tage danach noch nach allen Regeln der Kunst, vor den Offiziellen, vor den Anhängern, vor dem ganzen Staat und nicht zuletzt vor Allah. Gut zu wissen, dass das Trauma der unzähligen Gegentore im zweiten Spiel gegen Kamerun nicht seinen Fortgang nahm. Der Match endete zwar 0:1, aber jeder, jede und selbst der Fußball-Allmächtige haben gesehen, dass die Saudi im Spiel mit dem Ball auf der Weltbühne nicht so schlecht sind, wie dies gemeinhin kommentiert und belächelt worden ist. Die Abwehr ähnelte keinem Haufen wirrer Hühner mehr, der Gegner aus Kamerun hatte nur einen Torschuss – und dass die Spieler kein Tor erzielten, war nur dem fehlenden Glück zuzuschreiben.“
Frank Ketterer (taz 6.6.) über die veränderte Spielweise der deutschen Elf beim 1:1 gegen Irland. „Wo sie gegen die Saudis noch torhungrig nachgesetzt und den Gegner einfach an die Wand gespielt hatte, versuchte sie sich nun in Pragmatismus. Zur gepflegten Ergebniskontrolle aber, das machte dieser Mittwochabend deutlich, fehlt dieser Mannschaft die spielerische Souveränität. Und so schalteten die Deutschen nicht nur einen Gang zurück, sondern drosselten den Motor ihres Spiels so sehr, dass er zu stottern anfing und gegen Ende tatsächlich noch abwürgte (…) Die deutsche Defensive um Abwehrchef Carsten Ramelow, das war die vielleicht ernüchterndste Erkenntnis dieses Abends in Kashima, ist, das hatte man schon vermutet, alles andere als eine Festung; vor allem Thomas Linke auf der rechten Abwehrseite entwickelte sich immer mehr zum Krisenherd. Da es sich bei der irischen Offensivabteilung kaum um wirkliche Klassestürmer im eigentlichen Sinne handelte, dürfte Völler durchaus den ein oder anderen Kopfschmerz davongetragen haben.“
Martin Hägele (NZZ 6.6.) zum selben Thema. „Ein Punkt muss halt noch her, aber auch diese Rechenübungen kennt man aus der jüngeren Vergangenheit dieser deutschen Nationalelf. Hat sie nicht gerade unter solchen Vorzeichen versagt, wenn es darum ging, nur ein einziges Törchen vorzulegen oder den einen wichtigen Punkt festzuhalten, wie das in den Qualifikationsspielen mit Finnland und England der Fall gewesen war? Die Frage nach dem Charakter der Mannschaft und auch nach deren Klasse wird nun wieder einmal gestellt. Viele Kritiker fühlen sich jedenfalls bestätigt, dass das Schützenfest beim 8:0 gegen Saudi-Arabien nicht mehr als ein Muster ohne Wert war. Sobald sich die Deutschen in der Favoritenrolle befinden und ein Spiel selbst bestimmen müssen, geraten sie schnell auf gefährliches Terrain (…) Das deutsche Drama ist noch nicht perfekt. Allerdings können die Deutschen jetzt ihre Nachbarn und Fußballfreunde aus Holland besser verstehen, die wegen ebendieser Iren den sportlichen Notstand ausrufen mussten.“
Über die neue WM-Realität schreibt Jan Christian Müller (FR 6.6.). „Auf dem Platz zeigte sich dann aber ganz schnell, dass der „Irländer“ (O-Ton Rudi Völler) sich weniger genügsam verhält als der Saudi. Allein in den ersten fünf Minuten verloren die Deutschen mehr Zweikämpfe als im ersten Spiel während der gesamten ersten Halbzeit. Es schien, als sei die DFB-Elf überrascht, wie offensiv die unerschrockenen Iren sich ihr entgegenstellten. Völler hatte jedenfalls einen destruktiveren Gegner erwartet.“
Ludger Schulze (SZ 6.6.) entdeckt psychologische Vorteile. „Raketenartig war das anfangs eher unterschätzte DFB-Team von einigen Experten, Medien und Fans wieder zurück in den Orbit der Favoriten geschossen worden – zum Missfallen Völlers. Das hat sich glücklicherweise erledigt. Denn die Bürde des Favoriten wiegt wie ein Rucksack auf dem Buckel. Jedenfalls zu schwer für eine bei allen guten Ansätzen doch limitierte Mannschaft.“
Philipp Selldorf (SZ 6.6.) lässt seiner Spielanalyse einen Ratschlag folgen. „stand die Partie unter dem Bann der frühen Führung. Sie hatte keine Längen, aber bei mäßigem Tempo wenige Höhepunkte. Den Deutschen stand nicht mehr der Sinn nach Spaßfußball wie zuletztgegen die Spielkameraden aus Österreich oder vom arabischen Golf. Sie ließen die Iren kommen, zogen sich oft tief in ihre Hälfte zurück. Auf Konter zu spekulieren, lag vielleicht in der Logik der ersten Möglichkeit – mutig war es nicht. Und es war riskant (…) Die Deutschen sollten nun alles tun, nur eines nicht: ein ungnädiges Schicksal beklagen, das ihnen in der zweiten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich durch den jungen Angreifer Keane bescherte. Den Sieg hatten sie selbst in der Hand, doch sie ließen sich im Vertrauen auf ihren überragenden Torwart Kahn so weit nach hinten treiben, dass sie der Willkür des Spiels ausgeliefert blieben.“
Mit der Frage nach den Folgen der bisherigen Ereignisse beschäftigt sich auch Michael Horeni (FAZ 6.6.). „Abgesehen von der sportlichen Dramatik befindet sich die deutsche Elf in einer Lage, die vor fünf Tagen noch als normal empfunden worden wäre. Ein Sieg gegen die Araber, ein Unentschieden gegen die Iren – diese Ergebnisse spiegeln ziemlich exakt die Leistungsstärke der deutschen Auswahl der vergangenen Monaten wieder. Doch durch die beiden unerwarteten Ereignisse – acht Tore gegen Saudi-Arabien, der Rückschlag gegen Irland – spielt auf einmal die Psychologie eine tragende Rolle. Ob sich die Leverkusener Krankheit, große Ziele kurz vor Schluss nach imponierenden Leistungen doch noch zu verspielen, auf die Nationalelf überträgt, lautet nun die entscheidende Frage vor dem Duell gegen die angeblich unbezähmbaren Löwen von Winfried Schäfer.“
Andreas Lorenz (Die Welt 6.6.) rät ebenfalls zu Gelassenheit. „Dabei ist doch nach wie vor alles so, wie es war. Die Nationalelf schießt kleine Gegner ab. Die deutsche Abwehr ist in jeder Sekunde des Spiels für ein Gegentor gut. Deutschland hat gute Feldspieler, aber keinen wirklich überragenden Antreiber. Oliver Kahn pariert regelmäßig Unmögliche, kann aber unmöglich alles parieren.“
Die „Entdeckung Amerikas“ (Corriere della Sera) verdrängt Deutschland aus den Schlagzeilen der italienische Tageszeitungen. Auch La Repubblica eröffnet ihren Sportteil mit den „Bush-Boys“ und setzt die Kommentare zum Spiel Deutschland gegen Irland auf S. 7 des Sportteils. Irland habe „mit Herz und Hartnäckigkeit“ gespielt, titelt sie, während Deutschland sich auf seinen acht Toren gegen Saudi Arabien ausgeruht habe. „Deutschland war von der italienischen Krankheit befallen, ohne allerdings italienische Medikamente zur Verfügung zu haben: Es wurde auf den Vorsprung und die Qualifikation spekuliert. Deutschland hat elegantes Angriffsspiel versprochen und faule Beine und Köpfe geliefert.“ Ähnlich der Tenor im Corriere della Sera. Unter der Überschrift „Eine Minute vor Spielende beginnt Deutschland zu pausieren“ heißt es: „Die irische Mannschaft spielt mit einer Leidenschaft, die umgekehrt proportional ist zu ihren eigentlichen offensiven Fähigkeiten. Die Deutschen, deren lahme Abwehr die Rückkehr Rehmers dringend nötig hätte, praktizieren außer Ballack ihren üblichen zusammenhanglosen, kraftstrotzenden Fußball von geringer Qualität und mit monotoner Steuerung.“
„Der irische Gegner, sehr ernsthaft agierend“, schreibt die französische Zeitung Libération (6.6.), „hat im deutschen Team einen gewissen Mangel an Realismus und Inspiration offen gelegt. Als problematisch entpuppt sich das Fehlen eines Leaders im Spiel der Deutschen insofern, als dass es einer Mannschaft sehr selten gelungen ist ohne Leitfigur, weit in die Finalspiele vorzudringen.Die Iren haben ihr hervorragendes Auftreten in der WM-Qualifikation bestätigt bei der sie die Niederlande scheitern ließen, um in einem Ausscheidungsspiel den Iran zu eliminieren. Die Iren entwickelten gegen Deutschland eine teambezogene, technikbetonte Spielweise und schienen den Rauswurf ihres charismatischen Teamleaders Roy Keane überwunden zu haben, der seinen Coach Mick McCarthy als „english cunt“ [neben der Beleidigung des irischen Nationalen als Engländer, bezeichnet letzteres in der angelsächsischen Vulgärsprache das weibliche Geschlechtsorgan] tituliert hatte. Gleichwohl wird der nächste Gegner Irlands – Saudi-Arabien – nicht ebenso schwach sein wie gegen Deutschland. Die Qualitäten, die die Saudis in ihren WM-Vorbereitungsspielen gezeigt haben, können sich gegen die deutschen Eisenschädel nicht auf einmal völlig verflüchtigt haben. “
Die französische Tageszeitung Le Monde (6.6.) zum Deutschland-Spiel. „Das mutige Irland hält Deutschland in Schach. Nach dem überwältigenden Sieg gegen das äußerst schwache Saudi-Arabien, musste sich Deutschland nun mit einem wirklichen Konkurrenten messen, der ein starkes Remis gegen Kamerun erreicht hatte. Der junge deutsche Angreifer Miroslav Klose machte, nach seinem Versuch einen Elfmeter zu schinden, diesmal mit einem schönen Kopfball den entscheidenden Schritt nach einer millimetergenauen Flanke von Michael Ballack. Die Deutschen überließen von nun an den Iren die Initiative, die gegen die Defensive der „Mannschaft“ immer wieder auf Granit beißen. In der letzten Viertelstunde, sammelten die Iren ihre letzten Kräfte, um ein Unentschieden zu erreichen, das ihnen alle Möglichkeiten für den Achtelfinaleinzug gewahrt hätte. Aber die deutsche Abwehr schien unnachgiebig zu sein. Letztlich profitierte Robbie Keane vom ersten Fehler der Defensive, um Oliver Kahn in der verbliebenen Minute der Nachspielzeit zu überwinden. Die Deutschen, die während des Spiels zu defensiv agierten, hielten bis zuletzt ihre Fahrkarte für das Achtelfinale in Händen. Sie müssen nun ein schweres Spiel gegen Kamerun bestreiten, um dieses Ziel zu realisieren.“
Die englische Boulevardzeitung Sun (6.6.) wollte in ihrem Artikel mit Häme nicht zurückstecken: „Die Deutschen hatten Spieler des ehemaligen Europa-Cup-Siegers Bayern München, des amtierenden Deutschen Meisters Borussia Dortmund und des Europacup-Finalisten Bayer Leverkusen in ihren Reihen. Und nun betrachte man sich einige der irischen Spieler. Verteidiger Gary Breen hat gar keinen Verein, Gary Kelly und Robbie Keane dürfen sich nicht Stammspieler nennen, und Kevin Kilbane wird von seinen eigenen Fans in Sunderland ausgebuht. Die Iren hielten gegen die Deutschen nicht nur dagegen, sie waren sogar besser.“
Ronald Reng (FR 6.6.) über den Gegner. „Wenn sich viele, etwa die deutschen Spieler, irritiert fragen, was um Himmelswillen diese irische Elf so Spezielles hat, finden sie eine einfache Antwort: Nicht viel hat diese Elf. Aber sie macht alles aus diesem Wenigen. Sie sind Steher. Spieler, die sich weigern, aufzugeben. Das Tor in letzter Minute war glücklich, und wenn das Spiel verloren gegangen wäre, hätte man auch ganz andere Sachen über Spieler wie den ziemlich überforderten Linksverteidiger Ian Harte oder den ideenlosen Mittelfeldmotor Mark Kinsella sagen können. Aber das Tor in letzter Minute war auch verdient; es entsprang nicht dem Glück der Tüchtigen. Es war das Glück der Berserker.“
Der Guardian (6.6.) rechnet wieder mit den Iren. „Die Iren schienen schon geschlagen, als die Deutschen, wenigstens in den Köpfen, sich schon in der zweiten Runde wähnten. Nun kann ganz Irland, mit großer Erleichterung und wachsender Anteilnahme wieder nach vorne blicken.
Ronald Reng (FR 6.6.) über das Image eines Fußballstars. „Beckham verweigert sich den Normen der Macho-Welt Profifußball, trinkt nicht, geht nicht in die Disco und findet es „großartig, dass ich eine Schwulen-Ikone bin, weil es schön ist, geliebt zu werden, egal ob von Männern oder Frauen“. Zu solchen Aussagen braucht es Courage. Er hat genug Selbstironie, den Spott zu ertragen. Neulich wurden in einer Fernsehsendung Beckham-Witze erzählt, die auf seine vermeintliche Dummheit zielten. Es war Beckham, der sie erzählte.“
Peter Heß (FAZ 3.6.) über den Aussagewert eines Ergebnisses aus „der Urzeit des Fußballs“. „Spätestens seit Kamerun 1990 Weltmeister Argentinien im Eröffnungsspiel der WM in Italien 1:0 besiegte, gilt das Motto: Es gibt keine Schwächlinge mehr im Weltfußball. Seitdem bestätigen afrikanische und asiatische Mannschaften regelmäßig diese These. Früchte der Globalisierung, die auch vor dem Fußball nicht halt macht. Europäische und südamerikanische Trainer haben so gute Entwicklungsarbeit geleistet, dass die Besten aus den exotischen Ländern längst in die besten Ligen importiert werden. Spieler aus Saudi-Arabien haben zwar noch nicht den Weg nach Europa gefunden, dennoch zählt ihre Nationalmannschaft nicht zur belächelten Landkundschaft. Seit 1988 erreichten die Saudis stets das Finale der Asienmeisterschaft gegen Konkurrenz wie Iran, Japan und Korea.“
Philipp Selldorf (SZ 3.6.) sieht sich nicht dazu in der Lage, die Aussagekraft des deutschen Siegs einzuschätzen. „Von den Trainern hören wir ständig, es gäbe in der zivilisierten Fußballwelt keine leichten Gegner mehr – Monsieur Lemerre wirds bestätigen –, aber die Nationalspieler des DFB machen sich mittlerweile einen Spaß daraus, das Gegenteil zu demonstrieren. Und während man sich früher immer darüber ärgerte, wie sich die Deutschen gegen zweitklassige Widersacher mit Freistoßtreffern in der 89. Minute zum knappen Sieg quälten, so wird es einem heute fast peinlich zu sehen, wie sie hemmungslos Gegner deklassieren, die sie längst bezwungen haben. Ein 8:0 zum Einstand der WM, das ist zu schön, um wahr zu sein. Oder auch: Dieses monströse Resultat ist so irreal, dass man versucht ist, dessen Ernsthaftigkeit in Frage zu stellen.“
Die entscheidenden deutschen Stilmittel referiert Ludger Schulze (SZ 3.6.). „Wie Verteidiger Thomas Linke nach wenigen Sekunden mit einem Tackling das Signal zum Aufbruch gab; wie der zuletzt geschmähte Carsten Jancker als Abrissbirne die saudische Abwehr rammte, bis sie nach 20 Minuten in einem Meer von Staub versank; wie Dietmar Hamann (Völler: „Was die Zahl der Ballkontakte betrifft, hat er wahrscheinlich alle Rekorde gebrochen“) als zentraler Spieler vor der Abwehr den Gegnern die Bälle mit größter Beiläufigkeit wegnahm und sie im selben Augenblick in kreative Aufbauaktionen umsetzte; wie Michael Ballack und Bernd Schneider die Kugel mit einer Noblesse vorlegten wie der Oberkellner im Grandhotel die Seezunge; und wie sich Miroslav Klose läuferisch, technisch und von seiner Sprungkraft her an die stärksten internationalen Stürmer heranpirscht.“
Uwe Marx (FAS 2.6.) sieht in dem gestrigen Auftritt der Deutschen Anlass zu Hoffnung. „Zwei gute Nachrichten vorneweg. Die erste: Deutschland kann Fußball spielen. Die zweite: Saudi-Arabien auch. Das sah (…) zwar nicht so aus, dürfte aber als gesichert gelten (…) Den kleingewachsenen Saudis, speziell jenen, die gegen den deutschen Hünen Jancker verteidigen mussten, mochte man zwischen durch zurufen: Der beißt nicht! Die körperliche Überlegenheit der deutschen Mannschaft war gewaltig; ansonsten wären fünf Kopfballtore nicht möglich gewesen. Und doch garantiert sie allein nichts – wie mancher gestrauchelte Fußball-Goliath weiß (Deutschland zum Beispiel). Eine WM-Partie so aussehen zu lassen, als ob Erwachsene gegen A-Jugendliche spielten, ist keine Selbstverständlichkeit.“
Die NZZ (2.6.) über das Remis zwischen Kamerun und Irland. „5675 Kilometer Luftlinie trennen die irische Hauptstadt Dublin von der Kapitale Kameruns Yaoundé – noch mehr Distanz liegt allerdings zwischen den Fußballkulturen, welche die beiden nationalen Auswahlen repräsentieren: Wenngleich sich die die Grenzen zunehmend verwischen, die zu Stereotypen stilisierte Ausrichtung der Spielsysteme blieb gleichwohl jederzeit erkennbar. Hier der technisch versierte, leichtfüßige Gewinner des diesjährigen Afrika-Cups, dort der hemdsärmlige, von Leidenschaft getriebene Kraftakt der Iren.“
Die Irish Times (1.6.) wertet das Unentschieden gegen Kamerun als Erfolg: „Irlands Weltmeisterschaftsfeldzug begann heute beherzt, als sie nach einem Rückstand noch ein 1:1-Unentschieden gegen Kamerun erreichten. Die Männer von Mick McCarthy erfuhren in der Kabine anscheinend eine Metamorphose. Als sie zur zweiten Halbzeit mit Steve Finnan anstatt mit Jason McAteer aufliefen, erhöhten sie das Tempo und drücken vermehrt nach vorne. Als der japanische Unparteiische abpfiff, war es der amtierende Afrikameister und Olympiasieger, der erleichterter dreinschaute.“
Das 1:1-Remis gegen Kamerun hatte für die Iren eine ganz besondere Bedeutung. Ronald Reng (FR 3.6.) dazu. „Dass acht Tage vor WM-Beginn Irlands einziger Weltklassespieler Roy Keane nach seinen Ausfällen gegen Trainer Mick McCarthy nach Hause geschickt wurde, schien das selbstbereitete Ende einer hoffnungsvollen Mannschaft, noch bevor das WM-Turnier begann. Seit Samstag aber gibt es ein Leben nach Roy Keane. Das 1:1 gegen das hoch geschätzte Kamerun in Irlands Auftaktspiel war kein Unentschieden. Es war ein großer Sieg für eine liebenswerte Mannschaft, die unverschuldet ihre Vorbereitung auf die WM von der Aufregung um Keane zerstört sah (…) Andere Teams haben Weltklasse-Verteidiger, klasse Freistoßtricks oder eine raffinierte Abseitsfalle; Irland hat nur dieses Gefühl: den Irish Spirit. Er verwandelte schon 1990 und 1994, als sie erstmals bei einer WM dabei waren, einen Haufen ordentlicher Fußballer in ein außergewöhnliches Team (…) Vielleicht werden sie am Ende der Vorrunde reuevoll daran zurückdenken, dass sie Kamerun davonkommen ließen. Aber so wie die Iren sind, ist das unwahrscheinlich. Gut gespielt zu haben, ist in der Fußballkultur der angelsächsischen Länder noch immer etwas, worauf man unabhängig vom Resultat stolz ist.“
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VfB Stuttgart – 1. FC Nürnberg 0:2
Martin Hägele (SZ 25.3.) erläutert die Ursachen des verhinderten Stuttgarter Höhenflugs. „Die Schuld am Unfall an der Mercedesstraße 87, wie das Gottlieb-Daimler-Stadion postalisch benannt ist, war schnell geklärt. Die Fahrschüler zeigten Konzentrationsmängel und Übereifer, und weil sich dazu noch Lampenfieber und Examensangst gesellten, war der Blechschaden vorhersehbar. Felix Magath, den Lehrer des Hochbegabten-Kurses, hatte schon zuvor die Befürchtung beschlichen, dass es für einige zu viel wäre, wenn sie – unter den Augen des höchsten Prüfers der Nation – all ihre Fähigkeiten entfalten müssten. Es muss an DFB-Teamchef Rudi Völler gelegen haben, dass die Nationalmannschaftskandidaten Kevin Kuranyi und Andreas Hinkel, aber auch all die anderen hoffnungsvollen Spieler des VfB Stuttgart gegen den 1. FC Nürnberg so hibbelig agierten wie noch nie in dieser Runde. Es lag aber auch an den gewaltigen Ambitionen, welche die Region dem neuen Musterunternehmen aufgehalst hatte: Die jungen Wilden sollten Meister Borussia Dortmund in der Bundesliga-Tabelle überholen, weil Rang zwei am Ende nicht nur die direkte Qualifikation zur Champions League bedeutet, sondern automatisch sehr viel Geld. Mit diesen Einnahmen könnten die Chefs vom Cannstatter Roten Haus die 16,5 Millionen Euro Schulden tilgen; sie könnten die Fußball-Abteilung aus dem Verein ausgliedern und zum Unternehmen umfunktionieren; sie könnten Kuranyi, Hinkel und die anderen Aufsteiger mit entsprechenden Verträgen ausstatten; sie könnten Geld ausgeben für Verstärkungen, statt immer nur zu sparen; sie könnten an einer großen Zukunft bauen; sie könnten, könnten, könnten… Doch sie konnten, mit solchen Tagträumen im Kopf, nicht umschalten auf den Alltag und die Aufgabe, den Widerstand der Nürnberger zu brechen (…) Warum eine Mannschaft plötzlich ein ganz anderes Gesicht zeigt, ist beim 1.FC Nürnberg keine Frage eines psychologischen Reifeprozesses hin zum erwachsenen Profi. Es war mehr eine Sache der persönlichen Ehre und allgemeiner Berufsmoral, die Klaus Augenthaler noch einmal aus einem schon abgeschriebenen Bundesliga-Team herauskitzelte.“
Thomas Klemm (FAZ 25.3.) gratuliert den siegreichen Gästen. „Das Ende vor Augen, starteten die Nürnberger in Stuttgart einen Neuanfang. Mit engagiertem Auftreten und Komplimenten für die mitgereisten Anhänger warben die Franken um Vertrauen, ließen sich gegen den Tabellendritten nicht mal beirren, als der Aufschwung in Stuttgart ins Stocken geriet. Nur zwei Minuten, nachdem Kai Michalke einen Foulelfmeter verschossen hatte, erzielte Jarolim in der 28. Minute den Führungstreffer; nach einem halbherzigen Abwehrversuch des Innenverteidigers Fernando Meira, der eine noch laxere Einstellung als die meisten seiner Mitspieler an den Tag legte und zur Halbzeit ausgewechselt wurde. Anscheinend haben einige gedacht, daß es auch ohne hundertprozentigen Einsatz geht, haderte Felix Magath. Nun hofft der VfB-Trainer, daß die Mannschaft lerne, daß es in der Bundesliga auch um Einsatz und Kampfbereitschaft geht. Die Aussicht, mit einem Sieg Borussia Dortmund vom zweiten Tabellenplatz zu verdrängen und damit der Blick auf eine direkte Qualifikation für die Champions League schien die Schwaben zu lähmen. Mit viel Aufwand erspielten sie sich Torchancen in Serie, die sie aber nicht zu nutzen verstanden. Vor allem Kevin Kuranyi, von Rudi Völler für das Europameisterschaftsqualifikationsspiel am Samstag gegen Litauen nominiert, gehörte zu den im Abschluß Gescheiterten. Der DFB-Teamchef urteilte aber gewohnt nachsichtig, daß der Jungstürmer sich gut bewegt habe, aber nicht so gut wie sonst ins Spiel gekommen sei. Sein Trainerkollege Magath indes sah seine Befürchtungen bestätigt, daß Kuranyis erstmalige Berufung eine Belastung für ihn darstelle.“
Hertha Berlin – Energie Cottbus 3:1
Frank Ketterer (taz 25.3.) fragt sich, ob er den vorzeitigen Abschied von Energie Cottbus erlebt hat. „Es war exakt die 85. Minute, und drüben, in der großen Kurve, war es auf einmal doch beängstigend ruhig geworden, still beinahe. Ausgerechnet Alex Alves, das Schweinchen Dick vom Zuckerhut, hatte zum zweiten Mal und somit zur Führung ins Tor getroffen für die Berliner Hertha, und genau in diesem Moment muss den Menschen aus Cottbus dort drüben in der Kurve aller Mut und alle Hoffnung entfahren sein. Keinen Muckser gaben sie mehr von sich, nur noch eine große, traurige Stille, bestimmt eine Minute, eine traurige Schweigeminute lang. Dann lief Michael Preetz in den Fünfmeterraum und schob eine Hereingabe auch noch zum dritten Treffer für die Berliner ins Netz. Und erst mit ihm kam wieder ein wenig Leben zurück in die zu Salzsäulen erstarrten Körper: Nun hoben sie alle ihre Schals in die Höhe und wiegten sie langsam hin und her. Es sah immer noch traurig aus – aber auch ein wenig trotzig und stolz. Und dazu zuckten vereinzelt kleine Blitzchen aus kleinen Fotoaparaten, und aus der Ferne sah es so aus, als ob da jetzt ein paar traurig-stolze Cottbuser ein paar traurige Abschiedsfotos schießen. Abschiedsfotos von der Bundesliga. Auf sechs Punkte ist der Abstand nun wieder angewachsen zu jenem Platz, der am Ende den Klassenverbleib sichern würde. Das ist, wenn auch nicht unmöglich, so doch eine ganze Menge, zumal bei nur noch acht ausstehenden Partien. Herr Geyer, wars das?, wurde Eduard Geyer, der Trainer, deshalb später gefragt. Ja. Das sieht nicht gut aus, hat Herr Geyer da geantwortet, mit ganz ruhiger Stimme; und dass er bei der Frage nicht ein wenig aufgebraust ist, wie es schon mal seine Art sein kann, wenn ihm etwas nicht passt, hat die Angelegenheit nur noch trauriger gemacht – und hoffnungsloser.“
Mathias Wolf (FAS 23.3.) porträtiert den Berliner Spielführer. „Preetz hatte bei Hertha immer eine entscheidende Rolle inne. Im Prinzip schon, bevor er für die Berliner gespielt hat. Erinnert sei an jenen 8. Juni 1996, als er noch für Wattenscheid 09 stürmte und in der 88. Minute der Partie gegen Hertha eine große Chance vergab. Es blieb beim 0:0. Andernfalls wäre Hertha in der Drittklassigkeit gelandet. Der Verein hat ihn sechs Wochen später verpflichtet. Schnäppchen Preetz (125 000 Euro Ablösesumme) wurde zum Sinnbild für den Aufstieg des Klubs. Er hat Hertha nicht nur in die Bundesliga geschossen, sondern auch in den Uefa-Pokal und in die Champions League. Mit 23 Treffern wurde er 1999 Torschützenkönig. Nebenbei hat er dreimal, in letzter Minute, wichtige Treffer erzielt, mit denen er den Job des früheren Trainers Jürgen Röber rettete. Zu ihm ist in sechs gemeinsamen Jahren eine Freundschaft entstanden. Als Röber in Wolfsburg anheuerte, verschickte Preetz sofort eine Glückwunsch-SMS. Er war der entscheidende Mann in meiner Karriere, sagt Preetz, dem in seiner wenig ertragreichen Bundesligazeit bei Fortuna Düsseldorf und beim MSV Duisburg (bis 1994, insgesamt nur sieben Treffer) viele die Erstklassigkeit absprachen. Mit seinen 192 Zentimetern verspottete ihn mancher Kritiker als unbewegliche Giraffe. Doch in Berlin bewies der gebürtige Düsseldorfer, vor allem per Kopf, oft das Gegenteil. 1998, als er ein Tor mit der Hacke erzielte, nannten ihn die Kollegen sogar eine zeitlang Pretzinho. Auch die Statistik spricht für den Rheinland-Brasilianer. In diesen Tagen schickt sich Preetz an, den Berliner Uralt-Rekord von Erich Beer zu knacken. 83 Tore gelangen dem in 253 Bundesliga-Einsätzen für die Hertha. Kürzlich schüttelte das Hertha-Idol aus den Siebzigern Preetz die Hand und sagte feierlich: Michael, Dir würde ich es gönnen. Nun wollen alle Reporter vor dem Spiel gegen Energie Cottbus an diesem Sonntag nur das eine hören, doch Preetz sagt kühl: Der Rekord wäre eine schöne Sache, hat aber keine Priorität. Typisch Preetz. Der Kapitän ist immer im Dienst. Nur allzu gerne hätte Trainer Huub Stevens ihn noch zum Weitermachen überredet – und sei es nur in Stand-by-Funktion. Doch in dieser Zwitterrolle, hat Preetz erkannt, werde er sich nicht wohl fühlen. Es ist Zeit für einen Schnitt im Leben des Tausendsassas der Liga. Seinen Posten als Vizepräsident der Spielergewerkschaft wird er zwar im Juni abgeben (Ich sehe mich als Vertreter der Spieler – das verträgt sich dann nicht mehr mit dem neuen Job), aber er bleibt Botschafter für die WM 2006. Im Team von Hertha werden sie den Vielbeschäftigten vor allem in einer Funktion vermissen: als Beichtvater. Unlängst wurde das einmal mehr deutlich, als Marcelinho im feuchtfröhlichen Karnevalssumpf zu versinken drohte. Preetz nahm sich seiner an in vielen Gesprächen und half.“
Portrait Alex Alves (Hertha Berlin) BLZ
Verflixter Frühling in Bremen
Martin Hägele (NZZ 25.3.) skizziert die schwierige Lage in Bremen. „Es sind nur noch traurige Geschichten, die aus Bremen kommen, jetzt im Frühling. Ganz anders als im Herbst, als der Fussball im Weserstadion blühte. Werder sonnte sich im spielerischen Glanz von Johan Micoud, der Weser- Zidane sei nicht viel schlechter als der Regisseur von Real Madrid und Equipe tricolore, den Landsmann Micoud im Team des Europameisters ja auch ein paar Mal vertreten hat. Goalgetter Ailton traf mit der Präzision eines Bogenschützen, die Zeitungen nannten den Brasilianer „Agent 007“, und alle im grün-weissen Team avancierten zu „Bayern-Jägern“. Nachdem diese in der Vorrunde ihren Lieblingsfeind aus München geschlagen hatten, geriet sogar die Geschichtsschreibung in der Hansestadt durcheinander: Esel, Hund, Katz, Hase (ich behaupte steif und fest: es nadelt sich nicht um einen Hasen, sondern um einen Hahn, of) – und Werder, so hiess es, der Klub hatte sich den Platz auf dem Denkmal mit den berühmten Stadtmusikanten erspielt. Nun aber sind die Bremer nicht mehr stolz auf die Musik und alles andere, was sie sonst noch aus dem Weserstadion vernehmen. Der sensible Micoud entpuppt sich als Rüpel, er fliegt immer wieder mal vom Platz, stänkert gegen Trainer Schaaf, einem Reporter von „Bild“ hat er eine Ohrfeige verpasst. Auch wenn Ailton ab und zu ein Tor schiesst, hält dies den Brasilianer zwar an der Spitze der Scorerliste, in der einzig wahren Bundesliga-Tabelle aber stürzt Werder trotzdem immer weiter ins Niemandsland. Nach sieben Niederlagen aus den letzten neun Partien muss die zweitbeste Mannschaft der ersten Halbserie um die Qualifikation für den UI-Cup bangen. Man spricht ganz offen von Krise. Nur weiss niemand, an welchen Punkten man diese Krise genau festmachen kann. Warum wackeln auf einmal alle Figuren, die über den Winter noch als Fixpunkte des Klubs dagestanden hatten? Und wenn dann der Vorstandsvorsitzende Born den in die Kritik geratenen Manager Allofs und Trainer Schaaf öffentlich Beistand leistet („Thomas und Klaus gehören zu uns wie Schwein und Schwanz“), lacht man im Rest der Republik über solch ein Bonmot. – Es ist eben alles anders als in Werders grosser Epoche, solange sich dieser Klub als Familienidyll darstellen konnte und alles so gemacht wurde, wie es das Ehepaar Rehhagel und dessen Vorstands-Freunde im stillen Kämmerlein bestimmt hatten. Heute machen Leute Politik und Stimmung in der Werder-Welt, die dort früher nichts oder nur wenig zu sagen hatten. Schöner Herbst, verflixter Frühling.“
„Der KSC arbeitet am Lizenzantrag – für die Regionalliga“SZ
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DFB-Auswahl in Schottland
Anlässlich des bevorstehenden EM-Qualifikationsspiels der DFB-Auswahl in Schottland widmet die deutsche Fußballöffentlichkeit viel Aufmerksamkeit dem schottischen Trainer Vogts sowie dem schwierigen Verhältnis, das sie über acht lange Jahre hinweg (1990-98) zu ihrem damaligen Nationaltrainer entwickelte. Ob in Interviews, Kommentaren oder Portraits: Nach wie vor erscheint Berti uns Zeitungslesern klein und bissig. Auch fast fünf Jahre nach seinem Abschied aus dem höchsten Amt Fußballdeutschlands redet er mit Journalisten (nun auch mit schottischen) jederzeit aus der defensiven Haltung eines „Kläffers“ heraus. Ernst genommen wird er nicht, obwohl kein anderer Nationaltrainer hierzulande eine derart gute Bilanz aufweist wie Vogts – weder vor noch nach ihm.
Selbst Lob an seine Adresse wirkt angestrengt, Komplimente oft vergiftet. Der Berliner Tagesspiegel hat in seiner heutigen Ausgabe zehn prominente Fürsprecher des Ex-Nationaltrainers ausfindig gemacht, darunter die ehemaligen Mitstreiter Günter Netzer und Jupp Heynckes, Spieler wie Fredi Bobic und Dieter Eilts, die unter Vogts Europameister wurden und nicht zuletzt Ottmar Hitzfeld. Der Grundtenor überrascht. Dass Vogts als fachlich kompetent gilt ist nicht neu, zumal mit diesem Urteil immer die Abwertung unterschwellig mitschwang, er habe Führungsschwächen. Wie teilt eine Lehrerin einem Schüler nach dem Diktat dessen Rechtschreibschwäche besonders effekt- und genussvoll mit? Sie betont seine schöne Handschrift. Genau die geradezu öffentlich bekannten Defizite Vogts´ „im menschlichen Bereich“ bestreiten nun die Befragten und bescheinigen ihm „eine ausgezeichnete Ansprache an jeden Spieler“ (Eilts). „Berti ist als Trainer ein lockerer, immer gut aufgelegter Typ“ (Bobic).
Von Michael Ballack („Unter Vogts habe ich die schlimmste Phase meiner Karriere erlebt“) und Bernd Schneider („Es ist ja kein Geheimnis, dass wir nicht so gut klargekommen sind miteinander“) hört man anderes. Schließlich erlebten sie unter dem Korschenbroicher Vereinstrainer keine guten Zeiten in Leverkusen. Über die „Abrechnung mit Berti“ (Bild) ist diese Woche daher viel geschrieben worden. Allein, an die vermeintliche Brisanz mag man nicht glauben.
„Der Hype“, wie die FAZ diese Debatte überzogen bezeichnet, „droht den Blick auf das sportlich Wesentliche zu verstellen.“ Kann die DFB-Auswahl ihre Alltagsaufgaben nach den asiatischen Festtagen im letzten Jahr endlich bewältigen? Von Teamchef Rudi Völler als „Spiel des Jahres“ bezeichnet, erwartet man in der Frankfurter Redaktion einen „Tauglichkeitstest“ für die „Jugendbewegung“. Ein Hinweis auf den rasch gewachsenen Stellenwert der Jung-Nationalspieler Freier, Friedrich, Hinkel Co., die neue pflegeleichte Generation der „Anti-Baslers“ (FTD).
Ein Haufen Bravherzen an Bord
„Es ist eine komplett neue Generation, die sich aufmacht in Richtung WM 2006“, schreibt Christof Kneer (BLZ 6.6.) vor dem Abflug der DFB-Auswahl nach Schottland. „Es trifft sich, dass die Terminplaner Deutschlands selbst ernanntes Länderspiel des Jahres ausgerechnet ans Ende jener Woche postiert haben, in der mit Mario Basler einer der letzten schrägen Vögel von der großen Bühne geflattert ist. Nie hat man die Alten und die Jungen so schön gegeneinander schneiden können wie in diesen Tagen. Er werde der Liga fehlen, hat Basler noch schnell als Vermächtnis hinterlassen, aber die Liga ist sich da nicht so sicher. Es ist ein klarer neuer Trend, dass es jetzt die Anti-Baslers richten sollen. Man wird fürs Erste ohne Stinkefinger auskommen müssen und ohne Pizza-Affären. Vor ein paar Jahren hätte der eine oder andere Spieler vor einer solch brisanten Begegnung, bei der die Tabellenführung in der Qualifikationsgruppe ausgespielt wird, vielleicht noch ein paar ungehobelte Sätze an die schottischen Bravehearts (tapfere Herzen) adressiert. Aber als Teamchef Rudi Völler am aufbrach, hatte er einen Haufen Bravherzen an Bord (…) Man wird es wohl nicht erleben, dass einer von diesen Jungen eine stichelnde Bemerkung über Berti Vogts loswird, aber wahrscheinlich kann man die neue Generation nicht ohne Vogts verstehen. Sie hatten alle ihr Vogts-Erlebnis. Als Jugendliche saßen sie vor dem Fernseher und hörten, wie die Nation spöttisch lachte, wenn Andy Brehme interviewt wurde oder Loddarmaddäus oder Berti Vogts. Wir haben das natürlich alles mit bekommen, sagt Andreas Hinkel. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Kinder der ran-Generation jetzt, da sie selbst Protagonisten geworden sind, der ran-Generation nichts mehr geben. Wir sind ziemlich pflegeleicht, aber für die Medien sicher manchmal uninteressant, sagt der Berliner Friedrich. Dem medienkritischen Teamchef dürfte dieser Charakterzug ziemlich gut gefallen. Bis zur WM hatte es Völler im Zweifelsfall immer eher mit den Alten gehalten, und nun muss man feststellen, dass die Verjüngungskur nach dem Weltchampionat in Asien radikaler ausgefallen ist als man das dem Teamchef zugetraut hatte. Instinktiv scheint er zu spüren, dass er dieser neuen, realistischen Generation trauen kann.“
Nicht Mediendompteur, sondern Missionar
Christian Eichler (FAZ 6.6.) skizziert die Bedeutung des Spiels für Berti Vogts. „Ein Spiel wie jedes andere? Diesen schönen Vorsatz widerlegt Vogts mit jeder Miene, jeder Geste, jedem Ton, wenn er von damals erzählt, von drei Jahrzehnten als Spieler, Jugendcoach, Cheftrainer beim DFB bis zur Vertreibung aus dem Paradies 1998. All das, auch die Kämpfe mit der Presse, erklärt er für bewältigt. Und tut das doch mit dem Ton dessen, der immer noch auf verdiente Anerkennung wartet. Ich werde nie ein Buch schreiben, sagt er geheimnisvoll. Aber wenn: Was da alles drinstünde . . . Der Halbsatz klingt aus, als ließe er die Welt am liebsten doch gern wissen, wofür die drei Pünktchen stehen, damit sie ihn endlich verstünde. Das ungeschriebene Buch müßte natürlich in Mönchengladbach beginnen. Wenn er davon erzählt, taucht zwischen den Zeilen ein unsichtbarer Dritter auf: Günter Netzer, jener Liebling von Trainer Weisweiler, der, so der Grundton der Erzählung, seine Allüren lebte, während Vogts harte Arbeit leistete; und der am Samstag in Glasgow als ARD-Experte das Werk des ewigen Berti wie gewohnt mit leiser Ironie bemäkeln wird. Vogts kontert nicht ohne Wonne mit der These, daß die spielerisch brillante EM-Elf von 1972, Netzers Elf, nie die WM 1974 hätte gewinnen können – die gewann Deutschland ohne Netzer, aber mit Vogts als Wadenbeißer des großen Johan Cruyff. Auch den ewigen Vergleich mit Beckenbauer wurde Vogts nie los, in acht Jahren als Bundestrainer. In Schottland aber gab es nie einen Beckenbauer oder Netzer, nie die große Leichtigkeit des Spiels, nur knorrige, bissige Typen wie Vogts selbst. Mußte das nicht das richtige Feld für ihn, den Basispädagogen, sein, eines, das zu beackern dalag wie einst die brachliegende deutsche Nachwuchsarbeit? Das Feld für die Trainerrolle des Berti Vogts: nicht Mediendompteur, sondern Missionar. Eine echte Aufgabe.“
Philipp Selldorf (SZ 6.6.). „Vor einem Jahr, als die Nationalelf in Sapporo bei der WM die bedauernswerte Elf Saudi-Arabiens auseinander nahm, saß Tobias Rau mit Freunden in einem Garten in der Nähe von Wolfsburg, wo er beim VfL als Profi angestellt war. Es gab Würstchen vom Grill, und alle haben die Hymne mitgesungen. Exakt ein Jahr später sitzt Rau im offiziellen Freizeitlook der Nationalspieler – Shorts und DFB-Trikot – vor dem feinen Hotel Ritz Carlton, in dem die Nationalmannschaft bis zu ihrer Abreise nach Glasgow residierte, und er räsoniert, dass ihm dieses unbeschwerte Vergnügen künftig versagt bleiben werde. „Schade“, sagt er, „ich habe mir die Länderspiele immer gern mit meinen Freunden angeguckt – das geht jetzt leider nicht mehr.“ Nicht nur weil Rau ab Juli in München-Grünwald wohnt, wo er Nachbar seiner neuen Mitspieler Giovane Elber und Oliver Kahn und seines neuen Trainers Ottmar Hitzfeld sein wird. Sondern weil er selbst zu den Länderspielen ausrücken muss. Auf seiner linken Abwehrseite ist Rau im Nationalteam mehr oder weniger konkurrenzlos, solange Christian Ziege nicht einsatzfähig ist. Und das Deutschland-Lied kennt er ohnehin auswendig. Rau hat seine Fortschritte als Profi mit Marsraketenantrieb zurückgelegt.“
SpOn-Portrait Michael Ballack
FR-Interview mit Arne Friedrich
(5.6.)
Themen: die Rolle Oliver Kahns im DFB-Team – das gestörte Verhältnis zwischen Vogts und den Deutschen, insbesondere Bernd Schneider
Michael Horeni (FAZ 5.6.) befasst sich mit Rolle und aktuellem Gemütszustand Oliver Kahns. “Es wurden ein paar Sprüche von Lothar Matthäus hervorgekramt, der auf dem Boulevard die Ungerechtigkeit beklagte, daß er als Kapitän längst abgesägt worden wäre, wenn er sich solche Sperenzchen wie Kahn erlaubt hätte, und es im übrigen ohnehin nicht schlecht wäre, wenn Michael Ballack als Kapitän als verlängerter Arm des Trainers auftrete. Das Geplapper des Kollegen von gestern war Kahn dann doch zuviel: „Ich habe mal gelesen: Was stört es die Eiche, wenn sich eine Sau daran reibt.“ Der rauhe Umgangston unter Kapitänen der deutschen Nationalmannschaft paßte so gar nicht zu Kahns freundlich-versöhnlichen Habitus vor dem vielbeschworenen „wichtigsten Länderspiel des Jahres“ gegen die Schotten von Berti Vogts (…) Die Begegnung in Glasgow ist für den großen Star der vergangenen WM vielmehr ein willkommener Abschluß einer Saison, die Kahn trotz privater Turbulenzen der allerersten Promi-Kategorie zwei Titel einbrachte. Doch sportlich kam er als Torwart kein Stück voran. „Es hat sehr, sehr wenige Möglichkeiten für mich gegeben, meinen Standard zu zeigen. Ich brauche einfach die internationale Bühne“, sagte Kahn, der nach einer Umfrage unter den Bundesligaspielern in der gerade beendete Spielzeit nicht einmal mehr als bester deutscher Torhüter angesehen wird. Da rangiert Simon Jentzsch vom TSV München 1860 sogar recht deutlich vor ihm. Tatsächlich erkennen manche Spieler erste, wenn auch noch haarfeine Risse im Gefüge. Die Veränderung im Verhalten Kahns, der seine Rolle als integrierender Kapitän angesichts seines durcheinandergeratenen Lebens immer weniger auszufüllen verstand, werden ebenso aufmerksam registriert wie der vom Torwart gelebte Wertewandel. Nur laut sagen mag das keiner. Der Titan des letzten Sommers, soviel ist jedoch sicher, steht auch in der Nationalmannschaft unter kritischer Beobachtung.“
Schau’ her, ich bin nicht lange da. Dafür bin ich umso schöner.
Über die vermeintliche Brisanz des bevorstehenden Qualifikationsspiels der DFB-Auswahl in Schottland heißt es bei Philipp Selldorf (SZ 5.6.). „Wieder werden die Leute vor die Wahl gestellt, was sie von Berti Vogts, dem Idol der siebziger und dem Prügelknaben der neunziger Jahre, eigentlich halten sollen. Der Reporter des Wochenblatts Sport-Bild etwa hat sich vor dem Aufeinandertreffen der schottischen und der deutschen Nationalmannschaft bemüht, von Vogts – den er schon lange kennt – ein freundliches Bild zu zeichnen. Er hat ihn auf der Insel besucht und gemeinsam mit dem schottischen Nationaltrainer die Freuden des Frühlings genossen. Vogts sagte ihm dann: „Jedes Blümchen hier scheint zu rufen: ‚Schau’ her, ich bin nicht lange da. Dafür bin ich umso schöner.‘“ Ein netter Satz. Würde Rudi Völler ihn sprechen, würden seine vielen, vielen Anhänger ihn dafür noch mehr verehren: Seht, eine sanfte Seele mit Sinn für Poesie ist er auch noch! Bei Vogts gerät die Reaktion allenfalls zum mitleidigen Lächeln. Ach, Berti… Denn es bleibt wohl sein Schicksal, dass er in Deutschland nicht als der Trainer wahrgenommen wird, der die Nationalelf 1996 zum Europameistertitel geführt hat, sondern als der Mann, der mit der Nationalmannschaft bei zwei Weltmeisterschaften im Viertelfinale gescheitert ist. Nicht seine phänomenale Bilanz mit dem DFB-Team – in 102 Spielen als Bundestrainer musste er nur zehn Niederlagen hinnehmen – prägt sein Bild, sondern das 1:2 gegen Bulgarien 1994 und das 0:3 gegen Kroatien 1998 (typisch: im damals besten deutschen WM-Spiel). „Mir tut er immer ein bisschen leid“, sagt der Angreifer Fredi Bobic, der unter Vogts einige Länderspiele bestritten hat, „im Endeffekt war es doch immer so: Wenn wir verloren haben, dann war in der Öffentlichkeit nur er schuld.““
Freunde werden sie nicht mehr
Christof Kneer (FTD 5.6.) beleuchtet das gestörte Verhältnis zwischen Bernd Schneider und Berti Vogts. “Manchmal gibt es das, dass ein Mensch zwei Sprachen gleichzeitig spricht. Das ist eine ziemliche Kunst, weil es ja nicht darum geht, die Sprachen nacheinander zu sprechen. Echte Künstler können so etwas parallel, und ganz besondere Sprachbegabungen schaffen es sogar, in den unterschiedlichen Sprachen auch noch unterschiedliche Dinge zu sagen. Es ist bislang nicht bekannt gewesen, dass der Fußballspieler Bernd Schneider in dieser seltenen Disziplin zu den führenden Kräften gehört. Man kann ihm täglich dabei zuschauen, wie er zwei Sprachen parallel spricht. Das Besondere daran ist, dass er eine Sprache mit dem Mund spricht und die andere mit dem Gesicht. Man kann ihn zum Beispiel danach fragen, wann ihm letztmals die Lust auf seinen Sport abhanden gekommen ist. „Öhm, also, wenn es so schlecht läuft wie mit Leverkusen in der Rückrunde, dann grübelt man schon“, antwortet dann sein Mund. Sein Gesicht dagegen sagt: „Keine Lust hatte ich von November 2000 bis Mai 2001 – als Berti Vogts in Leverkusen Trainer war.“ Freunde werden sie nicht mehr, Schneider und Berti Vogts, der deutsche Trainer der schottischen Auswahl. „Es ist ja kein Geheimnis, dass wir nicht so gut klargekommen sind miteinander“, sagt sein Mund vorsichtig. Sein Gesicht sagt lieber nichts, er hat es unter Kontrolle jetzt.“
(4.6.)
Themen: die gemeinsame Vergangenheit von Ballack und Vogts (“Unter Vogts habe ich die schlimmste Phase meiner Karriere erlebt”) – Handelsware Bernd Schneider – bodenständiger Miroslav Klose (Ich bin einer, der wo Tore macht”)
Unter Vogts habe ich die schlimmste Phase meiner Karriere erlebt
Michael Horeni (FAZ 4.6.) schildert den Konflikt zwischen Ballack und Vogts zu Leverkusener Zeiten. “Weltstar, Anführer, Torjäger: Der Mittelfeldspieler macht alles – nur nicht die Überschriften in der Bild-Zeitung. Ballack: Abrechnung mit Berti stand dort, und deswegen mußte sich der ehemalige Leverkusener am Dienstag fragen lassen, ob die Partie gegen seinen ehemaligen Trainer Rache oder Revanche für ihn sei. Die Schlagzeile habe ich nicht gemacht, sagte Ballack, der sich viel lieber als Spielmacher denn als Boulevardmann präsentiert. Gesagt hatte er nur, und das wiederholte er im Namen aller Leverkusener Profis von gestern nur zu gerne: Gegen Berti müssen ich und die anderen uns nicht besonders motivieren. Ich weiß nicht, warum das eine Abrechnung sein soll? Ist es in der Zeitung tatsächlich nicht gewesen, könnte es auf dem Platz aber noch werden. Denn den besonderen Reiz dieser ganz speziellen Begegnung unter ohnehin außergewöhnlichen Umständen am kommenden Samstag in Glasgow will Ballack auch gar nicht unterschlagen. Es wird keine schmutzige Wäsche gewaschen, aber man braucht auch nicht zu verheimlichen, daß einige Leverkusener Probleme mit ihm hatten. Als Vogts im November 2000 für ein halbes Jahr den Chef in Leverkusen spielte, mußte sich die damalige Lokalgröße Ballack noch vom prominenten Trainer öffentlich rüffeln lassen: Ein Ballack muß sich hinterfragen, ob er genug Leistung bringt. Inzwischen aber redet Vogts ganz anders. Ich denke, im Moment ist Ballack der beste europäische Mittelfeldspieler, der beste offensive Mittelfeldakteur, pries der Trainer der Schotten Völlers Kronjuwel am Dienstag. Umgekehrt bemühte sich Ballack um eine kritische, aber differenzierte Würdigung seines ehemaligen Übungsleiters. Berti Vogts hat große fachliche Kenntnisse, sagt der Münchner Double-Sieger, im Umgang mit den Spielern war er aber nicht einfach, da hatte er seine Probleme. Begebenheiten, die zur saftigen Illustrierung beitragen würden und das deutsch-deutsche Duell noch weiter anheizen könnten, hat Ballack zwar noch genau im Kopf, verkneift sie sich aber: Das sind Sachen, die intern bleiben, sagt er, aber die Zusammenarbeit war von Anfang an schwierig. Kollege Bernd Schneider, der bei Vogts damals überhaupt keine Rolle spielte, legte sportfachlich gerne nach: Unter Vogts habe ich die schlimmste Phase meiner Karriere erlebt. Da hat Fußball keinen Spaß mehr gemacht.“
Zur Position Vogts´ in Schottland heißt es bei Oliver Trust (Tsp 4.6.). “Seit 14 Monaten ist er ihr Trainer. Nennt mich ,McBerti‘, so seine Aufforderung zu Dienstbeginn im Mutterland des Whiskys. Nun sitzt er auf dem Plüschsofa und trinkt Espresso. Die Schotten fühlen sich an den Rand gedrängt. Alles wird von England aus gesteuert. Vogts ist tief in die Seele der Schotten eingetaucht. Auch ihn haben sie an den Rand gedrängt, in Deutschland. Es ist eine Mischung aus Verbitterung und dem Bekenntnis, dass ich mich wohl fühle hier. Warum sein Image in der Heimat so schlecht ist, darüber zerbricht er sich nach 102 Länderspielen, zwölf Niederlagen und dem EM-Titel 1996 immer noch den Kopf. Ich habe meine Steuern bezahlt, keine Kinder entführt und keine Drogen genommen. Er steht auf und geht zum Mittagessen mit der Mannschaft. Komm gleich wieder, sagt er. Er will sehen, ob sie wieder Rührei, Bohnen und Toast essen. Auch die neue Ernährung kam mit ihm. Als er zurückkehrt, erwacht der Ehrgeiz. Man sollte sich von unseren Ergebnissen nicht blenden lassen, sagt er. Wir können die Deutschen schlagen, es wird hart, aber wir können es. Nach dem 0:2 gegen Österreich und dem 1:1 gegen Neuseeland klingt das, als pfeife er unverdrossen in den dunklen Wald. Sie haben sich an ihn gewöhnen müssen. An zweimal Training am Tag und an seine Planungen. Frauenfußball, U 21, die Rainer Bonhof betreut, der Jugendbereich und die Nationalmannschaft. Er legt Konzepte vor und sitzt morgens um acht im Büro über dem Scottish Football Museum direkt im Hampden Park, in dem der Ball aus der legendären Partie von 1928 gegen England liegt. Die Schotten gewannen 5:1. Doch gute Ergebnisse gab es lange nicht mehr.“
Liebend gern möchte er die weite Fußballwelt kennen lernen
Philipp Selldorf (SZ 4.6.) schreibt über die ungewisse Zukunft Bernd Schneiders. „Schneider weiß nicht so recht, wie und was ihm geschehen wird, wenn er nach den Länderspielen in die Sommerferien geht. „Man muss es nehmen wie es kommt“, sagt er, „man kann‘s nicht ändern.“ Leverkusen braucht Geld, um das nach einem katastrophalen Jahr fixierte Sparziel zu erreichen – 25 Millionen Euro –, und Schneider weiß: „Die, die Bayer gehen lassen will, bringen kein Geld.“ Er dagegen könnte dem Klub Millionen auf dem Transfermarkt eintragen, weshalb er sich dieser Tage im Trainingsquartier der Nationalelf vorkommt, als habe man ihm ein Schild auf die Stirn geklebt, auf dem steht: „Zu verkaufen, Preis Verhandlungssache.“ Mitgefühl wäre übertrieben. Bernd Schneider spielt zwar gern in Leverkusen, aber liebend gern möchte er auch die weite Fußballwelt kennen lernen. „Spanien, Italien oder England kann ich mir vorstellen“, sagt er, was bedeutet: Hoffentlich klappt‘s. Auch mit 29 hat er noch Träume vom Fußballspielen. Schließlich ist Bernd Schneider ein Profi mit ästhetischen Ansprüchen und einer liebevollen Beziehung zum Ball, und deswegen ist ihm vor allem dieser Eindruck der Ohnmacht hängen geblieben: „Eine absolut bittere Erfahrung“ war es ihm, als die Bayer-Elf den Auftrag erhielt, den Wettkampf in der Champions League einzustellen. „Da will man gegen die Besten Europas spielen, und dann wird gesagt: ‚Wir konzentrieren uns da nicht mehr drauf.‘ Das einfach herzuschenken, das hat mir sehr wehgetan“, erzählt Schneider. Doch wieder gilt: „Aber wir Spieler dürfen da nicht mitentscheiden.“ Einmal immerhin hat er frei von jeden Einflüssen handeln können in dieser für ihn unschönen Saison, und als Lohn erhielt er Lob und Respekt wie selten vorher. Da gab er dem Fernsehfußballrichter Udo Lattek kontra, nachdem der behauptet hatte, Schneider habe einen Feldverweis provoziert, um sich den Abstiegskampf mit Bayer zu ersparen. Der Leverkusener konterte den Vorwurf in einem Interview („Schreiben Sie das!“) mit dem Hinweis auf Latteks Trinkgewohnheiten, und der Effekt war einfach fabelhaft: „Nach der WM hatte ich viele Schulterklopfer, aber nach der Geschichte mit Lattek waren es ähnlich viele.““
Du bist einer von uns
Anno Hecker (FAZ 4.6.) porträtiert den bodenständigen Torjäger aus Kaiserslautern. „Man hört es. Ich bin einer, der wo Tore macht, der aber auch viel für die Mannschaft arbeiten tut. So spricht Miroslav Klose. Die Pfälzer haben den gebürtigen Polen mit dem singenden Tonfall der Region und französischer Kindergartenerfahrung eingenordet: Der Mirek ist einer von uns, erklärt dessen ehemaliger Jugendtrainer Erich Berndt. Der hat spielend die Sprache gelernt und im gleichen Moment Freunde gewonnen. Fürs Leben. Immer mal wieder schaut der Fußball-Nationalspieler und Stürmer des 1. FC Kaiserslautern bei den alten Kumpels vorbei, wenn sie in der Bezirksliga den Ball rollen lassen. Bei Kickern, mit denen er noch vor ein paar Jahren in der siebten Spielklasse des Deutschen Fußball-Bundes über den Sportplatz der SG Blaubach-Diedelkopf jagte. Auf der Suche nach dem Absprung ins Profigeschäft: Ich habe immer davon geträumt, aber ich habe nicht daran geglaubt, sagt Klose. Er sitzt im Presseraum des FCK. An der Wand hängt ein Bild von ihm. Er fährt die Stationen seiner Karriere ab: Bezirksliga, Regionalliga, Bundesliga, Weltmeisterschaft, eine Traumreise in nur vier Jahren. Klose schüttelt den Kopf. Man darf den Boden nicht unter den Füßen verlieren, sagt der sprunggewaltige Kopfballspezialist. Jetzt, da er sich mit seinen Toren das Tor zur Welt geöffnet hat, setzt er auf Seßhaftigkeit. Klose, knapp 25 Jahre alt, hat sich ein Haus in Blaubach-Diedelkopf gebaut. Und nach dem Pokalfinale am Samstag en passant erklärt, weiter für Kaiserslautern zu spielen. Die Pfalz jauchzt. Super, daß du bleibst und nicht dem Geld erliegst. Das nenn‘ ich Charakter. Die elektronische Post bringt Klose in diesen Tagen ständig auf den neuesten Stand der Besitzverhältnisse: Du bist eben einer von uns.“
Gewinnspiel für Experten
Ballschrank
Für die verhätschelte Fußballgesellschaft wirbt niemand so bestrickend wie Tante Käthe
Klaus Hoeltzenbein Thomas Kistner (SZ 10.9.) fordern kritische Berichterstattung. „Nirgendwo, nicht in Italien, Spanien, England und nicht einmal in Brasilien, orientiert sich das nationale Selbstgefühl so strikt und unverbrüchlich am Leistungsstand ihrer Fußballauswahl wie hier zu Lande. Ein Relikt von Bern 1954, als elf Fußballer eine neue Nation erschufen. Seither kränkelt dieselbe, wenn ihre Nationalelf schlecht abschneidet, wird sie aber – auch dank schicksalhafter Auslosung – WM-Zweiter, tanzen Hunderttausende unter schwarz-rot-goldenen Bannern auf den Straßen. Es gibt keine Nüchternheit, es herrscht, so oder so, die Schwere des Gemüts. Dieses besondere nationale Grundbefinden lässt zu, dass Völler nun unter dem Jubel einer breiten Koalition die Abschaffung gewisser Grundrechte anregen darf: Der freien Meinungsäußerung; vor allem die kritische Aufarbeitung der Leistung von Millionenverdienern in einer Milliardenindustrie. Vergessen, dass die Öffentlich-Rechtlichen just versuchen, eine Gebührenerhöhung für den Erwerb von Fußball-Rechten durchzufechten. Millionen fließen ja zurück in dieses Geschäft, das sich bei Bedarf als Ersatzreligion tarnt. Also erheben sie sich, in Berlin und an den Stammtischen, von Bild-Lesern bis Feuilletonisten: Sachkritik an einer Elf, deren Akteure siebenstellige Euro-Gagen abkassieren, die es aber nicht schaffen, sich Zwergteams vom Polarkreis zu erwehren? Verrat! Kritik an Fußballhelden der Nation, die es jüngst – im EM-Qualifikationsspiel – nur einem Riesendusel zu verdanken hatten, nicht gegen die Schafzuchtinseln der Färöer einzugehen (deren grimmiger Stürmer – in der Winterpause nur als Hallenhandballer tätig – hatte die Kugel kurz vor Schluss, Held Kahn war überwunden, gegen den Torpfosten geknallt) – es blieb beim souveränen 2:1 der Bundesliga-Stars. Sachlich-nüchterne Kritik also an diesen Heroen, die im Rückspiel Sekunden vor Schluss das rettende Tor schossen? Verpönt. Nein: Im Grunde strikt verboten. Völler hat es gefordert, das ist dem Verantwortlichen solcher Minderleister nachzusehen. Dass ihm die Nation den Segen erteilt – das überrascht (…) Seit es ihn gibt, strebt ja der Profibetrieb eine kritikfreie mediale Begleitung an, so recht im Sinne der Macher von Hoeneß bis Assauer. Nur wirken die oft zu arrogant. Für die verhätschelte Fußballgesellschaft wirbt niemand so bestrickend wie Tante Käthe, Symbolfigur eines offenen Deutschlands.“
Heinz Günter Clobes (taz 10.9.) ergänzt. „Den Frontalangriff auf die Duz-Maschine Waldi Hartmann, der völlig geschockt auf einmal sogar siezen konnte, lassen die meisten Zuschauer schenkelklopfend durchgehen. Was Gerhard Delling und Günter Netzer angeht, so sieht die Sache anders aus. Beide gehen zu Recht kritisch mit den Spielen der deutschen Auswahl um. Das ist ihre Pflicht und auch nicht ohne Pikanterie, kritisieren sie gleichzeitig das eigene Produkt. Sie haben völlig verdient im Jahr 2000 den Adolf Grimme Preis dafür bekommen, dass sie neben Marcel Reif zu den wenigen gehören, die sowohl inhaltlich als auch journalistisch ihrer – immerhin öffentlichen – Aufgabe gerecht werden. Wenn es, wie zu hören ist, schon seit drei Jahren im Manne des Volkes, Rudi Völler aus Hanau, brodelt ob der permanenten Kritik, hätte er genauso viel Zeit gehabt, eine adäquate Form für seine Abrechnung zu finden. Mit ein bisschen mehr Gefühl für die Möglichkeiten hätte man den Auftritt des Teamchefs noch viel sexyer machen können. Das hätte in der Tat große Samstagabendunterhaltung werden können, so aber wars einfach nur deutsch, deftig und unelegant: Deutschland sucht den Trainerproll. Jetzt müssen Krisen-PR-Seminare plus Rhetorikkurse her – am besten für den gesamten DFB.“
Spielerische Entwicklungsländer?
Christian Semler (taz 10.9.) stößt sich am Umgang mit den vermeintlichen „Kleinen“. „Es heißt, gegen Fußballnationen wie Island, Belgien oder Schottland dürfe man einfach nicht verlieren. Weil dort die Fußballkultur leider noch nicht sonderlich weit gediehen ist, es sich sozusagen um spielerische Entwicklungsländer handelt? Seltsames Argument, wenn man bedenkt, dass auf Schottlands Rasen schon ein gepflegter Kurzpass gespielt wurde, als in Deutschland noch Unklarheit herrschte, wie viele Spieler sich gleichzeitig auf dem Fußballplatz aufhalten dürfen. In Wirklichkeit reduziert sich die Aufzählung auf schiere Größenverhältnisse. Die Botschaft lautet: Länder mit geringer Bevölkerungszahl haben im Fußballkonzert der Großen nichts zu suchen. Aber wie steht es dann mit Dänemark und Schweden, zwei allseits geachteten Fußballnationen mit nur bescheidenen Einwohnerzahlen? Die waren immerhin beide mal europäische Großmächte und außerdem kraft ihrer deutschen Territorien Mitglieder des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation? Also einzugemeinden? Besonders ärgerlich, dass auch Fußballfans linker Provenienz in die Missachtung kleiner Fußballländer einstimmen. Hier zeigt sich der fortwirkende Einfluss schädlicher Theorien über geschichtslose Völker, die der ansonsten verdienstvolle Friedrich Engels verbreitete. Nach dessen Auffassung hätten Länder wie Tschechien oder Ungarn gar keine Nationalmannschaft aufstellen, geschweige denn wie Ungarn 1954 bis ins Endspiel vorstoßen dürfen.“
Michael Horeni (FAZ 10.9.) beglückwünscht die ARD. “Wenn nun aus dem Westfalenstadion in Dortmund die Begegnung gegen Schottland gezeigt wird, dürften weit über zehn Millionen zuschauen – und dann auch noch nach dem Schlußpfiff dranbleiben, wenn Waldemar Hartmann sich wieder mit Rudi Völler zum Weizenbier-Talk trifft. Was hat Günter Netzer nach all dem Wirbel in eigener Sache zu sagen? Kommt Gerhard Delling als neuer Unterhaltungschef im Thomas-Gottschalk-Style oder korrekt wie immer? Schalten Sie also auch heute abend wieder ein bei unserer Fußball-Soap: Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Fußball ist beste Fernsehunterhaltung – und mittlerweile schon ziemlich abgekoppelt von der Qualität der Darbietungen auf dem Platz. In den vergangenen Tagen haben sich der Bundeskanzler, der Innenminister und weitere Politiker zu den Vorgängen der öffentlichen Sache Völler geäußert. Der Verteidigungsminister stimmte im Fernsehstudio gemeinsam mit dem Publikum den Fußball-Gassenhauer an: Es gibt nur ein‘ Rudi Völler. Die Nation diskutiert seit Tagen kontrovers – und dabei zeigt sich vor allem eines: daß König Fußball in den letzten fünfzig Jahren die gesellschaftliche Funktion übernommen hat, die in mit gekrönten Häuptern versehenen Ländern die Monarchie zu erfüllen weiß.“
Nicht mal die Nationalmannschaft spielt so schlecht
Michael Hanfeld (FAZ 10.9.) rügt die strenge Haltung der ARD. „Der Größenwahn im Fernsehen hat einen Namen, einen Vornamen sogar, und eine Amtsbezeichnung: Heribert. Faßbender. Sportchef des Westdeutschen Rundfunks. Dieser fühlte sich vorgestern abend im Kommentar der Tagesthemen nämlich bemüßigt, vom Trainer der Fußballnationalmannschaft – Vorname Rudi, Nachname Völler – eine öffentliche Entschuldigung zu fordern: Sein verbaler Ausrutscher von Reykjavík war in der Sache nicht nachvollziehbar und in der Wortwahl völlig unakzeptabel. Von seiner Vorbildfunktion mal ganz zu schweigen. Er hat sich da in einer Ecke festgedribbelt, aus der er schnell wieder herauskommen sollte. Gemeint war die Kritik – Scheiß! Käse! Scheißdreck! – an Faßbenders Kollegen Delling und Netzer, für die Völler, Rudi, den der WDR-Sportchef zum Schluß des Kommentars doch wieder duzte, heute nach dem Spiel gegen Schottland die richtigen Worte finden solle. Doch mußte das wirklich mal ganz klar gesagt werden? Aus Sicht des wahlberechtigten Fernsehzuschauers war es irritierend genug, mitansehen zu müssen, wie sich die Bundesregierung, die offenbar keine anderen Probleme hat, ins Spiel brachte, indem sie sich mit Rudi Völler solidarisierte. Das dann aber als Aufmacher mit Kommentar in den Tagesthemen serviert und damit dargelegt zu bekommen, wie ernst und wichtig die ARD die Sache und sich selbst nimmt, das kann einen in die Arme von RTL 2 treiben. Erst recht, da sich am Tag danach der Chef des Grimme-Instituts vor seine Preisträger, die Kommentatoren Gerhard Delling und Günter Netzer, stellt. Was für ein Spiel da wirklich läuft, ist im Sportteil dieser Zeitung gestern vortrefflich analysiert worden: Eine Kaste sich unberührbar dünkender Medienfürsten vollführt einen Schaukampf, der ein Eiertanz ist. Nicht mal die Nationalmannschaft spielt so schlecht.“
Der Duzattentäter
Über die Rolle Waldemar Hartmanns lesen wir von Christof Kneer (BLZ 10.9.). “Waldemar Hartmann ist noch niemals deutscher Meister gewesen, auch von einer eventuellen Weltmeisterschaft steht nichts in den Büchern. Man muss das immer noch mal dazusagen, weil es erst ein paar Monate her ist, dass die Fans des FC Bayern München diesem Hartmann auf dem Marienplatz Hymnen gedichtet haben. Waldi, Waldi, du bist der beste Mann, haben sie gesungen, und dann hat Waldiwaldi droben auf dem Rathausbalkon der Meisterschale und Michael Ballack zugeprostet. Man muss nicht alles verstehen, was im Land der Bayern normal ist (…) Waldemar Hartmann, man kann das nicht anders sagen, ist ein Gesamtkunstwerk. Seit Jahren gilt er den Feuilletons im Lande ebenso als Feindbild wie den Preußen nördlich des Weißwurstäquators, was eine recht stabile Hassgemeinde ergibt. Für seine Feinde ist Waldi der Erfinder der folkloristisch verschwitzten Erregung, er ist der Anwanzer, der Duzattentäter. Er duzt alles, was nicht bei drei aus dem Studio ist. Aber spätestens seit Sonnabend haben seine Feinde ein Problem: Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet Hartmann von Völler beleidigt wurde? Warum er, der Waldi, der dem DFB jahrelang den Weihnachtsmann machte? An der aktuellen Posse zeigt sich besonders schön der Konflikt, auf den das Fernsehen zusteuert. Einerseits verbündet man sich mit einer Sportart durch den Erwerb der Rechte, andererseits gilt es, das frisch eingekaufte Produkt durch kritisches Nachfassen ständig zu hinterfragen. Diesem theoretischen Widerspruch gibt Waldemar Hartmann einen recht massigen Körper. Er kann unerträglich anbiedernd sein, aber an guten Tagen ist er die Fleisch gewordene Synthese: Er nutzt dann das beim Weißbier erworbene Herrschaftswissen, um krachledern jene Fragen zu stellen, die sonst keiner stellt.“
Leserbriefe an die FR-Sportredaktion zum Thema Völler
Große Götterdämmerung
Georg Klein (SZ 10.9.) schreibt eine Glosse über deutsche Geisteshaltung. „Wissen Sie, was negative Grandiosität ist? Sie steht aller Voraussicht nach heute auf dem Abendprogramm der ARD – so denn die Deutsche Nationalmannschaft gegen Schottland verlieren oder unentschieden spielen sollte. Im Gegensatz zum positiven Größenwahn sucht negative Grandiosität nicht den Genuss darin, der Beste und Höchste zu sein, sondern den Exzess des Niedrig-Seins, noch lieber des Erniedrigt-Seins, am allerliebsten des Am-Meisten-Erniedrigt-Seins. Wir Bundesdeutschen gelten weltweit als unschlagbare Meister der negativen Grandiosität. Dies wird sich auch heute Abend wieder zeigen. Vor dem Anpfiff wird der absolute Tiefpunkt des vorausgegangenen Spiels beschworen, in der Halbzeitpause ziehen sich die schwarzen Wolken eines neuen absoluten Tiefpunkts zusammen, und nach dem Spiel verfinstert eine große Götterdämmerung alles bis auf jenen absoluten Tiefpunkt, der unweigerlich die Zukunft des bundesdeutschen Fußballs bilden wird (…) Was aber, wenn Rudis wackere Mannen gewinnen? Wenn diese junge Truppe im Ringen mit den grimmigen Schotten, in der kollektiven Entgrenzung des Kampfspiels, schlicht vergessen sollten, welch trüben Tribut die bundesdeutsche Seele von ihnen verlangt? Machen wir uns keine übertriebenen Hoffungen. Gerhard Delling und Günter Netzer, die mächtigen TV-Erotomanen der negativen Grandiosität, halten auch hierfür eine Interpretation bereit: Egal wie hoch er ausfallen mag, es wird ein absolut mittelmäßiger Sieg sein. Und worauf verweist absolutes Mittelmaß? Auf den drohenden, auf den eigentlich schon unabweisbar voraussehbaren, auf den absoluten bundesdeutschen Tiefpunkt natürlich!“
Thomas Kilchenstein (FR 10.9.) besuchte die Pressekonferenz der DFB-Auswahl. „Es ging bei der deutschen Nationalmannschaft gerade um so elementare Dinge wie Einstellung, Motivation und Spaß am Fußball, als Fredi Bobic das Wort erhielt. Im Grunde, sagte der Stürmer von Hertha BSC Berlin, der heute Abend gegen Schottland mit ziemlicher Sicherheit im Angriff spielen wird, sei doch jeder Spieler austauschbar, egal, auf welcher Position er spielt. Just, als er das sagte, betrat Oliver Kahn das Podium, lässig öffnete er eine Wasserflasche, grinste Bobic an, und jeder im Saal wusste, was der Kapitän gerade gedacht hat: Was der wieder für Geschichten erzählt. Es ist in den letzten Tagen vor dem vorletzten EM-Qualifikationsspiel gegen Berti Vogts‘ Schotten viel erzählt worden, nicht immer war das alles sehr substanziell, aber so ist das, wenn es ans Eingemachte geht und lauter halbe Endspiele (Rudi Völler) anstehen. Da ist dann schon mal die Rede von Blut im Schuh, vom Genuss, hier in dieser herrlichen Atmosphäre im Dortmunder Westfalenstadion Fußball spielen zu dürfen, und davon, dass die Mannschaft brennt. Teamchef Völler, hin und hergerissen in dem Bemühen, das Spiel einerseits mit der gebührenden Ernsthaftigkeit anzugehen, andererseits aber auch den immensen Druck herauszunehmen, den er durch seine Philippika am Samstag erst richtig aufgebaut hat, Rudi Völler also würde einiges dafür geben, am Mittwoch selbst noch einmal spielen zu dürfen, leider habe er ein paar Kilo zu viel auf den Rippen: Für so ein Spiel kommt man als Fußballer auf die Welt, so ein Spiel ist doch mit keinem Geld zu bezahlen. Später sagte er gar noch, ein bisschen verquer, jeder Spieler, der am Mittwoch zum Einsatz kommt, muss kapieren, warum er es verdient hat, geboren zu sein.“
Tsp-Interview mit Oliver Kahn
Das Streiflicht (SZ 10.9.) erkennt eine Gelegenheit für Vogts. „Der prächtigste Platz, auf dem einer Rache nehmen kann, ist ein Fußballstadion, und so gesehen bietet sich heute Abend für Berti Vogts die Lebenschance, vor aller Augen das Glück dorthin zu zwingen, wo es selten gewesen ist: auf seine Seite. Er schoss in seinem letzten Länderspiel ein Eigentor, er musste als Bundestrainer zurücktreten, er spielte im „Tatort“ nur eine Nebenrolle, und einmal, als er in Alaska Kodiakbären beobachten wollte, jagte ein solches Tier ihn den Baum hinauf. Dort saß er wartend viele Stunden. Jetzt hat das Warten ein Ende für Berti Vogts, den unglücklichsten Berti der Welt. Heute gilt es für ihn als Trainer der Schotten gegen die Deutschen, gecoacht von Rudi Völler, dem das Glück treu ist wie ein Bruder. Bei der letzten WM war das Glück bei ihm sogar in Gestalt von sechs Brüdern, einen für jedes Spiel bis zum Finale. Das hat er verloren, aber egal: Die Fans jubelten ihm nach der Niederlage zu, wie sie Berti nach Siegen nie zugejubelt hatten. Und die Reporter huldigten ihm, auch wenn der wütende Völler das zuletzt verdrängt hat. Vielleicht hat Rudi seine Mannschaft wachgerüttelt mit seiner Schimpferei, womöglich hat er sie noch nervöser gemacht. Jedenfalls hat McBerti drüben in Schottland mitbekommen, wie chaotisch es zugeht im deutschen Fußball, und er weiß, was das bedeutet, für ihn und die Schotten. Vielleicht reicht ihm ein glückliches Tor, es muss doch mal zu ihm kommen, das Glück, und wenn es da ist, kann er dem Rivalen zurufen, was alle Verlierer einmal, einmal rufen wollen: Take that! Nimm das, Rudi!“
Richard Leipold (FAZ 10.9.) schreibt. “Die britische und die deutsche Presse dürfen den Trainer nur getrennt voneinander befragen. Die Schotten sind zur Mittagsstunde an der Reihe, die Deutschen erst am späten Nachmittag. Ausnahmen, die Vogt’s Regel bestätigen, gibt es nicht. Ein deutscher Reporter fragt, ob er beim Gespräch mit den britischen Kollegen wenigstens zuhören dürfe. Doch der Pressesprecher des schottischen Fußball-Verbandes teilt höflich mit, die Bitte abschlägig bescheiden zu müssen. Bedauerlicherweise könne er sich nicht vorstellen, daß Vogts einer Abweichung vom Protokoll zustimmen würde. Die Zusammenkunft im Mannschaftshotel Goldschmieding sei eine geschlossene Gesellschaft. Spätestens am Hoteleingang ist die Fußball-Welt für deutsche Journalisten zu Ende. Dunkel gekleidete Männer eines privaten Sicherheitsdienstes versperren ungebetenen Gästen den Weg. Kurz bevor die Pressekonferenz beginnt, vergewissert sich Vogts noch einmal: Any Germans here? Nein, es kann losgehen.“
Martin Pütter (NZZ 10.9.) kommentiert Chelseas Verpflichtung Peter Kenyon, ehemaliger Vorstandsvorsitzender (CEO) von Manchester United. „Was dieser Coup für die „Blues“ bedeutet, ist einfach zu umschreiben: Kenyons Wechsel zu den Londonern stellt alle ihre bisherigen Verpflichtungen in den Schatten. Seit der Übernahme durch den russischen Ölmilliardär Roman Abramowitsch in diesem Sommer haben die Londoner für insgesamt 244 Millionen Franken (111,1 Millionen Pfund) 13 neue Spieler verpflichtet. An der Londoner Börse sank nach der Bekanntgabe von Kenyons Wechsel der Kurs der ManU-Aktie um vier Prozent. Die Analysten scheinen zu glauben, dass Chelsea im Machtkampf im englischen Fussball einen grossen Schritt nach vorn getan hat. Schon Chelseas früherer Eigentümer Ken Bates hatte immer davon geträumt, aus seinem Verein das „ManU“ des Südens Englands zu machen. Mit dem Verkauf an Abramowitsch (Bates bleibt Chairman des Fussballklubs) ist dieses Ziel näher gerückt.“
Gewinnspiel für Experten
Ballschrank
Weshalb benutzen die ihre Hände nicht?
„Die taktischen Fortschritte der Underdogs auch in der Offensive haben den Ausgang der Spiele wieder zufälliger werden lassen“, schreibt der Tagesspiegel – und weiter: „Zumindest strukturell hat das DFB-Team die Modernisierungslücke geschlossen, die unter seinen Vorgängern aufgerissen worden ist. Taktisch hat der deutsche Fußball wieder Anschluss gefunden.“ (mehr …)
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